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    Deutscher Bundestag 7. Sitzung Bonn, den 30. Oktober 1969 Inhalt: Amtliche Mitteilung 127 A Fortsetzung der Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung Dr. h. c. Strauß (CDU/CSU) 127 B Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möller, Bundesminister 136 B Kienbaum (FDP) 144 C Höcherl (CDU/CSU) 146 B von Hassel, Präsident (zur GO) 149 C, 163 B Ertl, Bundesminister 149 C Dr. Schmidt (Gellersen) (SPD) 159 A Peters (Poppenbüll) (FDP) 160 C Klinker (CDU/CSU) 162 C Logemann (FDP) 164 D Dr. Schiller, Bundesminister 167 C Dr. Schmid, Vizepräsident (zur GO) 174 B Dr. Müller-Hermann (CDU/CSU) 178 C Dr. Arndt, Parlamentarischer Staatssekretär 181 B Gewandt (CDU/CSU) 183 A Dr. Haas (FDP) 183 D Dichgans (CDU/CSU) 185 B Dr. Stoltenberg (CDU/CSU) 185 C Frau Funcke, Vizepräsident 186 C Dr.-Ing. Leussink, Bundesminister 188 A Dr. Meinecke (SPD) 191 D Dr. Mikat (CDU/CSU) 193 B Moersch (FDP) 195 C Genscher, Bundesminister 198 C Dr. Lohmar (SPD) 201 A Katzer (CDU/CSU) 202 C Dr. Schellenberg (SPD) 207 A Schmidt (Kempten) (FDP) 212 A Dr. Burgbacher (CDU/CSU) 214 C Arendt, Bundesminister 216 A Benda (CDU/CSU) 220 B Dr. Ehmke, Bundesminister 223 B Dr. Rutschke (FDP) 223 C von Hassel, Präsident 228 A Dr. Lauritzen, Bundesminister 228 B Vogel (CDU/CSU) 228 C Frau Dr. Diemer-Nicolaus (FDP) 230 B Jahn, Bundesminister 231 C Brandt, Bundeskanzler 232 B Dr. Barzel (CDU/CSU) 236 C Wehner (SPD) 240 A Nächste Sitzung 241 Anlagen Anlage 1 Liste der beurlaubten Abgeordneten 243 A Anlagen 2 bis 4 Schriftliche Erklärungen der Abg. Dichgans (CDU/CSU), Dr. Rutschke (FDP) und Dr. Jungmann (CDU/CSU) zu der Regierungserklärung 243 B Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Oktober 1969 127 7. Sitzung Bonn, den 30. Oktober 1969 Stenographischer Bericht Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlagen zum Stenographischen Bericht Anlage 1 Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich Amrehn ** 16. 11. Dr. Dittrich * 31. 10. Frau Herklotz ** 17. 11. Frau Geisendörfer 30. 10. Gottesleben 31. 12. Dr. Jungmann 10. 11. Frau Kalinke ** 17. 11. Dr. Kempfler 30. 10. Lücke (Bensberg) 31. 10. Frau Meermann ** 9. 11. Müller (Aachen-Land) * 30. 10. Petersen ** 17. 11. Dr. Preiß 31. 10. Raffert ** 9. 11. Dr. Rinderspacher 14. 11. Schlee 31. 10. Dr. Schmidt (Offenbach) 31. 10. Dr. Starke (Franken) 30. 10. Weigl 31. 10. Dr. Wörner 30. 10. Frau Dr. Wolf ** 20. 11. * Für die Teilnahme an Ausschußsitzungen des Europäischen Parlaments ** Für die Teilnahme an einer Tagung der Interparlamentarischen Union Anlage 2 Schriftliche Erklärung des Abgeordneten Dichgans (CDU/CSU) zu der Regierungserklärung. Nachdem das Thema Baustahlpreise von zwei prominenten Kollegen angesprochen worden ist, wollte ich dazu etwas sagen. Die Preisentwicklung für Baustahl, genauer Betonstahl, ist lebhaft kritisiert worden, nicht ohne Grund. In der Tat sind Fälle vorgekommen, in denen ein Bauunternehmer, der bei seinem Händler noch Januar dieses Jahres 450 DM/t gezahlt hatte, im Juli 1969 900 DM bezahlen sollte, das Doppelte. Herr Kollege Dr. Strauß hat dazu bereits mit Recht bemerkt, daß das Problem sehr verwickelt liege. Dazu nur drei Zahlenpaare. Im Jahre 1960 lag der Preis für Betonstahl ab deutschem Hüttenwerk bei etwa 520 DM/t, was zu Preisen ab Händlerlager in der Größenordnung von 650 DM/t führte. Jm Jahre 1968 erlebten wir einen weltweiten Preiseinbruch bei Stahl, mit Preisbewegungen, wie wir sie früher nur am internationalen Metallmarkt erlebt hatten, etwa bei Kupfer und Zinn. 25 % des deutschen Stahlverbrauchs stammen aus dem Ausland. Belgischer Stahl wurde in dieser Baissezeit mit etwa 350 DM/t ab Hüttenwerk, 450 DM/t ab Händlerlager angeboten, alles in runden Zahlen, die nur die Größenordnungen zeigen sollen. Bei einem Überflußangebot wirkt bekanntlich das billigste Angebot preisbestimmend. Deutsche Hüttenwerke mußten deshalb den Auslandsangeboten folgen. Sie waren übrigens daraufhin in mehreren Fällen gezwungen, die Vorauszahlungen von Körperschaftsteuer einzustellen. Im Sommer 1969 entwickelte sich nun ein weltweiter Stahlboom, der den belgischen Preis in wenigen Monaten von 350 auf 700 DM in die Höhe schnellen ließ, was zu dem erwähnten hohen Preis ab Händlerlager führte, 900 DM/t im Extremfall. Daraus ergab sich eine allgemeine Preisauftriebstendenz für Betonstahl ab Händlerlager, weil in Mangellagen die höchste Preisforderung für eine Menge, die noch benötigt wird, den Gesamtpreis bestimmt. Wie haben sich nun die Betonstahlpreise ab deutschem Hüttenwerk entwickelt? Sie liegen unverändert bei 520 DM, wie im Jahre 1960, eher einige Mark darunter. Von allen Stahlsorten wurde nur der Betonstahl, weniger als 10 % der Gesamtmenge, von hektischen Preisausschlägen erfaßt. Für die übrigen verlief die Preiskurve weit ruhiger, für manche von ihnen völlig stetig. Bei Betonstahl gab es im Sommer 1969 zeitweise Lieferschwierigkeiten. Niemand hatte diese sprunghafte Steigerung der Nachfrage vorausgesehen, weder die Stahlindustrie noch der Bundeswirtschaftsminister. Die Stahlindustrie bemühte sich jedoch intensiv um eine Erhöhung der Erzeugung, mit sichtbarem Erfolg. Die extremen Preise gingen rasch zurück. Kritische Kollegen haben mir hier bestätigt, daß heute Betonstahl wieder zum Preise von etwa 650 DM/t vom Händlerlager zu haben ist. Die exzessiven Preisschwankungen waren gewiß unerfreulich. Aber der Mechanismus der Marktwirtschaft hat rasch funktioniert. Seit 1960 ist der allgemeine Index der Industriepreise um etwa 14% gestiegen, während die Stahlpreise sich beim Stand von 1960 gehalten haben. Wäre das bei allen Preisen der Fall, so wäre das Wort Preisstabilität in der heutigen Debatte nicht vorgekommen. Anlage 3 Schriftliche Erklärung des Abgeordneten Dr. Rutschke (FDP) zu der Regierungserklärung. Die Fraktion der FDP begrüßt es außerordentlich, daß die neue Bundesregierung in ihrer programmatischen Erklärung den innenpolitischen Problemen der Vertriebenen, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigten breiten Raum geschenkt hat. Seit Jahren hat keine Bundesregierung so konkrete und konstruktive Aussagen gemacht. Die Bundesregierung hat erklärt, daß sie die notwendigen Maßnahmen zur 244 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Oktober 1969 Eingliederung vollenden wird. Vierundzwanzig Jahre nach Kriegsende ist es wahrlich erforderlich, daß dieses mit so viel Leid verbundene Kapitel der deutschen Geschichte endlich zu einem befriedigenden Abschluß kommt. Es besteht kein Zweifel, daß die Eingliederung der Vertriebenen und Flüchtlinge am unzulänglichsten in bezug auf die ostdeutschen Bauern geblieben ist. Jeder weiß, daß die Bundesrepublik Deutschland diesen Menschen nicht wieder zu einem Bauernhof zu verhelfen vermag. Aber ein eigenes Haus mit einem Stück Siedlerland hätte man in den verflossenen zwei Jahrzehnten den ostdeutschen Landwirten sicherlich zur Verfügung stellen können. Noch der scheidende 5. Bundestag appellierte an die neue Bundesregierung, einen Eingliederungsplan aufzustellen, nach dem jährlich wenigstens 4000 Ost- und Mitteldeutsche eine Nebenerwerbssiedlung erhalten können. Die neue Bundesregierung wird danach streben, jenen einstimmigen Wunsch aller Fraktionen zu realisieren. Die gewerblichen Betriebe der Vertriebenen, Flüchtlinge und Kriegssachgeschädigten leiden immer noch unter erheblichem Eigenkapitalmangel. Zu welch ernster Bedrängnis dieser Zustand führt, konnte man 1966 sehen, als die westdeutsche Wirtschaft in die Krise abglitt. Die Geschädigtenbetriebe waren die ersten, die an den Rand des Konkurses gerieten. Die neue Bundesregierung wird sich deshalb bemühen, die notwendigen eigenkapitalbildenden Maßnahmen fortzusetzen. Die wohnungsmäßige Eingliederung der Vertriebenen, Flüchtlinge und Ausgebombten läßt immer noch zu wünschen übrig. Dies gilt nicht nur für das Fehlen von Mietwohnungen für diesen Personenkreis, sondern verstärkt für das Phänomen des Wohnraum-Eigenbesitzes. Nas neue Kabinett bringt ferner in seiner Regierungserklärung zum Ausdruck, daß es den Lastenausgleich und die Kriegsfolgegesetzgebung, auch im Interesse der Flüchtlinge aus der DDR, zu einem gerechten Abschluß bringen wird. Die Einfügung bezüglich der Flüchtlinge soll zweifellos zum Ausdruck bringen, daß sich die Bundesregierung um eine Gleichstellung der Flüchtlinge mit den Vertriebenen in bezug auf die Hauptentschädigung bemühen wolle. Der Hinweis auf einen „gerechten" Abschluß deutet an, daß die Regierung prüfen werde, inwieweit allgemein eine Verbesserung der Entschädigungsleistungen vorgenommen werden kann. Auch der Ausbau der Altersversorgung der ehemals Selbständigen fällt in diese Programmankündigung. Der letzte Bundestag hatte diesbezüglich die neue Bundesregierung gebeten, eine angemessene Erhöhung des Selbständigenzuschlags im 2. Unterhaltshilfeanpassungsgesetz vorzusehen. Die neue Regierung hat die Bemühungen um die Realisierung dieses Parlamentswunsches bereits seit einigen Tagen aufgenommen. Es wird bei dieser Gelegenheit darauf ankommen, die Altersversorgung stärker als bisher in ein angemessenes Verhältnis zur früheren soziologischen Stellung der Geschädigten zu bringen. In der Öffentlichkeit ist — insbesondere von Geschädigtenverbänden — kritisiert worden, daß das Bundesvertriebenenministerium aufgelöst worden ist. Diese Kritik geht an dem Kern der Sache vorbei. Der zentrale Verwaltungsapparat für die Eingliederung, den Lastenausgleich und die kulturelle Betreuung der