Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Sozialdemokraten sind befriedigt darüber, daß die Erklärungen von Herrn Dr. Barzel deutlich gemacht haben, daß die Phase parteipolitischer Auseinandersetzung über die Europapolitik der Bundesrepublik zu Ende ist. Wir sind froh darüber, daß wir in die Zeit zurückkehren können, die es in der fünften Legislaturperiode — und nur die
habe ich miterlebt —, aber auch davor gegeben hat, in der es selbstverständlich war, daß es zu dieser Politik, die, wie Sie eben sagten, Herr Dr. Barzel, ohne Alternative ist, in diesem Hause eine einheitfiche Unterstützung der Bundesregierung geben muß, selbst wenn man in Einzelheiten, in Kleinigkeiten, in Nuancen unterschiedlicher Meinung ist. Herr Kollege Wehner hat am 27. Januar 1966 in einer Europa-Debatte, ,die ebenfalls sehr schwierig war — denn sie schloß sich an die Luxemburger Konferenz an — gesagt, daß wir dazu da sind, inklusive der Opposition, der Bundesregierung die nötige Unterstützung und Hilfe zu leisten.
Ich bin um so befriedigter über die Ausführungen von Herrn Kollegen Barzel, als wir nach den ersten Meldungen, die einliefen, befürchten mußten, daß das parteipolitische Gezänk fortgesetzt werden würde; denn es gibt zwei Stellungnahmen, eine vom Bundesvorsitzenden der Jungen Union und eine vom Sprecher der CDU, Herrn Dr. Rathke,
die uns befürchten ließen, daß wir in dieser Debatte in Schwierigkeiten kommen würden.
Meine Damen und Herren, wir Sozialdemokraten unterstreichen in diesem Moment folgendes.
Wir unterstreichen, daß die Politik des Bundeskanzlers und seines Außenministers in Den Haag deutlich gemacht hat, daß für uns Westpolitik die Voraussetzung für eine neue Ostpolitik ist. Wir unterstreichen, daß es einer festen Westintegration bedarf, um nach Osten neue Wege zu suchen.
Wir sind aber auch stolz darauf — ich sage das mit aller Bescheidenheit —, daß der Bundeskanzler der von uns mitgetragenen Bundesregierung in Den Haag eine so entscheidende Rolle gespielt hat, um diese Konferenz zum Erfolg zu führen.
Diese Rolle war, das wissen wir, nur in Zusammenarbeit mit den Regierungschefs der anderen EWG-Länder denkbar. Dennoch wissen wir alle — wir brauchen nur einen Blick in die inländische und ausländische Presse zu werfen, um es zu sehen —, wie stark die Person Willy Brandts den Erfolg dieser Konferenz mitbestimmt hat,
Es ist uns eine Genugtuung, daß die Konferenz in Den Haag sich angeschlossen hat an den Besuch des Bundespräsidenten, der auf seine Art und in seinem Bereich eine Woche zuvor ebenfalls ein Erkleckliches für Europa und für die europäische Aussöhnung geleistet hat.
Das besondere Verdienst des Bundeskanzlers besteht nach der Meinung der Sozialdemokraten darin,
daß wir endlich die unglückliche Kette „Vollendung, Vertiefung, Erweiterung" durchbrochen haben. Das war ja die Vorstellung mancher, daß erst vollendet, dann vertieft und dann erst über Erweiterung gesprochen werden sollte. Diese Konferenz hat deutlich gemacht, daß Vollendung, Vertiefung und Erweiterung der EWG um neue Mitglieder gleichrangige Probleme sind, die parallel nebeneinander angepackt werden müssen.
Dabei werden wir denjenigen, die in die Gemeinschaft eintreten wollen, nichts schenken können, und insofern, Herr Kollege Dr. Barzel, ist die Formulierung in Punkt 7 durchaus den Tatsachen entsprechend. Wir werden eine gemeinsame Agrarfinanzierung suchen. Wir müssen uns vorbehalten, diese an die neuen Gegebenheiten anzupassen, die sich nach der Erweiterung der Gemeinschaft ergeben werden. Aber das kann natürlich nur einstimmig passieren; denn hier können die Interessen der Mitglieder nicht geopfert werden.
Die Konferenz hat vor allem die Vertrauensbasis unter den sechs EWG-Ländern und, was wichtig ist, zwischen den EFTA-Ländern und den EWG-Ländern wiederhergestellt. Denn das ist jetzt sicher: die Erweiterung der EWG wird nicht dazu führen, daß sich die EWG „wie ein Stück Zucker im Atlantik auflöst", wie es ein prominenter Gaullist einmal befürchtet hat. Die EWG wird das europäische Selbstbewußtsein stärken. Sie wird sich nicht in einer diffusen atlantischen Gemeinschaft auflösen. Sie wird eigene Politik zu betreiben haben in engster Verbindung mit den USA.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 16. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Dezember 1969 597
Dr. Apel
In dieser Gemeinschaft werden — hier kann ich Herrn Kollegen Dr. Barzel beruhigen — auf Grund der Gipfelkonferenz in Den Haag auch in Zukunft nicht die Institutionen in Brüssel „verbogen" oder „denaturiert" werden. Der Herr Bundeskanzler hat sehr deutlich gemacht, daß die Konferenz u. a. dazu da war, Euratom zu retten und die Funktionsfähigkeit von Euratom zu erhalten. Wir werden ihn mit aller Kraft unterstützen.
