Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Herren Kollegen Zimmermann und Berkhan haben in ihren Darlegungen einiges über den Zuwachs an sowjetischen militärischen Kräften in Mitteleuropa und über die daraus folgende günstigere Ausgangslage der sowjetischen Truppen gesagt. Ich beschränke mich darauf, darzustellen, daß uns seit einigen Monaten nicht nur militärisch zähl- und wägbare neue Tatsachen vor Augen treten, sondern daß es auch einige neue Theorien und Doktrinen gibt.
ln diesem Jahr sind drei wesentliche neue Elemente in die Diskussion eingeführt worden: erstens die Behauptung, daß die sogenannten FeindstaatenKlauseln der UN-Charta nach wie vor gegenüber der Bundesrepublik anwendbar seien, zweitens die Feststellung, daß sozialistische Staaten nur über eine beschränkte Souveränität in bestimmten Phasen ihrer Entwicklung verfügen könnten, und drittens die Behauptung, daß eine militärische Auseinandersetzung zwischen den beiden Teilen Deutschlands nicht als Bruderkrieg, sondern als angewandter Klassenkampf und als „nationaler Befreiungskrieg" definiert werden könne. Diese Doktrin ist in Ostberlin unter dem Firmenschild „Militärdoktrin der DDR" vor kurzem entwickelt worden. Erlauben Sie mir einige Bemerkungen hierzu.
Zum ersten Teil. Über die Feindstaatenklausel ist hier in diesem Hause sehr oft gesprochen worden, und wir haben mit Befriedigung die Versicherung unserer Alliierten entgegengenommen, daß sie diese Artikel für ebenso obsolet, d. h. nicht mehr anwendbar, halten wie wir selbst. Mir scheint aber, daß die Hinweise der Sowjets auf das Weitergelten dieser Artikel im Zusammenhang mit neu entwickelten theoretischen Grundlagen der sowjetischen Außen- und Militärpolitik für uns doch wieder eine bestimmte Bedeutung erlangen. Man kann davon ausgehen, daß Moskau wohl glaubt, es habe hier eine Handhabe, um unser eigenes Land ähnlich wie seine osteuropäischen Satelliten in einen Zustand beschränkter Souveränität zu drängen.
Zum zweiten. Die Feststellungen der Parteizeitung der KPdSU, „Prawda", daß die Normen des Völkerrechts zweitrangig seien gegenüber dem dominierenden Problem des Klassenkampfes, ist an sich nicht neu. Die sowjetische Völkerrechtslehre — man kann dies in allen Einzelheiten etwa in den Werken von Boris Meißner nachlesen — hat immer die Beziehungen zwischen den Völkern auch als Ausfluß weltweit angewandter Klassenkampftheorien verstanden. Aber die besondere Betonung dieser totalitären Denkmethodik in der gegenwärtigen Phase und ihre Einführung in die konkrete Politik müssen uns aufmerksam und hellhörig machen.
Es kommt hinzu, daß die Sowjetunion ,sozialistischen Staaten nur eine beschränkte Souveränität, also ein eingeschränktes Selbstbestimmungsrecht, zugesteht. Der Satz, daß die Souveränität sozialistischer Staaten ihre Grenze dort finde, wo die Interessen des sozialistischen Weltlagers berührt seien,
10862 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 201. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. Dezember 1968
Dr. Marx
ist höchst dubios. Man muß natürlich fragen: wer definiert eigentlich die Interessen des sozialistischen Weltlagers? Nach den bisherigen Erfahrungen derjenige, der die entscheidende Macht hat: die Sowjetunion. Wer definiert, wann diese Interessen berührt werden? Die gleiche Antwort: wiederum die Sowjetunion. Das heißt mit anderen Worten, daß die Sowjetunion ihre Interessen mit denjenigen des gesamten Lagers identifiziert. Oder noch deutlicher gesagt, ihre Interessen dominieren die Interessen aller anderen. Hiermit ist eine moderne Theorie für eine ausgreifende imperiale Weltmacht geschaffen, die, wie die am Ende der letzten Woche zu Ende gegangene Konferenz der Militärminister in Bukarest offenbar beweist, die politischen und militärischen Instrumente ihrer Partner ganz auf ihr eigenes Bedürfnis zuordnet.
