Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin Herrn Furler dankbar für das, was er gerade an dieser Stelle gesagt hat. Es macht mir die Auseinandersetzung mit dem, was Herr Hallstein ausgeführt hat, recht leicht. Herr Hallstein hat nun einmal den Feldherrnhügel mitten in der Schlacht räumen müssen, und was Herr Furler hier gesagt hat, das war nicht aus der Perspektive des Feldherrnhügels, von der hohen Warte herunter gesehen, sondern aus der Sicht des Kärrners, der viele Jahre im Parlament die Schubkarren geschoben hat, wenn ich so sagen darf. Das gibt sicher eine andere Sicht der Dinge. Sie hätten, Herr Hallstein, vielleicht vieles von dem, was Sie heute hier an Kritik gesagt haben, auch nicht so gesagt, wenn Sie allein schon in den letzten Monaten im Europäischen Parlament den Umschwung der Stimmung mitgemacht hätten, den wir erleben durften, sicher — da gebe ich Herrn Furler völlig recht — objektiv auch durch eine Veränderung der Lage, aber doch auch unterstützt durch das energische Zugreifen und Nachstoßen der neuen Regierung, die in Den Haag von den Möglichkeiten Gebrauch gemacht hat, die ihr gegeben waren.
Das, meine Damen und Herren, scheint mir, nachdem wir früher, in den vergangenen Jahren, Monate um die Probleme der Vertiefung, der Vollendung, der Erweiterung diskutiert hatten, doch jetzt klar zu sein: daß die Würfel gefallen sind, daß dank dieser Veränderung in Den Haag es in eine neue Phase der gemeinschaftlichen Arbeit hineingeht, in der nun zwar die Politische Union als Erfordernis im Vordergrund steht und als Zielvorstellung da ist, in der aber nun eine neue Phase des Zusammenwachsens verwirklicht wird, und daß gleichzeitig die Erweiterung in Gang gebracht wird, die das Europa dann doch eigentlich erst schafft, das mit „einem Mund" und mit „einer Stimme" sprechen soll, damit es in der Welt gehört wird.
Wir wissen auch, daß die Probleme nur gelöst werden können, indem Stein auf Stein gesetzt wird, indem man pragmatisch weitergeht und dann, wenn die Gunst der Stunde winkt, diese Gunst wahrnimmt, so wie das im letzten Herbst geschehen ist.
Wir sehen in unserer Kärrnerarbeit wirklich, wie die ökonomische Basis dieser europäischen Gemeinschaft in einem stürmischen Tempo wächst, einem Tempo, das uns mit Sorge bedenken läßt, ob dem Zusammenwachsen der wirtschaftlichen Kräfte auch die soziale, soziologische und die politische Struktur Westeuropas nachkommen kann. Denn hier ergibt sich ja ein neues Spannungsverhältnis. Es fehlt noch der politische Überbau für das, was ökonomisch schon weitgehend im Gange ist.
Meine Damen und Herren, wir sind da sicher auf einem langen Marsch, der uns über eine gemeinsame Außenhandelspolitik zwingend auch zu einer gemeinsamen Wirtschafts-, Konjunktur- und eines Tages Außenpolitik bringen wird. Sie haben, Herr Furler, zwar die „Verteidigungspolitik" ausgeklammert — sicher, das sagt der Vertrag —; aber jeder, der in dieser Arbeit steht, weiß doch, daß, wenn die Erweiterung kommt, eines Tages einmal ernsthaft darüber gesprochen werden muß, wie man eine gemeinsame Außenpolitik auch in dieser Richtung abstützt. Es wäre an der Wahrheit vorbeigesehen, wenn man das völlig außer Betracht ließe, und auf weite Sicht muß auch darüber, glaube ich, einmal gesprochen werden.
Wir, die wir als Abgeordnete in den beiden Häusern unsere Arbeit zu tun haben, können uns ja nur freuen, daß der Bundestag sich heute nach langer Zeit wieder einmal Gelegenheit, nimmt, die Dinge einigermaßen gründlich zu besprechen. Wir leiden ja darunter, daß wir, bei den Sitzungen in Brüssel und Straßburg oder in irgendeiner anderen europäischen Hauptstadt arbeitend, vielfach nicht den ständigen Kontakt mit unseren Fraktionen haben und schaffen können, der zur gegenseitigen Durchdringung mit dem politischen Wissen um die Sorgen des anderen notwendig ist. Das ist eine der großen Schwierigkeiten der Arbeit im Europäischen Parlament. Einfach das Nichtdabeiseinkönnen, wenn entscheidend diskutiert wird, macht uns schon Schwierigkeiten: Um das darzustellen, was in Europa geschieht und eigentlich in diesem Parlament, im Bundestag, seinen ständigen Widerhall finden müßte, ist ein permanenter Kontakt zwischen den Parlamenten notwendig, der in unseren Personen zwar gegeben ist, aber infolge der Schwierigkeit der technischen Arbeit immer wieder neue Sorgen macht. Auch das sollte einmal hier gesagt sein.