Es muß an diesem Punkt auch gesagt werden, daß z. B. hinsichtlich der Agrarpolitik — hier wird natürlich der Teufel noch im Detail stecken, wenn wir über Einzelheiten reden — eben nicht der Gipfel in Den Haag aufgerufen war, Fragen zu entscheiden, sondern daß das in die ordnungsmäßigen Institutionen der EWG hineingehört: in die EWG-Kommission, in den Ministerrat, in das Europäische Parlament. Wir sind froh darüber, daß in Den Haag zwar die Richtung einer Lösung der Agrarfinanzierung aufgezeigt worden ist — der Herr Bundeskanzler hat sie hier noch einmal präzisiert —, und zwar die gemeinsame Finanzierung, die Bekämpfung des Problems der Überschüsse sowie dahin gehend, daß wir und die anderen finanziell nicht überfordert werden. In der Sache aber hat man sich in Den Haag nicht festgelegt. Jetzt ist Brüssel mit seinen Mechanismen aufgerufen, diese Fragen zu regeln.
Ich bin auch der Meinung, daß es ein großer und ein nobler Schritt voran war, daß die Bundesregierung die Schaffung eines europäischen Reservefonds als Endstufe der Schaffung eines gemeinsamen Marktes mit echter Wirtschafts- und Finanzpolitik angeboten hat. Das war ein nobler Schritt, meine Damen und Herren; denn hier wird deutlich, daß wir es mit Europa ernst meinen.
Lassen Sie mich ein Wort zur Frage des Parlamentarismus in Europa sagen. Wir begrüßen die Feststellung, daß die Befugnisse des Europäischen Parlaments erweitert werden sollen. Wir behalten uns vor, das, was im Rahmen der europäischen Institutionen dazu vorgelegt wird, ernsthaft darauf hin zu prüfen, ob es auch wirklich eine echte Mitwirkung wäre oder ob es im Endeffekt bei der institutionell zu schwachen Stellung des Europäischen Parlaments bliebe. Wir nehmen mit Erstaunen zur Kenntnis, daß die Regierungen, also die Exekutiven, die Frage der Direktwahl des Europäischen Parlaments prüfen wollen. Wir wissen, daß das nicht in die Verantwortung des Herrn Bundeskanzlers fällt. Die Formulierung ist von anderer Seite so gewollt worden. Wir Sozialdemokraten erklären, daß nicht Regierungen zu prüfen haben, ob eine Direktwahl stattfinden soll. sondern dieses Haus und die anderen fünf Parlamente der EWG-Staaten.
Wir sind der Meinung, daß parallel zu einer Stärkung der Befugnisse die Direktwahl des Europäischen Parlaments eine dringende Notwendigkeit ist.
Herr Kollege Barzel, Sie haben am Schluß gesagt, eigentlich müsse man doch etwas enttäuscht sein, denn ein mutiger Schritt nach vorn sei es wohl nicht gewesen. Herr Kollege Barzel, halten Sie es nicht für einen mutigen Schritt, daß sechs Regierungen jetzt endlich das klare Bekentnis abgelegt haben, mit England und anderen beitrittswilligen Ländern in Verhandlungen einzutreten, und zugleich Termine festgelegt haben?
Halten Sie es nicht für einen mutigen Schritt, daß die Übergangszeit der EWG beendet worden ist? Sie wissen, daß ich noch vor einigen Wochen der Meinung war, daß das wohl nicht möglich sei. Halten Sie es nicht für einen mutigen Schritt, daß wir Euratom gerettet haben, daß wir einen europäischen Reservefonds bilden wollen und endlich auch mit der politischen Zusammenarbeit vorankommen?
Ich gebe zu, daß wir erst noch sehen müssen, wie weit die Außenminister in dieser Frage kommen. Wir müssen abwarten, was dabei herauskommt. Aber allein die Tatsache, daß sechs europäische Regierungschefs erkannt haben, daß die ökonomische Integration einer sie begleitenden politischen Integration bedarf, daß die Diskussion endlich wieder ernsthaft in Gang kommt, und zwar unter der Perspektive der Erweiterung der Gemeinschaft, stimmt uns hoffnungsvoll.
Meine Damen und Herren, wir sind im Advent,
und Advent heißt: Ankunft und Hoffnung zugleich. Im Gegensatz zu dem Advent, den wir feiern und der uns mit absoluter Sicherheit in die parlamentarischen Weihnachtsferien und damit auch unter den Tannenbaum bringt, können wir das Licht, das in Den Haag jetzt aufgeleuchet ist, nicht als absolute Sicherheit dafür werten, daß in Europa alles erreicht wird. Wir werden dafür weiterhin hart kämpfen müssen. Wir Sozialdemokraten sind stolz darauf, daß Bundeskanzler Brandt und sein Außenminister Scheel in dem Moment, in dem eine erste Bewährungsprobe von ihnen verlangt wurde, die europäischen und damit auch unsere deutschen nationalen Interessen so hervorragend vertreten haben.