Lassen Sie mich noch einige Bemerkungen zur dritten Theorie machen. Sie ist im „Neuen Deutschland" am Samstag vor acht Tagen erschienen. Da die sowjetisch besetzte Zone als „DDR" in der außenpolitischen Konzeption der sowjetischen Europapolitik eine Schlüsselfunktion einnimmt, muß die Theorie von einem eventuellen nationalen Befreiungskrieg in Deutschland ernst genommen und auch in den zuständigen Gremien der westlichen Verteidigungsorganisation ins Kalkül mit einbezogen werden. Zwar gehen alle diese Fiktionen, alle diese Überlegungen von der Behauptung aus, daß die Bundeswehr einen „Blitzkrieg gegen die DDR" vorbereite, daß eine imperialistisch konzipierte Revanchearmee .die Zone überrennen wolle. Jedermann von uns weiß, daß solche Annahmen zum ständig wiederkehrenden Ritual kommunistischer Begründungen gehören. Man wird in diesem Zusammenhang aber auch nicht vergessen dürfen, daß z. B. der Überfall auf die CSSR von der falschen Behauptung ausging, dort sei eine Konterrevolution im Gange.
Die neue Theorie Ulbrichts und altbekannte Denkmodelle vom gerechten Krieg werden hier auf die spezifische innerdeutsche Situation angewendet. Man kann diese Überlegungen nicht, wie es hin und wieder auch in der beschreibenden Presse geschieht, als theoretische Glasperlenspiele weltfremder Theoretiker abtun. Denn die Hinweise auf den Text einiger Freundschafts- und Beistandsverträge, die Ost-Berlin mit der Sowjetunion und anderen osteuropäischen Staaten abgeschlossen hat, zeigen, daß man sich durch die dort fixierten 'Maximen legitimiert glaubt, Zwangsmaßnahmen gegen das freie Deutschland — jetzt zitiere ich — „nicht erst im Falle eines bewaffneten Angriffs, sondern schon im Falle der Wiederaufnahme 'der Angriffspolitik zu ergreifen". Dieses Zitat entnehme ich einem für den ganzen Sachzusammenhang höchst interessanten Artikel in der November-Ausgabe der Ostberliner Zeitschrift „Neue Justiz".
Was die Theorie der beschränkten Souveränität sozialistischer Staaten anlangt, so können wir, meine. verehrten Damen und Herren, wenn wir uns die jüngsten Ereignisse noch einmal vor Augen führen, einige ganz konkrete Beispiele finden. Das erste Beispiel: Die Theorie der beschränkten Souveränität wurde gegenüber der CSSR bei dem Angriff, dem sie ausgesetzt war, selbst angewendet.
Sie wurde aber auch gegenüber anderen Staaten des Warschauer Paktes angewendet und wurde beim Einmarsch selbst praktiziert. Es ist uns, meine Damen und Herren, bis zum heutigen Tage kein Dokument bekanntgeworden, aus dem man entnehmen könnte, daß etwa der Beschluß, die Nationale Volksarmee, oder der Beschluß, Teile der polnischen, der ungarischen und der bulgarischen Armee in die Tschechoslowakei zu schicken, von irgendeinem verantwortlichen Gremium der genannten Länder gefaßt worden wäre. Es wird schon stimmen, daß der Beschluß in einer Sitzung des sogenannten erweiterten Politbüros der KPdSU gefallen ist und daß er den verantwortlichen Stellen in den anderen Ländern auf dem Wege einer Weisung, der man kurzfristig zu folgen habe, zugeleitet worden ist.