Vertriebenen, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigten ist tatsächlich uneingeschränkt erhalten geblieben. Soweit es die außenpolitischen und deutschlandpolitischen Belange der Vertriebenen und Flüchtlinge betrifft, war auch in der Vergangenheit der Vertriebenenminister dafür nicht ressortzuständig. Alle Wünsche oder Vorstellungen werden aber wirkungslos und vergeblich sein, wenn uns eines nicht gelingt: die Kaufkraft unserer Währung zu stabilisieren. Insbesondere die Geschädigtenkreise, ob Kriegssachgeschädigte, Vertriebene oder Flüchtlinge, sind — und hierbei wiederum insbesondere die älteren Menschen — auf die Erhaltung der Kaufkraft unseres Geldes angewiesen. Sie sind wirklich darauf angewiesen — mehr als alle anderen. Die schlechteste Sozialpolitik im weitesten Sinne des Wortes ist die Politik des schlechten Geldes. Wer den Weg der Anpassungsinflation vorzog, anstatt rechtzeitig alle volkswirtschaftlichen Mittel, wie z. B. die Aufwertung unserer D-Mark, einzusetzen, hat sich insbesondere an diesem Personenkreis versündigt. Diese nicht zu rechtfertigende Politik wird ihre Auswirkungen mit voller Wucht im Hinblick auf Preissteigerungen erst in den nächsten Monaten haben. Das wird aber dann für die Geschädigtenkreise besonders schmerzlich sein. Die Verantwortung für die kommenden Preissteigerungen liegt aber nicht — das möchte ich hier und heute eindeutig feststellen — bei der neuen Bundesregierung, sondern einzig und allein bei den Herren Bundeskanzler Dr. Kiesinger und Finanzminister Strauß und bei Ihnen, meine Damen und Herren der CDU/CSU. Anlage 4 Schriftliche Erklärung des Abgeordneten Dr. Jungmann (CDU/CSU) zu der Regierungserklärung. Es gehört zu der traditionellen Besonderheit der Gesundheitspolitik jedenfalls in diesem Hause —, daß ihr Akzent weniger auf den unvermeidlichen Meinungsverschiedenheiten als auf der gemeinsamen humanitären Verpflichtung gelegen hat. Deshalb und in diesem Geist stelle ich fest, daß die gesundheitspolitischen Aussagen der Regierungserklärung in jeder Hinsicht enttäuschend sind. Wir haben mit Befriedigung zur Kenntnis genommen, daß die Aufgabe der Gesundheitspolitik jetzt auch von der Bundesregierung bescheidener und realistischer als früher in dem Schutz der Men- Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. Oktober 1969 245 schen vor den durch Technik und Zivilisation hervorgerufenen Gesundheitsrisiken gesehen wird. Wir haben ebenfalls mit Befriedigung zur Kenntnis genommen, daß Wissenschaft und Forschung jetzt an erster Stelle dieser Aufgaben genannt werden. Von der Konkretisierung dieser löblichen Erkenntnis haben wir allerdings wahrlich nichts Überzeugendes gehört. Was da von einem Institut für Sozialmedizin gesagt worden ist, ist mehr Propaganda als Wissenschaft und Forschung. Wenn die sozialmedizinische Forschung an unseren Universitäten und Hochschulen wenigstens etwas großzügiger gefördert würde, würde dabei zweifellos mehr herauskommen als aus einem solchen Institut im Bundesgesundheitsamt. Für die Erforschung der Grundlagen für die Früherkennung der großen Krankheiten unserer Zeit ist das jedenfalls weder der beste noch der erfolgversprechendste Weg. Wir wollen unsere Sorgen bezüglich der weiteren Entwicklung der wissenschaftlichen Institute des Bundesgesundheitsamtes nicht verhehlen. Wenn Wissenschaft und Forschung im Gesundheitspolitischen Programm tatsächlich an erster Stelle stehen sollen — und wir begrüßen das ausdrücklich, weil es schon seit vielen Jahren unsere ausdrückliche Ansicht ist -, dann muß im Bundesgesundheitsamt eine grundlegende Neugestaltung erfolgen. Angesichts der Tatsache, daß heute jeder fünfte oder sechste Mensch an Krebs stirbt, ist es doch wohl kaum angemessen, wenn die Bundesregierung der Krebsbekämpfung „besondere Bedeutung" beimessen will. Auch hier haben wir die klare und konkrete Aussage vermißt, was und wie das geschehen soll. Warum ist vor allem mit keinem Wort gesagt worden, daß die heute schon vorhandenen Möglichkeiten der Früherkennung des Krebses und der anderen großen Krankheiten unserer Zeit endlich voll ausgenutzt werden sollen? Statt der unverbindlichen Versicherung guter Absichten zur Reinhaltung von Wasser und Luft und zum Schutz vor dem Lärm hätten wir auch lieber gehört, w i e das geschehen soll, w i e unsere Städte und Dörfer z. B. von dem täglich wachsenden Zivilisationsmüll befreit werden sollten. Mit Interesse haben wir zur Kenntnis genommen, daß die Bundesregierung schon bald ein Gesetz zur wirtschaftlichen Sicherung der Krankenhäuser vorlegen will. Wir sind sehr gespannt, dann zu erfahren, was unter einem „bedarfsgerecht gegliederten System leistungsfähiger Krankenhäuser" zu verstehen ist. Hoffentlich nicht ein seelenloses und damit zugleich unmenschliches System ausschließlich funktionsbezogener Institutionen! Daß die neue Bundesregierung die ärztliche Ausbildung reformieren will, ist — gelinde ausgedrückt — eine unangebrachte Absichtserklärung. Denn tatsächlich müssen wir - der Deutsche Bundestag - von der Bundesregierung erwarten, daß sie ihrerseits bald realisiert, was ihr vom Gesetzgeber aufgetragen worden ist. Bisher sieht es allerdings so aus, als ob diese Aufgabe eher verzögert als mit der notwendigen Einsicht und Energie vorangetrieben würde. Daß sich die Bundesregierung zu dem Grundsatz der freien Arztwahl bekennt, ist nicht gerade sensationell. Daß sie sich auch zum Grundsatz der freien Berufsausübung bekennt, ist schon eher von Interesse. In den Programmen der SPD haben wir eine so klare Aussage bisher jedenfalls vermißt. Unklar und besorgniserregend ist die Aussage, daß die Bundesregierung, „abgestimmt auf die europäische Entwicklung", dafür sorgen wird, daß „Staat und Heilmittelhersteller im Arzneimittelwesen verantwortlich zusammenwirken" sollen, „um ein Maximum an Sicherheit zu gewährleisten". Dieses Maximum an Sicherheit ist jedenfalls nicht nur die Absicht, sondern Grundsatz, Sinn und Inhalt unserer deutschen Arzneimittelgesetzgebung gewesen, die von allen Fraktionen dieses Hauses getragen worden ist. Was muß und was soll da jetzt geändert werden? Wir bleiben bei unserer Auffassung, daß die Verantwortung für die Arzneimittel über die Gesetzgebung und über die Befolgung der Gesetze hinaus nicht vom Staat übernommen werden kann, weil der Staat diese Aufgabe nicht erfüllen kann. Auch in der Gesundheitspolitik erwarten wir also klare Aussagen, damit wir wissen, welchen Absichten wir zustimmen können und welchen Absichten wir rechtzeitig entgegentreten müssen. Ich darf abschließend feststellen, daß das von uns selbst früher einmal angestrebte und schließlich geschaffene Gesundheitsministerium heute wohl nicht mehr für die optimale Organisation der Gesundheitspolitik angesehen werden kann. Das gilt auch für das jetzt aus Familien-, Jugend- und Gesundheitsministerium zusammengelegte Ministerium. Wie wenig seine Teile ein organisches Ganzes bilden, ergibt sich allein schon aus der Behandlung seiner verschiedenen Aufgaben in der Regierungserklärung. Das gilt um so mehr, als dem Vernehmen nach die Einheit der Gesundheitspolitik durch Herauslösung der gesamten Umwelthygiene aus dem Gesundheitsministerium gesprengt werden soll. Wir sind der Ansicht, daß alle Teile dieses Ministeriums Teile eines modernen Innenministeriums sein sollten, eines Innenministeriums allerdings, das sich als das für die Daseinsvorsorge der Staatsbürger verantwortliche Ministerium zu verstehen hätte. Das ergibt sich aus unserer grundsätzlichen Auffassung, daß Schutz der Gesundheit Aufgabe einer richtig verstandenen Gesundheitspolitik sind, nicht aber die mehr oder weniger verkappte Vorstellung, daß das Wohl und Wehe der Menschen vom Staate organisiert werden könnte.
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    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf mich zunächst für die vielen guten Beiträge und für manche hilfreiche Kritik in dieser Debatte bedanken. Ich denke, alle Mitglieder des Hohen Hauses werden wie ich selbst mit einer gewissen Genugtuung zur Kenntnis genommen haben, welchen Niederschlag diese Debatte bisher in der Presse, im Rundfunk und im Fernsehen gefunden hat; das geht ja noch weiter. Ich denke, es ist gut, daß die Träger der öffentlichen Meinung in diesem Umfang Kenntnis von dem genommen haben, was uns hier beschäftigt, und dazu auch ihre eigene Meinung sagen; denn auch dies kann uns weiterhelfen.
    Der Grundtenor dieser Kommentare ist die Feststellung, daß der Bundestag wieder lebendiger geworden sei. Diese Feststellung ist zweifellos richtig, wenn sie auch natürlich die Tatsache verbirgt, daß sich in Zukunft neben den großen Auseinandersetzungen hier im Plenum wie bisher sehr viel stille, von der Öffentlichkeit weniger beachtete Arbeit in diesem Parlament abspielt. Der Deutsche Bundestag gilt mit Recht als eines der fleißigsten Parlamente der Welt, und dies gereicht ihm zur Ehre.
    Ich sage das auch deshalb, weil diese Arbeit in den zurückliegenden Legislaturperioden ganz wesentlich mit dazu beigetragen hat, daß wir in der Tat — wie Herr Kollege Strauß heute vormittag
    gesagt hat und wie ich es auch vor einigen Tagen gewürdigt habe — in vielen Bereichen ein modernes Deutschland haben. Aber es gibt auch viele Lebensbereiche, in denen es noch nicht so ist, und insgesamt müssen wir uns anstrengen, daß wir durch die Verwirklichung der Reformen ständig Schritt halten mit den Anforderungen der Zeit. Darum geht es.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Das wird aber immer so sein!)