Noch eine andere Sorge darf ich in diesem Zusammenhang hier einmal auf den Tisch legen. Können wir es uns eigentlich auf die Dauer erlauben, ein Spannungsverhältnis zwischen dem, was in die-
. sem Hause gesagt wird, und dein, was im Euro-
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 60. Sitzung. Bonn, Donnerstag, cien 18. Juni 1970 3351
Dröscher päischen Parlament von denselben politischen Kräften gesagt wird, fortzuführen? Ich glaube, wir müssen stärker auf die Gleichheit der Aussage hinkommen. Natürlich bietet sich da ein so schwieriges Gebiet wie etwa die Politik, in der schon weitgehend die europäische Gemeinschaft funktioniert, an, nämlich die Landwirtschaftspolitik. Wir sehen immer wieder, daß ganz abgesehen von den Aussagen, die von der hohen Warte, Herr Professor Hallstein, gemacht werden hier im Alltagskampf versucht wird, Stimmung zu machen gegen das, was da in Brüssel geschieht, wie in den Anfragen hier, etwa in der Fragestunde, geforscht wird, herumgedreht wird an den Dingen, die da in Brüssel gemacht werden, mit dem Ziel, Schwierigkeiten zu bereiten bei notwendigen Übereinkünften. Wenn ich jetzt nach dem mühsamen Zustandekommen der Weinmarktordnung und im Wissen um die unerhörten Anstrengungen, die die Minister Ertl, Scheel, Schiller und all die, die dabei beteiligt waren, gemacht haben, anschließend in deutschen Zeitungen — von Kollegen aus diesem Haus und von der konservativen Seite ausgesprochen — lese „Die Zeche zahlt der deutsche Winzer", dann kann ich nur sagen: hier wird völlig falsch argumentiert, hier wird gegen Europa argumentiert. Hier wird etwas getan, was sich letztlich in einer Unglaubwürdigkeit dieses Hauses ausdrücken muß,
denn die Zeche zahlt nicht der deutsche Winzer. Hier ist europäische Politik gemacht worden, und wir alle, die wir Verantwortung daran mit tragen, haben versucht, unseren Teil dazu beizutragen, daß vernünftige Kompromisse gefunden worden sind.
- Herr Richarts, wir können uns ja detailliert darüber unterhalten. — Ich will nur deutlich machen, daß man mit solchen differenzierten und entgegenstehenden Aussagen zwischen Straßburg und etwa dem Mainzer Raum nicht bestehen kann. Dann wird Europa unglaubwürdig. Wer diesem Hause angehört und über die Dinge informiert ist, der muß auch draußen in der Öffentlichkeit das mit zu tragen bereit sein, was Europa auf der anderen Seite für uns kostet.
In dein Zusammenhang müssen wir uns auch darüber im klaren sein, daß unsere Verbraucherpolitik, die Politik der Agrarpreise, immer im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses steht. Die Steuerzahler in Europa bringen über 10 Milliarden DM — wir Deutschen davon bis 35 % — auf, um die Agrarmarktordnungen zu tragen. Wenn wir sehen, daß sich das nicht mindert, weil man nicht den politischen Mut und die Entschlossenheit findet, die Überschüsse abzubauen, dann müssen wir dafür die Verantwortung tragen und sagen: Bitte, weil wir das eine nicht können, müssen wir das andere tun. Aber auch da ist es notwendig, daß wir intellektuell redlich sind und dann als Haus gemeinsam das tragen, was nicht zu ändern ist.
Ich hatte eigentlich nur ein paar Bemerkungen aus der Praxis unserer Arbeit vortragen wollen. Ich möchte zum Schluß noch eine Bemerkung machen, die sich auf das bezieht, was in den letzten Tagen bei dem Jugendkolloquium in Brüssel geschehen ist. Die Jugend ist in der Tat durch dieses Europa herausgefordert. Aber wir sollten es uns nicht so einfach machen, daß wir glauben, dieser unruhigen Jugend in Europa sagen zu können: begnügt euch mit dem, was wir wollen, begnügt euch damit, daß wir den Kontinent einen, daß wir die Staaten zusammenaddieren. Diese Jugend hat in der Tat einen Anspruch darauf, daß wir sie ernst nehmen, wenn sie sagt: wir wollen nicht nur die Staaten addieren, sondern wir wollen auch einiges ändern in Europa. Was zu ändern ist, was geschieht, darüber müssen wir reden. Wir sollten nicht so tun, als ob wir das nicht hören wollten. Wir können die junge Generation für diesen großen Veränderungsprozeß in Europa nur gewinnen, wenn wir ihr klarmachen, daß es auch transnational, über die Grenzen hinweg, Fragen gleicher politischer Bedeutung, denen wir uns gemeinsam verpflichtet fühlen, in den Ländern gibt, etwa Fortschritt über die Grenzen hinweg und diese auch angepackt werden.
— Europa ist mehr als die Addition seiner Teile, das ist ganz klar. Aber gerade deshalb sollten wir auch wissen, daß wir nicht nur hier sprechen können etwa davon, daß wir für europäische Wahlen sind, aber gleichzeitig dann — ich werfe es niemandem hier persönlich vor und werfe es auch keiner Partei vor — der Versuchung erliegen, in unseren heimatlichen Wahlkreisen eine Politik zu machen, die diejenigen, die dann einmal für das Europäische Parlament kandidieren, in die Gefahr bringt, nicht gewählt zu werden, weil sie eine supranationale, eine europäische Politik machen und die Nationalisten das Bett für sich bereitet haben.
Auch das muß man sehen, auch das steht dabei im Raum. Das ist sicher noch nicht heute und morgen notwendig, aber wenn wir hier so klar und präzise von allen unseren Bestrebungen, europäische Wahlen zu schaffen, sprechen, müssen wir auch diese Seite sehen. Ich bin überzeugt davon — das sage ich, nachdem ich jetzt schon fünf Jahre im Europäischen Parlament mitgearbeitet habe , daß die europäische Sache sehr viel besser steht, daß wir sehr viel mehr Zuversicht haben können — das hat die heutige Aussprache [a eigentlich auch gezeigt als es gemeinhin draußen den Anschein hat, und daß wir auf die europäische Fraktion in diesem Haus damit meine ich weit mehr als die Parlamentarier, die in Straßburg in den europäischen Gremien vertreten sind — vertrauen können. Wir hoffen, daß es bald und schnell vorwärtsgeht.