Am 16. Oktober dieses Jahres wurde eine Reihe bilateraler Verhandlungen zwischen den führenden Persönlichkeiten der CSSR und der Sowjetunion abgeschlossen und im Prager Hradschin ein Abkommen über den Abzug und über die Stationierung sowjetischer Truppen in der CSSR unterzeichnet. Ich muß Ihre Aufmerksamkeit auf dieses Abkommen, das man richtiger als ein Diktat bezeichnen würde, lenken, weil nämlich im Art. 1 davon die Rede ist, daß der sowjetische Ministerpräsident auch für die anderen Okkupationsländer handele. Auch in diesem Falle ist uns weder von irgendeinem Zentralkomitee noch von irgendeiner Volkskammersitzung noch von irgendeinem Kabinettsbeschluß eines der angeführten Länder etwas bekannt, daß dort Beschlüsse gefaßt worden sind, die der Sowjetunion den Auftrag, auch im Namen dieser Länder zu handeln, hätten zumessen können.
Nun, meine Damen und Herren, diese ganzen Vorgänge haben erneut — und ich glaube, drastisch — deutlich gemacht, welcher Charakter dem Warschauer Pakt innewohnt. Der Warschauer Pakt ist nicht ein Bündnis, das man etwa mit der NATO vergleichen kann. Ich sage das deshalb, weil in den letzten Jahren eine ganze Reihe von unzulässigen Vergleichen dieser Art gezogen worden sind
und weil es eine sehr leichtfertige Formulierung gibt, die den Warschauer Pakt als eine „Ost-NATO" bezeichnen möchte. Im Warschauer Pakt gibt es keine NATO-ähnliche Integration, es gibt keine Rücksicht auf die spezifischen Interessen der einzelnen Partner. Man kann es zusammenfassend sagen, der Warschauer Pakt ist — und dies, scheint mir, hat auch die jüngste Konferenz in Bukarest deutlich gemacht — der verlängerte Arm des sowjetischen Generalstabs in dem der Sowjetunion vorgelagerten Feld nach Mitteleuropa hin.
Die Armeen der nichtsowjetischen anderen sozialistischen Länder verstehen ihre Funktion auf Grund dieser Definition nur in engstem Zusammenhang mit der Funktion der sowjetischen Armee selbst.
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Sie sind durch die einheitliche Bewaffnung und Ausrüstung, durch die gleichen Normen der logistischen Einrichtungen, durch das politische Kontrollsystem und durch die Ausbildung ihrer führenden Offiziere vollständig von dem, was in der Sowjetunion beschlossen wird, und von dem, was mit der sowjetischen Armee durchgeführt wird, abhängig.
Natürlich muß man sich dies alles heute wieder vor Augen führen, um zu verstehen, wie sehr in der Vergangenheit diejenigen an Inhalt und Bedeutung dieses Paktes vorbeiargumentiert haben, die glaubten, es sei möglich, zwischen der NATO auf der einen Seite und dem Warschauer Pakt auf der anderen ein Bündnis einzugehen.
Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, noch hinzufügen, daß wir etwa seit dem Einmarsch in die Tschechoslowakei festgestellt haben, daß eine ganze Reihe von Versuchen — bemerkbar zuerst im Jahre 1955 —, ein gewisses polyzentrisches System herzustellen oder gewisse eigenständige Interpretationen sozialistischer Gesellschaftswirklichkeiten herbeizuführen, durch den Einmarsch in Frage gestellt worden ist. Die Okkupation der Tschechoslowakei signalisierte die Absicht der Sowjets, das Rad der Geschichte zurückzudrehen und an die Stelle der lebensnäheren Differenzierung die alte erzwungene Einheitlichkeit zu setzen. Die Art und Weise, wie die Sowjets die Prager Reformer zwingen, den mit ihrem Namen verbundenen Nach-Novotny-Kurs Stück um Stück zu korrigieren und durch gewisse Elemente eines neostalinistischen Systems zu ersetzen, zeigt die Verhärtungen einer schon seit Jahren beobachteten sowjetischen Position.
