Rede von
Dr.
J. Hermann
Siemer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Vielen Dank, Herr Präsident. Bei diesem Gesetz kann ich die Aufmerksamkeit meiner Kollegen gebrauchen. Denn diese Gesetzesvorlage, die von der SPD und FDP eingebracht worden ist, enthält nicht nur viele Ungereimtheiten — das ist schon öfter gesagt worden —, sondern auch manche Merkwürdigkeiten. Eine der Merkwürdigkeiten wurde mir vorhin von einem Journalisten gesagt mit der Frage, ob auch ich zu dem „Au-Au-Gesetz" schreite und was ich dazu sagen wolle.
Nun, dieses Aufwertungsentschädigungsgesetz hat nicht nur Mängel, sondern bringt in Art. 2 Nr. 1
Buchstabe h eine neue Formulierung für das Mehrwertsteuergesetz bezüglich landwirtschaftlicher Betriebe. Ich will diesen Passus — mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten — vorlesen, wie er im Gesetz vorgeschlagen wird: „Als land- und forstwirtschaftlicher Betrieb gilt auch ein Gewerbebetrieb kraft Rechtsform, wenn im übrigen die Merkmale eines land- und forstwirtschaftlichen Betriebes vorliegen." Dann erst ist ein land- und forstwirtschaftlicher Betrieb auch als Gewerbebetrieb kraft Rechtsform in die Entschädigung eingeschlossen.
Ich wiederhole: damit bringt der Gesetzgeber den aus dem Bewertungsgesetz entnommenen Begriff des landwirtschaftlichen Betriebes in das Mehrwertsteuergesetz.
Als wir im Jahre 1967 das Mehrwertsteuergesetz verabschiedeten, wurde ausdrücklich davon abgesehen, die Besteuerung mit der Mehrwertsteuer Ungleich für alle Produkte der landwirtschaftlichen Erzeugung zu handhaben. Die Bundesregierung hat es unterlassen, die in dem soeben zitierten Satz liegende Problematik überhaupt zu erwähnen. Ich muß deswegen kurz darauf eingehen, denn ich weiß nicht, ob die für die Gesetzesvorlage Verantwortlichen sich darüber klar sind, daß sie mit diesem Satz große Teile der Produktionszweige landwirtschaftlicher Veredelung von der Erstattung der entstehenden Aufwertungsverluste ausschließen. Will das, so frage ich, die Bundesregierung, und wollen Sie das, meine Herren Kollegen von der SPD, die Sie doch noch vor nicht langer Zeit, nämlich im Juni 1968, mit uns gemeinsam das Agrarprogramm der Bundesregierung verabschiedet haben? In diesem Agrarprogramm haben wir damals ausdrücklich gewisse Ziele gesetzt. Unter den drei wichtigsten Zielen ist — ich darf mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten zitieren -
„die preisgünstigste Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln" aufgeführt. Im Arbeitsprogramm der Regierung aus dem Jahre 1968 heißt es weiter:
Alle Möglichkeiten der rechtlichen und sachlichen Kooperation sind dabei zu nutzen. Durch Anpassung an die natürlichen und wirtschaftlichen Standortbedingungen sowie durch Nutzung aller Möglichkeiten der modernen Produktionstechnik und Organisationsformen ist eine kosten- und damit preisgünstigere Erzeugung von Agrarprodukten möglich.
Ich wiederhole: „Durch die Nutzung moderner Produktionstechnik und Organisationsformen ist eine kosten- und damit preisgünstigere Erzeugung von Agrarprodukten möglich."
Meine Damen und Herren, danach haben die landwirtschaftlichen Betriebe gehandelt. Im Vertrauen auf diese Zusagen, im Vertrauen auf die von diesem Haus und von der Regierung zugesagte finanzielle Hilfe und Förderung — übrigens sowohl von seiten des Bundes als auch von seiten der Länder — sind auf den Veredelungsgebieten bahnbrechende Rationalisierungserfolge erzielt worden. Den Empfehlungen der Regierung folgend, haben sich neue Kooperationsformen entwickelt, die nicht nur zu einem höheren Rationalisierungsgrad führten, sondern die auch neue Absatzformen hervorbrachten, das Risiko
698 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. Dezember 1969
Dr. Siemer
besser verteilten und so bei uns den Aufbau von Pionier- und Spitzenbetrieben in der EWG möglich machten.
Im Verfolg dieses damals von der Großen Koalition aufgestellten Arbeitsprogramms, das wir Agrarprogramm nennen, hat die damalige Regierung den Betrieben ausdrücklich versprochen — und hier möchte ich mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten wieder wörtlich zitieren —:
Im Rahmen der Maßnahmen zur Verbesserung der allgemeinen Betriebsstruktur wird ferner sichergestellt, daß moderne kooperative Unternehmensformen steuerlich nicht benachteiligt werden.
So können Sie es in dem Agrarprogramm im Kapital „Betriebsstruktur" auf Seite 21 nachlesen.