    — Gewiß.
    Eine andere Feststellung aus meiner Sicht, meine Damen und Herren: Ich denke, die Debatte — mit den Krisen, die auch solche Auseinandersetzungen durchlaufen müssen und die manchmal heilende Effekte haben können - hat gezeigt, daß es in diesem Hause nicht das geben wird, was man ein Freund-Feind-Verhältnis nennt, weil es ein solches Verhältnis angesichts der Notwendigkeit zur Verständigung neben dem Streit nicht geben darf und weil die Gemeinsamkeiten der Aufgaben und der Verpflichtung gegenüber unserem Volk letztlich immer durchschlagen müssen.
    Diese Bundesregierung wird wie die vorige Regierung — wenn ich auch dies noch einmal betonen darf — die Rechte dieses Hauses selbstverständlich voll und so gut sie es versteht immer respektieren. Sie ist sich außerdem der parlamentarischen Situation, wie sie aus dein Ergebnis der Bundestagswahlen entstanden ist, voll bewußt, so wie andererseits die starke, die sehr starke Opposition in diesem Hause sich sicher auch in der Debatte dieser beiden Tage — vielleicht noch etwas mehr als zuvor — hat überzeugen können von der Entschlossenheit der beiden diese Regierung tragenden Fraktionen, diese Legislaturperiode effektiv und wirksam und gut miteinander durchzustehen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Es ist ja neben vielem anderen das Fehlen der großen Debatten über die Fragen der Nation gewesen, das auch junge Menschen in den letzten Jahren häufig bemängelt haben. Und da mag sich dann auch etwas verbessern, indem nun dem Plenum seine eigentliche Bedeutung noch stärker wieder zukommen wird, und wir können alle nur hoffen, daß dies dazu beiträgt, das Interesse vieler junger Menschen an unserer Arbeit zu wecken und auch damit unsere Demokratie zu festigen. Auch das Regierungsprogramm, über das hier debattiert wurde, ist darauf abgestellt, der Bevölkerung insgesamt, aber insbesondere auch den jungen Menschen zu zeigen, daß die politische Führung die Aufgaben, die ihr gestellt sind, erkennt und daß sie bereit ist, diese Aufgaben anzupacken. Wir alle miteinander — ob Mehrheit oder starke Minderheit — müssen uns ja sowohl in der Arbeit hier wie anderswo darauf einstellen, daß das nächstemal, wenn wir uns nach vier Jahren begegnen, um dann für eine neue Wegstrecke eine Entscheidung zu bekommen, nicht weniger als sieben neue Jahrgänge in unserem Volk darüber mitentscheiden werden, wenn wir bis dahin die Veränderungen durchgeführt haben, die die Regierung vorschlägt. Man muß sich einmal klarmachen, was dies bedeutet, daß heute 14- und 15jährige Jungen und



