Herr Präsident! Die Spannweite dieser Debatte macht es erforderlich, daß auch ich versuche, mit ein paar Gedanken die Außenpolitik mit der Sicherheitspolitik zusammenzuführen. Die krisenhaften Ereignisse dieses Jahres haben in breiten Kreisen der Bevölkerung unseres Landes und auch Europas Zweifel an der Wirksamkeit unseres Verteidigungsbündnisses hervorgerufen. Unter dem Titel „Künftige Aufgaben der Allianz" hat der belgische Außenminister Harmel eine sehr verdienstvolle Studie veröffentlicht, die eine nachhaltige Korrektur eben gerade dieses Eindrucks in der öffentlichen Meinung Europas hervorrufen soll.
Ich bedauere, daß in diesem Augenblick unser Kollege von der FDP, Herr Jung, nicht 'im Saal ist, denn ich möchte ihm auf das antworten, was er eingangs seiner Ausführungen sagte, nämlich als er darauf zu sprechen kam, daß wir eine Gegenüberstellung von Divisionen auf der sowjetischen Seite nach Prag allzusehr in den Vordergrund rückten und daß wir mit Zahlen operierten, die mit den Tatbeständen nicht in Übereinstimmung wären. Nun, ich möchte Herrn Jung sagen, daß es gar nicht um diese Frage geht, sondern .es geht um die Frage, ob eine wirkliche, eine echte Bedrohung da ist und ob unser Bündnis und ob unsere Bundeswehr in der Lage ist, einer solchen Bedrohung wirksam zu begegnen. Und wenn er schon uns, die wir das immer wieder vorgetragen haben, nicht Glauben schenken will,- dann möchte ich den ebenso besonnenen wie prominenten wie erfahrenen amerikanischen Senator Jackson zitieren, der vor wenigen Wochen in Brüssel bei der NATO-Parlamentarierversammlung an die Parlamentarier der Brüsseler Konferenz gerichtet hinsichtlich der Sowjetunion folgendes gesagt hat:
Die Sowjetunion ist ein gefährlicher und unberechenbarer Gegner, und wir wissen leider nicht, ob sie, die Prag überfiel, nicht auch militärische Gewalt anwenden wird, um Zielsetzun-
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gen an anderen Fronten zu erreichen, wenn sie glaubt, dies ohne unübersehbare Risiken tun zu können.
Er führte weiter aus:
Es besteht ständig die Möglichkeit, daß Moskau versuchen wird, die Einheit im Warschauer Pakt wiederherzustellen, indem es eine höchst ernst zu nehmende Krise um Berlin und die Bundesrepublik Deutschland heraufbeschwört. Deshalb müssen wir die Bereitschaft unserer Eingriffsverbände und Reserven an der zentralen Front unseres Bündnisses verstärken. Aber wir sollten nicht nur intensiv an die. zentrale Front denken, sondern ebenso an die lebenswichtigen Flanken unseres Bündnisses.
Soweit der amerikanische Senator Jackson. Ich habe dem nichts hinzuzufügen, außer dem Kollegen Jung und seinen Freunden zu empfehlen, einmal über diese sehr wirklichkeitsnahe Betrachtungsweise eines unserer Verbündeten nachzudenken.
Meine Damen und Herren, am Schluß eines Berichtes, den ich die Ehre hatte der NATO-Parlamentarierkonferenz zu überreichen, habe ich festgestellt, daß die Aufgabe einer reformerischen Neubelebung unseres Bündnisses zur gleichen Zeit auf der Tagesordnung steht, in der bei uns und in unseren Mitgliedstaaten eine neue Generation stürmisch an die Verantwortung drängt. Diese neue Generation von 1969 sieht viele Probleme und sehr viele Ereignisse anders als wir, anders als wir es mit unserem politischen Wollen haben beeinflussen können. Sie sieht die Ereignisse der Jahre 1948, 1953 und 1956 anders als wir, und sie haben auch einige andere politische Gesprächsthemen, so insbesondere Vietnam, Athen, Prag und Jerusalem. Diese Jugend, diese junge Generation weiß also — ich möchte das hier ausdrücklich unterstreichen —, daß sie eines Tages in die Verantwortung treten wird und daß sie Antworten finden muß, auch wenn diese Antworten vielleicht anders sind als die unseren, die wir heute geben und geben können.
Meine Damen und Herren, vor wenigen Wochen wurde in den Vereinigten Staaten ein neuer Präsiden gewählt. Wenn er nun im Januar sein Amt als Führer der stärksten westlichen Macht antritt, wird er seine Politik auch und gerade an der Frage der gemeinsamen Verantwortung der Europäer im nordatlantischen Bündnis für die Zukunft des Bündnisses orientieren müssen. 20 Jahre nach der Grundsteinlegung für ein neues Europa, an der die Vereinigten Staaten von Amerika immerhin maßgeblich beteiligt waren, hat der amerikanische Präsident nach meiner Auffassung ein unbestreitbares Recht darauf, daß seine Partner in der Allianz endlich mit einer Stimme antworten.
Senator Jackson, den ich soeben zitiert habe, hat in Brüssel in seiner Rede auch zu diesem Thema etwas gesagt, was ich ganz kurz zitieren möchte. Er sagte:
Es gibt wenig Meinungsverschiedenheiten in
Amerika über den Wert der atlantischen Allianz, die Wichtigkeit und Festigkeit der Verpflichtung der Vereinigten Staaten zur gemeinsamen Verantwortung in der Nordatlantischen Gemeinschaft. Jedoch sehen ich
— Senator Jackson —
und andere meiner Kollegen uns im USA-Kongreß vor sehr schwierigen Situationen, wenn wir uns für die Aufrechterhaltung der effektiven Präsenz und Stärke der Vereinigten Staaten und ihrer Streitkräfte in Europa einsetzen. Das liegt
— wie er fortfuhr —
sehr stark an der öffentlichen Meinung in meinem Lande, die eben glaubt, daß die Europäer es mit der Sicherheit ihrer Heimat weniger ernst nehmen als wir Amerikaner.