Die Ausklammerung gerade der Betriebe, die heute „gewerbliche Betriebe" genannt werden, von den Vergünstigungen ist nicht nur ungerecht, sondern führt darüber hinaus auch zu verfahrens- und ermessenstechnischen Problemen, die gar nicht zu lösen sind, weil es hier ja um eine Abgrenzung geht und es nicht möglich ist, eine exakte Deklarierung der Betriebe, für die der Mehrwertsteuersatz in Höhe von 3 % gelten soll, vorzunehmen, ohne die betriebswirtschaftlichen Verhältnisse genau zu durchleuchten. Das ist die Situation.
Zu der verfassungsrechtlichen Frage möchte ich eine letzte Bemerkung machen. Soweit ich es aus den Ausschußberichten ersehe, ist dieses Problem bisher überhaupt nicht erwähnt worden. Ich bin kein Verfassungsjurist, aber Sie können mir glauben, ich habe mich nicht nur eingehend erkundigt, sondern ich habe bei den besten Verfassungsjuristen Deutschlands nachgefragt, wie sie zu dieser Frage stehen. Ich wiederhole: Die Betriebe, die von Ihnen mit diesem Gesetz bewußt ausgeschaltet werden, werden es nicht versäumen, von dem Angebot der Professoren Gebrauch zu machen, und schnellstens eine Verfassungsklage auf Grund dieser Bestimmungen anstrengen.
Ich wiederhole auch noch einmal, worauf es uns ankommt. Erstens: Die Besteuerung ist verfassungsrechtlich und wertordnungsmäßig nicht vertretbar. Zweitens: Wir selber haben in der vorigen Legislaturperiode hier im Parlament Art. 91 a des Grundgesetzes ergänzt; wir haben Bund und Ländern den Verfassungsauftrag gegeben, die Agrarstruktur allgemein und die Wirtschaftsstruktur in den unterentwickelten Gebieten der Bundesrepublik zu verbessern. Dieses Hohe Haus darf keine Entscheidungen treffen, die der verfassungsrechtlichen Ordnung entgegenstehen.
Wir haben in Norddeutschland weite, besonders ländliche Gebiete, deren Sozialprodukt weit unter dem volkswirtschaftlichen Durchschnittssatz liegt. Wenn sich in den letzten Jahren nun auf genossenschaftlicher oder privater Basis oder in anderer Form sogenannte Selbsthilfeinstitutionen entwickelt haben, die bessere Lebensbedingungen für die Landwirtschaft schufen, so entspricht gerade das dem Auftrag des Verfassunggebers. Diese Betriebe werden aber in ihrer wirtschaftlichen Existenz durch das Gesetz entscheidend getroffen. Hinzu kommt, daß der Wettbewerb mit den anderen EWG-Ländern, die andere Formierungen, andere Gesetze haben, nicht mehr tragbar ist. Drittens wird durch das Gesetz auch der Grundsatz der Steuergerechtigkeit verletzt.
Nun, meine Damen und Herren, ich will Sie mit diesen verfassungsrechtlichen Fragen nicht länger aufhalten.
Na ja, Sie werden davon Kenntnis nehmen müssen, denn das ist eine sehr ernste Frage, nicht nur für mich, sondern für alle die Betriebe, die davon betroffen werden. Ich bin der Meinung, daß der Verfassungsrechtler hier durchaus ein weites Feld findet, um gegen diese eigentümliche Art der gesetzlichen Fixierung vorzugehen. Sicher liegt, das will ich zugeben, die Problematik auch in der Verletzung der Artikel 12 und 14, aber jedem wird verständlich sein, daß hier im Gegensatz zu den Entscheidungen für einen einheitlichen Gemeinsamen Markt die Tierhaltungsbetriebe der Bundesrepublik durch gesetzgeberische Maßnahmen so begrenzt werden, daß sie gegenüber den Betrieben der anderen EWG-Staaten nicht mehr konkurrenzfähig sind. Darin sehe ich eine Verletzung der allen Deutschen zustehenden Freiheit der Berufsausübung.
Wenn ich den Entschließungsantrag der SPD zur Hand nehme, der uns heute hier vorgelegt wurde, dann frage ich mich, ob das nicht doch der Ausdruck eines sehr schlechten Gewissens ist. Erst schaffen Sie dieses Gesetz mit der Bestimmung, wie ich sie so eben vorgelesen habe, und dann kommen Sie mit einer Entschließung, nach der die Regierung jetzt erst überprüfen soll, welche Auswirkungen dieses Gesetz wohl haben könnte. Ich habe Ihnen eine ganze Reihe genannt, und ich darf Sie nur bitten, meine Herren Kollegen von der SPD, daß Sie ernstlich prüfen, ob dieses Gesetz mit den Bestimmungen zur Ausklammerung vieler wertvoller Betriebe nicht gerade das herbeiführt, was wir nicht wollen: eine Lähmung in der Entwicklung einer modernen hochtechnisierten Landwirtschaft.