    Bundeskanzler Brandt
    Mädchen dann schon darüber mitentscheiden werden, wer in dieses Haus gewählt wird und wen dieses Haus dann mit der Führung für weitere vier Jahre betraut.
    Da ich schon über die jungen Menschen spreche, ein Wort zu den kritischen Bemerkungen, die heute abend gegen Schluß der Kollege Vogel hier gemacht hat. Ich will nicht meinerseits jetzt noch eine neue Polemik starten; sonst hätte ich gesagt: Es wäre gut gewesen, wenn er die Antwort, die ich dem „stern" gegeben habe, vollständig vorgetragen hätte. Ich habe erstens nicht gesagt: ich schlage eine Amnestie vor. Denn es ist mit Recht gesagt worden, ich hätte sie gar nicht vorzuschlagen. Ich denke auch daran, daß es selbst Frankreich, das durch eine sehr viel schwerere Krise mit den jungen Leuten hindurch mußte, für richtig gehalten hat, das Problem so zu lösen.
    Ich habe weiter gesagt: Man muß einen Unterschied machen zwischen jungen Leuten, die über die Stränge geschlagen sind, und solchen, die kriminelle Taten im eigentlichen Sinne des Wortes begangen haben. Ich habe dann gesagt: Wir haben das Problem, das die Juristen lösen können; ich bin keiner. Was machen wir mit solchen, die selbst bei einer Amnestie sagen: wir wollen unseren Prozeß trotzdem haben, vielleicht auf Grund eines Beschlusses? Vielleicht sind es auch nur einzelne, die sich das vornehmen.
    Der richtige Zusammenhang aber ist natürlich vor allem der, auf den Herr Kollege Jahn eben hingewiesen hat. Im Sonderausschuß für die Strafrechtsreform gab es schon im alten Bundestag weithin eine Verständigung über eine Reform, was die Demonstrationsdelikte angeht. Wenn es dazu kommt, werden wir, denke ich, alle miteinander sagen können, daß damit ein Stück auch in bezug auf eine Amnestierung verbunden sein muß. Das ergibt sich aus der Logik der Sache und dem bisherigen Gang der Verhandlungen darüber.
    Ich möchte trotz mancher kritischer Bemerkungen, die heute nachmittag dazu gemacht worden sind, nur noch unterstreichen, wie sehr wir gerade an die jungen Menschen zu denken haben, wenn wir uns stärker als bisher mit allen Kräften, über die wir verfügen, geistigen und materiellen Kräften, um die Reform des Bildungs- und Ausbildungswesens kümmern. Dieser Anspruch, den die Jungen und viele mit ihnen an uns stellen, ist unabweisbar und voll berechtigt, und er wird im Rahmen unserer Möglichkeiten von der Bundesregierung erfüllt werden. Ich hoffe, das Haus hat den Eindruck gewonnen, daß Professor Leussink als Bundesminister für Bildung und Wissenschaft der Mann ist, der das, gestützt auf das Vertrauen vieler, für die Bundesregierung in die Hand nehmen kann.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Ebenso darf ich im Namen der ganzen Regierung noch einmal unterstreichen, daß wir dem Bundesfinanzminister, unserem Kollegen Möller — denn das ist unsere Pflicht und die Pflicht des Kanzlers vor allen anderen noch —, bei seinen Bemühungen
    um die Solidität der Finanzpolitik in den kommenden Jahren helfen werden.
    Ich habe dem Herrn Kollegen Klinker noch eine Antwort zu geben. Ich wollte mich in der Debatte über die Landwirtschaft nicht extra zu Wort melden. Ich habe mir die Antwort für meine Zusammenfassung jetzt aufgespart. Herr Kollege Klinker wird es mir nicht übelnehmen, wenn ich seine Fragen, die ich mir sehr genau angehört habe und auf die man auch sonst noch zurückkommen kann, jetzt nicht punktweise beantworte, sondern statt dessen noch einmal auf unsere Regierungserklärung und auf das verweise, was ich am Tag vor der Regierungserklärung, am Montag vormittag, den Vertretern des Bauernverbandes im Bundeskanzleramt gesagt habe. Ich unterstreiche das, was der zuständige Bundesminister heute vor diesem Hohen Hause gesagt hat. Ich stelle mich nicht hinter, sondern, wie es meine Pflicht ist, vor den Kollegen Ertl, auf den sich die Bauern werden verlassen können.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zuruf von der CDU/CSU: Arme Landwirtschaft!)