Meine Damen und Herren, es ist deshalb höchste Zeit, daß Europa aus dem Dunstschleier kleinlicher und kleinmütiger gegenseitiger Leistungsaufrechnungen heraustritt ans Licht seiner eigentlichen politischen Zukunftsaufgaben.
Zu diesen Zukunftsaufgaben gehört ein gewisses Mindestmaß an nachbarlicher Solidarität. Ich erinnere da nicht nur an das, was der Außenminister hier am Freitag gesagt hat, nämlich an den Verlauf der jüngsten Sitzung des Zehnerklubs, sondern auch an die Solidarität, die in den kommenden Monaten von uns und allen Europäern bewiesen werden muß, wenn sich die krisenhaften Zustände fortsetzen sollten. Zum anderen gehört dazu auch die entschlossene Förderung der politischen Konföderierung Europas durch praktische Maßnahmen, etwa die Errichtung gemeinsamer Arbeitsgruppen mit begrenzten, aber genau umschriebenen Zielen. Um den Zusammenschluß dieser europäischen Kräfte zu bewerkstelligen, brauchen wir keine spektakulären Institutionen — darüber bin ich mit der Regierung völlig einig —, zumindest keine so spektakuläre Institution, wie sie bisher das Vetorecht der nationalen Bürokratien darstellte. Es braucht vielmehr eine möglichst große Zahl kurzfristig zu verwirklichender praktischer Ziele, damit die Vorstellung eines europäischen Zusammenschlusses nicht immer wieder mit bequemen Ausflüchten vertagt werden kann.
Herr Bundesaußenminister, ich glaube, Sie ebenso wie der Verteidigungsminister haben in etwa das gesagt, was ich jetzt ausführen möchte, nämlich daß der europäische Pfeiler der NATO genausoviel wert ist, wie er tut, und nicht soviel, wie er in grauer Zukunft einmal zu sein hofft. Denn wenn wir uns allein mit den vagen Hoffnungen begnügen, werden wir hier alle eines Morgens als atlantische Provinz der Sowjetunion aufwachen.
Lassen Sie mich einen abschließenden Gedanken vortragen. Ich habe in Brüssel vorgeschlagen — und ich hoffe, daß die Bundesregierung diese Frage sehr eingehend prüft —, im Rahmen des Verteidigungsbündnisses ein neues europäisches Rüstungs-, Beschaffungs- und Verteidigungsamt zu schaffen, das von Anfang an auf einer garantierten, sich ständig erweiternden, autonom zu verwaltenden finanziellen Basis stehen sollte und damit von
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vornherein eine qualitative europäische Sicherheitspolitik garantieren kann. Ich greife hier den Gedanken auf, der in der Debatte schon beim Kollegen Lenze angeklungen ist. Ich glaube, daß wir nur so über den Vetomechanismus der nationalen Interessenlagen hinwegkommen können und daß wir auf diese Weise zu dem Akt der politischen Selbstbehauptung und Handlungsbereitschaft, die unser Europa und unser Bündnis braucht, gelangen können.
Die politischen Kulissen der sowjetischen Offensive reichen vom Nordatlantik bis zum Indischen Ozean, von der Adria bis zur Sahara. Gerade die jüngst von einigen Kollegen unternommene Reise in den Nahen Osten hat uns wiederum gezeigt, wie sehr im Nahen und Mittleren Osten eine explosive Situation im Entstehen begriffen ist — wenn sie nicht schon entstanden ist —, die die Gefahr einer direkten Konfrontation der Großmächte größer macht, als das in Südostasien der Fall ist. Dieser Tatsache sollten vor allem diejenigen Politiker und Staatsmänner eingedenk sein, die das Engagement des amerikanischen Bündnispartners in Vietnam bedauern und die Politik der Blockbildung durch die Sowjetunion beklagt haben, ihr eigenes Verhalten aber stets nur an der Haltung der Großmächte orientiert haben. Die europäische und die deutsche Politik muß statt dessen bereit sein, jederzeit und an jedem Ort für das Gleichgewicht und den Frieden tätig zu werden. Zu dieser Tätigkeit gehört auch die Verpflichtung zur politischen Mündigkeit. Wer die Rolle des Weltpolizisten für die Großmächte ablehnt, muß selbst gleichwertige und effektive Verantwortung zu übernehmen bereit sein, um glaubhaft zu sein.
Ein geistreicher, notabene ein französischer Militär- und Politwissenschaftler hat jüngst geschrieben, daß der uralte Dialog zwischen zwei Taubstummen, nämlich den militärischen und den politischen Betrachtungen dieser Problematik, Gefahr läuft, überlagert zu werden von einer neuen Stimme, nämlich von der wirtschaftlichen Stimme. Ich hoffe nur, daß die Bundesregierung, nachdem der Herr Bundesaußenminister uns, das Hohe Haus, am Schluß seiner Ausführungen aufgefordert hat, initiativ zu werden, die Bemühungen der Regierung zu unterstützen und neue Wege zu zeigen, in der Lage sein wird, uns eine Zusammenschau der politischen, militärischen und wirtschaftlichen Notwendigkeiten für unser Volk bereitzustellen.