Wir sind heute Zeugen des Versuchs, das sozialistische Lager wieder in einen Ostblock zurückzuformen. Das Entsetzen über diese reaktionäre Grundstimmung in der sowjetischen Politik hat nicht nur den Westen und nicht nur etwa die Völker anderer Staaten wie etwa die Jugoslawen und die Völker der dritten Welt, sondern viele Menschen in den Staaten Osteuropas selbst ergriffen. Wir erleben im Augenblick den Versuch einer immer stärkeren Amalgamierung der staatlichen, gesellschaftlichen, juristischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in den Bereichen Ostmitteleuropas nach dem Beispiel der Sowjetunion selbst. Wir erleben zur gleichen Zeit den Versuch, wieder eine immer stärker werdende Isolierung des von der Sowjetunion geführten Lagers herbeizuführen, z. B. dadurch, daß etwa seit Anfang September nahezu alle fremdsprachlichen Sendungen deutscher Rundfunkanstalten, vor allem im Russischen, Bulgarischen, Slowakischen, Tschechischen und im Polnischen, wieder durch eine Fülle von Störsendern in diesen Ländern unhörbar gemacht werden sollen.
Meine Damen und Herren, darf ich noch eine Bemerkung machen. Die Jugoslawen, die ein besonders feines Ohr für die Veränderungen in der sowjetisch beherrschten Welt Ostmittel- und Südosteuropas haben, haben auf ihre Weise auf Theorie und Praxis der neuen sowjetischen Politik reagiert. Die Führer des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens sind in den Gedankenbahnen des Marxismus-Leninismus zu Hause, und sie haben ein unvergleichlich
höheres Maß an Informationen aus der dritten Welt und aus der westlichen Welt, als dies an anderen Stellen des Ostens der Fall ist. Man fürchtet dort nicht nur die Eskaladierung der makedonischen und albanischen Frage auf Grund gewisser Unruhen, die sich im Lande selbst in den letzten Tagen gezeigt haben; eine steigende Unruhe herrscht auch wegen des Einsickerns der sowjetischen 3. Eskadra in das Mittelmeer.
Ich glaube, meine Damen und Herren, daß, wenn wir hier in diesem Hause und in diesen Wochen vor schwierigen Entscheidungen stehen, die mit der Entwicklung unserer Außenpolitik und unserer Verteidigungspolitik zusammenhängen, wir unseren Blick ebenfalls schärfen sollten. Wir sollten sehen, daß sich der europäische Kontinent heute einer neuen Konfrontation und Herausforderung gegenübersieht, daß sich nicht nur auf dem Balkan und im Mittelmeer, nicht nur in Mitteleuropa, sondern — der Kollege Zimmermann hat darauf hingewiesen — auch in der Ostsee und am Nordkap eine neue Entwicklung, nämlich der Versuch, eine hegemoniale Herrschaft über das restliche Europa zu errichten, herausbildet.
Ich schließe mit einem Satz, den ich einem führenden jugoslawischen Politiker zu verdanken habe. Auf die Frage: Wie würden Sie sich in der inneren Gestaltung Ihrer staatlichen Organisation und in Ihrer Verteidigungsfähigkeit gegenüber dem, was sich in Osteuropa entwickelt, einstellen?, hat er geantwortet: „Wir werden uns so verhalten, als ob der Friede für 100 Jahre gesichert wäre; wir werden uns so verhalten, als ob morgen die Auseinandersetzung begänne." Ich denke, daß wir, die wir Entscheidungen schwieriger Art zu fällen haben, auch vor der Frage stehen, ob wir beide Teile dieses Satzes für uns und unsere Politik lebendig machen sollen.