    Nun ist hier und da in der Debatte über die verschiedenen Sachgebiete immer wieder die Frage aufgeworfen worden, ob das, was ich gesagt habe, nicht einerseits doch zu wenig und andererseits zu viel gewesen sei. Einige haben bemängelt — dafür läßt sich vieles ins Feld führen —, was alles nicht ausgeführt wurde. Andere haben — auch beim Kollegen Strauß klang das an — von dem „Neckermann-Katalog" hier und draußen gesprochen. Wenn nun schon, Herr Kollege Benda, von Werbeslogans die Rede ist, dann heißt es ja — wenn man schon von Neckermann spricht —: „Neckermann macht's möglich!" Wir wollen es auch möglich machen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Lachen bei der CDU/CSU. — Zurufe von der CDU/CSU. — Abg. Rösing: Neckermann hat Mini-Preise!)

    Meine Damen und Herren, noch ein Wort zu den Parlamentarischen Staatssekretären. Man kann nun nicht zweierlei machen. Man kann nicht einerseits sagen: die Projektgruppe, an der ja der eine und andere derer, die mit mir jetzt arbeiten, auch ein bißchen beteiligt war — direkt oder indirekt —, hat eine vorzügliche Arbeit geleistet, jeder Regierung könne nur geraten werden, davon möglichst viel aufzunehmen, und andererseits fragen: warum habt ihr fünfzehn Parlamentarische Staatssekretäre? Denn genau dies hat die Projektgruppe mit vorgeschlagen: weniger Ministerien und einen Parlamentarischen Staatssekretär in jedem Ministerium. Ich sage nicht, daß man das so machen mußte, ich sage nur, daß offensichtlich auch andere gemeint haben, daß man es so machen könnte. Mehr will ich nicht sagen.
    Dann noch einmal ein Wort — obwohl Herr Genscher dazu schon gesprochen hat —, was die Beamten angeht, meine sehr verehrten Damen und Herren von der CDU/CSU. Ich kann es leider nicht in Gegenwart von Herrn Kollegen Strauß sagen, der sich zu diesem Thema geäußert hat. Das war ungerecht, sachlich nicht gerechtfertigt, das hat diese Re-



    Bundeskanzler Brandt
    gierung nicht verdient, und die Beamten haben es auch nicht verdient, daß sie auf diese Weise in die Kontroverse hineingebracht werden.

    (Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)

    .Jeder, der mich jetzt fast drei Jahre als Außenminister gesehen hat, weiß — es hat einmal in einem Fall eine unterschiedliche Meinung gegeben —, daß ich es verstehe, eine nicht parteipolitisch geprägte Beamtenpolitik zu machen.

    (Beifall bei der SPD.)

    Das wird jeder, der das objektiv betrachtet, zugeben müssen. So wird es bleiben.
    Allerdings wird es auch aus einem ganz anderen Grunde, nämlich aus sachlichen Gründen so bleiben, daß in den Ministerien Sozialdemokraten nicht mehr — seit langem nicht mehr — nur in den Kategorien der Chauffeure und der Pförtner vertreten sind.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD. — Lachen bei der CDU/CSU. — Abg. Katzer: Wo denn? — Weitere Zurufe von der CDU/CSU.)

    Meine Damen und Herren, ich unterstreiche und sage noch einmal:

    (Zuruf von der CDU/CSU: Das sind doch Unterstellungen!)

    Aus sachlichen Gründen hatte es sich schon dahin entwickelt, daß nicht wie in einer früheren Zeit Anhänger einer Richtung nur in diesen Kategorien vertreten waren.


Rede von Kai-Uwe von Hassel
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Reddemann?

(Zurufe von der SPD: Nein!)


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    Rede von: Unbekanntinfo_outline


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: ()
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: ()

    Ich möchte jetzt mein Schlußwort zusammenhängend sprechen.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD.)

    Meine Damen und Herren! Die Regierungserklärung ist darauf angelegt gewesen, in der Innenpolitik durchschaubar zu machen, welche Selbstbindungen diese Bundesregierung — kontrollierbar für jedermann — eingeht. Dies gilt auch für die Außenpolitik. Trotzdem konnte — ich sage es noch einmal — die Bundesregierung dies um so leichter tun, als sie ausdrücklich mit diesem Bezug auf den außenpolitischen Teil der Regierungserklärung der Großen Koalition vom 13. Dezember 1966 hingewiesen hat. Nach manchem, was gestern gegensätzlich vorgetragen wurde, liegt mir sehr daran, an dieser Stelle und in dieser Zusammenfassung zu unterstreichen, warum und mit welcher Betonung die Bundesregierung in ihrer Erklärung gesagt hat: niemand kann uns ausreden, daß auch die Deutschen wie alle anderen Völker ein Recht auf Selbstbestimmung haben und daß die Bundesregierung im Zusammenhang mit der konkreten Politik, mit konkret anstehenden Verhandlungen oder Gesprächsversuchen gesagt hat: das Recht auf Selbstbestimmung, wie es in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegt ist, gilt auch für das deutsche Volk; dieses Recht und der Wille, es zu behaupten, können kein Verhandlungsgegenstand sein. Dies war in der Kontroverse etwas untergegangen. Um es zu unterstreichen, brauchten wir nicht den Hinweis auf die Verfassung oder ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Selbst wenn es diese Bestimmung im Grundgesetz nicht gäbe, lebte dieses Recht, müßte es in jedem einzelnen von uns und in unserem gemeinsamen politischen Willen leben, was sonst auch kontrovers sein mag.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Ich sage hier mit allem Ernst: dieses Recht würde nichts wert sein, wenn der Wille dazu in den Menschen in Deutschland, wo immer sie leben, nicht lebendig bliebe.
    Natürlich wird es von unserer praktischen Politik abhängen — und ich gebe jetzt nicht den Begriff „Begriffsakrobatik" zurück —, wieweit das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit der einen Nation wachbleibt. In dieser Frage bin ich selber übrigens nicht pessimistisch. Das Bewußtsein, einer Nation anzugehören, wird, weil man auch anderswo nicht völlig an dem Empfinden der Menschen vorbei kann, sogar durch die Regierenden in Ostberlin und in der durch sie geschaffenen Verfassung nicht geleugnet, nicht zu leugnen versucht.
    Herr Professor Hallstein hat gestern bemängelt, daß wir uns in dieser Regierungserklärung für die nächsten vier Jahre nicht noch einmal ausdrücklich zu den Vereinigten Staaten von Europa oder — in der Terminologie von Herrn Kollegen Kiesinger — zum politisch geeinigten Europa bekannt hätten. Nun, wir haben, nicht im Gegensatz dazu, nicht durch ein Abrücken von diesen Zielsetzungen, sondern ohne das Ziel aus dem Auge zu verlieren, das festgehalten, was in den nächsten Monaten und in diesen vier Jahren getan werden muß. Wenn wir das erreichen, dann sind wir einen Riesenschritt, nein, mehrere große Schritte weitergekommen.
    Wir haben — um die Parallele dazu zu geben —, was die deutschen Dinge angeht, in der Tat keine Antwort zu geben versucht. Wir haben uns das nicht zugetraut; dies bekenne ich. Wir haben keine Antwort darauf gegeben, in welcher Form die Deutschen eines Tages im Rahmen einer europäischen Friedensordnung sich wieder begegnen, miteinander leben und an ihrer gemeinsamen Zukunft arbeiten werden. Diese Frage haben wir in der Tat nicht beantwortet. Wir haben statt dessen gesagt, was die Regierung in dieser Legislaturperiode in der Deutschlandpolitik zu bewegen versuchen will. Da bitte ich doch nach der Kontroverse des gestrigen Tages noch einmal die Regierungserklärung, ihren Wortlaut und Sinn, im Zusammenhang zu sehen. Dann, glaube ich, wird das klare Programm, das auf eine wenn auch noch so schwierige Veränderung der Verhältnisse abzielt, deutlicher werden.
    Der Kollege Gradl hat gestern abend aus seinen Sorgen gesprochen, daß der Graben noch tiefer werden könnte, daß man im Ausland annehmen könnte, die Deutschen hätten sich mit dem jetzigen Zustand, hätten sich mit der permanenten unsinnigen Tei lung abgefunden. Ich habe die Sorge verstanden, aus



    Bundeskanzler Brandt
    der diese Sätze gesprochen worden sind, und ich habe sie trotzdem bedauert — bedauert deswegen, weil ich glaubte, dieser Zweifel wäre am besten nicht aufgekommen. Aber da er aufgekommen ist, muß ich dazu noch etwas sagen dürfen. Wir müssen so über diese Dinge weiter miteinander sprechen, daß insoweit kein Zweifel bleibt. Denn sonst versäumten wir unsere Pflicht, für die wohlverstandenen Interessen des deutschen Volkes zu sprechen. Das ist ja die Pflicht, an die wir, auf die heutige Situation bezogen, noch einmal erinnert worden sind und der wir uns stellen.
    Es ist mir und der ganzen Bundesregierung jedenfalls sehr ernst mit unserer Absicht, auch mit der DDR, was immer sie von den übrigen Partnern des Warschauer Paktes unterscheidet, zu einem verbindlichen Gewaltverzicht zu kommen. Dafür ist die DDR auch, was immer sie sonst von anderen unterscheiden mag, handlungsfähig, obwohl die Beziehungen zu uns, wie wir gesagt haben, nur von besonderer Art sein können. Dafür spielen nun für mich die stärker juristisch betonten Erwägungen zum Thema Volkssouveränität, wie ich zugebe, nicht dieselbe Rolle wie andere, weil es sich mir so darstellt, als komme es darauf an, daß die Politik die Voraussetzung dafür schafft, daß der Souverän Volk eines Tages wieder zur Geltung kommen kann.

    (Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Im übrigen wissen wir alle: Die Vier Mächte haben in den Deutschland als Ganzes betreffenden Fragen jene Vorbehaltsrechte und Pflichten, die in diesem Hause niemand antasten will. Auch daran muß erinnert werden, wenn wir über Volkssouveränität, auf Deutschland als Ganzes bezogen, sprechen. Es muß an diese Pflichten und Rechte, auf Berlin bezogen, ganz besonders erinnert werden, und hier, für unsere praktische Politik in der jetzt unmittelbar vor uns liegenden Zeit, geht es um das, was die Bundesregierung im Rahmen ihrer Handlungsfähigkeit tun will und tun kann, soweit die Regierenden in Ostberlin dazu bereit sind. Daß dabei für die Menschen etwas Sichtbares und Fühlbares herauskommen muß, ist für mich selbstverständlich, und ich bitte, mir zu glauben: der frühere Regierende Bürgermeister von Berlin weiß auch noch als Bundeskanzler um die Nöte der Menschen im geteilten Deutschland; sie waren ihm dort ein Jahrzehnt lang — nein, zwei Jahrzehnte lang noch näher, als sie anderen sein können.
    Ich will, da die Zeit fortschreitet, meine Bemerkungen zum Thema des Bundesbevollmächtigten in Berlin hier nicht noch ausweiten. Wir können darauf zurückkommen. auch darauf, wie oft man in Berlin mit der Nase darauf gestoßen worden ist, wo die Grenzen unserer Macht liegen, — nicht nur früher, nicht nur damals. Das ist die eigentliche Statusminderung im geteilten Deutschland in den letzten Jahren. Sie lag noch unter der Regierung Adenauer darin, daß keiner von uns etwas tun konnte, als Oststaaten sagten: Wir bestimmen „Kein Berliner mit dem Bundespaß darf in diese Länder reisen". Ich habe nicht gesehen, daß irgendeiner uns hat helfen können, das zu ändern. Genausowenig wie im vergangenen Jahre, Herr Kollege Kiesinger, als es
    um jene Art von Machtausübung ging mit den Transitvisa, wie es die anderen nennen; da stießen wir auch hart an die Grenze dieser so ausgeübten Gewalt durch einen „Staat DDR" oder, wie andere es zu nennen vorziehen, „ein staatsähnliches Phänomen"; das macht keinen großen Unterschied für das, um was es tatsächlich für die betroffenen Menschen geht.
    Aber mir geht es um folgendes. In der Regierungserklärung steht — abgesehen von dem, was ich bereits in Erinnerung gebracht habe —, auf die Selbstbestimmung bezogen: Erstens. Wir wollen den anderen Teil, die Menschen, die dort leben, um die es immer geht, -- soweit wir darauf Einfluß haben —nicht um die Vorteile ihrer Teilnahme am Handel und am kulturellen Austausch bringen. Ich denke, das ist im wesentlichen nicht bestritten worden; das hat keine eigentliche Rolle in der Debatte gespielt.
    Zweitens. Wir sind bereit, mit der Regierung in Ostberlin auf gleicher Basis ohne Diskriminierung zu reden. Wir greifen das frühere Angebot auf. Wir haben unsere Themen. Die mögen mit ihren Themen kommen!
    Drittens. Wir stellen einen Zusammenhang her, nicht nur aus enger deutscher Sicht, sondern aus der Sorge um den Frieden in Europa und um eine Verbesserung der Verhältnisse zwischen West und Ost, einen Zusammenhang zwischen diesem Ringen um innerdeutsche Regelungen und der Art, in der sich die DDR anderen gegenüber darstellen möchte. Wir stellen diese Verbindung her und sagen: das erste kann nicht ohne Einfluß bleiben auf das zweite. Insofern hängt es von Ostberlin nicht zuletzt selbst ab, was aus der Art wird, wie man ihm begegnet durch andere.
    Viertens sagen wir: für uns ist das kein Ausland, sondern für uns geht es um besondere Beziehungen, Beziehungen besonderer Art.

    (Unruhe bei der CDU/CSU.)

    Ich darf offen sagen — aber das hängt vielleicht wieder damit zusammen, daß ich selbst nicht Jurist bin --: mir ist manches an der Anerkennungsdiskussion nicht nur hier, sondern auch sonst schon in diesen Jahren etwas zu akademisch erschienen. Das liegt eben daran, daß ich zu lange erfahren habe, wo die Grenzen der Macht liegen und wie wenig in konkreten Situationen einem damit gedient ist, Formeln für die Wirklichkeit zu halten.
    Aber ich bin noch eine Antwort auf die verständliche Frage schuldig, welche Haltung die Bundesregierung zur Frage der Beziehungen zwischen der DDR und Drittländern über den von mir allgemein erwähnten Zusammenhang hinaus einnehmen wird. Ich fand, die Antwort war klar, die der Außenminister gestern gegeben hat.

    (Widerspruch bei der CDU/CSU.)

    — Aber wenn es es gewünscht wird, bin ich gern bereit, sie zu ergänzen. Ich bin gern bereit, sie in voller Übereinstimmung mit dem Herrn Außenminister zu ergänzen und zu sagen: Erstens. Es interessiert nicht nur uns — ich ließ es eben schon anklingen —, sondern alle, jedenfalls alle, denen



    Bundeskanzler Brandt
    es um den Frieden in Europa geht, wie sich Ostberlin zu dem einstellt, was diese Bundesregierung in Anlehnung an die Schritte der vorigen vorschlägt, offeriert, zur Diskussion stellt. Und es interessiert nicht nur uns, weil es nicht nur ein deutsches Problem ist, sondern auch andere, ob es zu Vereinbarungen kommen wird, die im Interesse der Menschen und des Friedens liegen. Das ist der eine Punkt.
    Zweitens. Wir hoffen und erwarten, daß die — um die Terminologie hier ganz genau zu beachten — uns verbündeten und befreundeten Staaten, jene Staaten, die mit uns auf dem einen oder anderen Gebiet zusammenarbeiten, unserem Bemühen die gebührende Beachtung schenken und dieses Bemühen nicht erschweren. Eine andere Haltung wäre weder hilfreich noch freundlich.
    Drittens. Wir hoffen und erwarten, daß die mit uns verbündeten und befreundeten Staaten — die Staaten, mit denen wir arbeiten — weiterhin für das Recht auf Selbstbestimmung, das in unserer Regierungserklärung diese eindeutige Rolle spielt, Verständnis zeigen und uns dabei unterstützen, daß der Weg zur Lösung unserer nationalen Fragen nicht versperrt und verbaut wird.
    Viertens. Wo dies doch — und überhaupt — geschieht, werden wir unseren eigenen Interessen entsprechend von Fall zu Fall entscheiden.
    Der Außenminister hat dem Hohen Hause gestern schon gesagt, daß die großen Botschaften vor Abgabe der Regierungserklärung eine Vorunterrichtung erhalten hätten. Ich kann dem Hohen Hause mitteilen, daß heute in Übereinstimmung zwischen dem Außenminister und mir — es ist nicht üblich, dem Hohen Hause den Text hier vorzutragen — alle unsere Auslandsvertretungen im Sinne dessen, wovon ich eben sprach, instruiert worden sind.

    (Zuruf von der CDU/CSU: In welchem Sinne?)

    Meine Damen und Herren, ich habe eben gesagt: „entsprechend unseren eigenen Interessen". Darauf kommt es an. Ich habe im vergangenen Jahr von mehr als einem Außenminister gehört, man habe lange darauf gewartet, daß die deutsche Stimme auf Gebieten vernehmlicher werde, in denen es nicht nur um Proteste und Belehrungen, die sich aus der deutschen Frage im engeren Sinne des Wortes ergeben, geht. Es geht also nicht nur um das innerdeutsche Bemühen um Erleichterungen und Verbesserungen, sondern es geht auch und gerade bei diesem ganzen so schwierigen Thema darum, einen verbreiterten Aktionsraum für die Vertretung unserer Interessen in der Welt zu schaffen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Und ob nun die Zeichen auf Sturm stehen oder ob man — was in jedem Falle stimmen wird — in allen Teilen der Welt und in allen Blöcken und Gruppierungen vor großen Wandlungen steht, wir müssen dabei, ohne uns zu überheben, unsere eigene Rolle spielen und dabei weniger jammern und mehr gestalten.
    Meine Damen und Herren, man hat die Kontinuität der Politik dieser Regierung bezweifelt.
    Es wäre ein Mißverständnis, zu glauben, Kontinuität sei nichts als Fortsetzung des Bestehenden. Dann brauchten wir übrigens keine Wahlen und keine politische Auseinandersetzung. Kontinuität ist kein Lineal. Der Historiker Mommsen hat für einige Kritiker einen Merksatz geprägt, den ich Ihnen nicht vorenthalten möchte. Er lautet: Man kann auch dadurch vom rechten Wege abkommen, daß man zu lange auf dem geraden bleibt.

    (Zuruf von der CDU/CSU.)

    Nach meinem Verständnis der Kontinuität unserer Politik könnte ich auch sagen: der politische Gegensatz zu „Keine Experimente" ist nicht einfach „Experimente", sondern der Gegensatz ist „Keine Angst vor Experimenten". Das ist der Leitsatz unserer Politik.

    (Anhaltender lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)