Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die erste Lesung des Entwurfs eines „Städtebauförderungsgesetzes" im Bundestag ist die erste große Städtebaudebatte, die in diesem Hohen Hause stattfindet. Und das, obwohl doch die Erneuerung und Entwicklung unserer Städte und Gemeinden uns alle unmittelbar angeht und uns alle täglich betrifft.
Ohne Zweifel sind gerade in der Bundesrepublik in den vergangenen zwei Jahrzehnten nach der Währungsreform auf baulichem Gebiet so außergewöhnliche Leistungen zu verzeichnen, daß man sie nicht genug rühmen kann, Leistungen, die auch im Ausland oft mit Bewunderung und in größtem Umfang anerkannt worden sind. Mit den mehr als 10 Millionen Wohnungen, die in dieser Zeit entstanden sind, konnte nicht nur der normale Zuwachs der Bevölkerung im wesentlichen versorgt werden, sondern es ist uns darüber hinaus gelungen, die Millionen von Flüchtlingen, die aus dem Osten in die Bundesrepublik eingewandert sind, unterzubringen, und die enormen Kriegszerstörungen zu beseitigen. Wir können nur immer wieder allen danken, die an diesen großen Leistungen mitgewirkt haben, und ihnen unseren Dank und unsere besondere Anerkennung aussprechen.
Und doch kann man trotz dieser gigantischen Aufbauleistungen der letzten zwanzig Jahre gelegentlich auch Kritik hören: Bei dem Wiederaufbau sei versäumt worden, die zukünftige Entwicklung unserer Gesellschaft in stärkerem Maße planvoll zu berücksichtigen, wir hätten nicht genug Nerven und nicht genug Intelligenz aufgewandt, die Weichen für eine nur scheinbar undurchsichtige Zukunft richtig zu stellen, und es wäre keineswegs notwendig gewesen, die schon seit Jahrzehnten kritisierten planerischen Fehler zu wiederholen.
Sicherlich ist eine so scharfe Kritik, meine Damen und Herren, nicht berechtigt; denn es steht wohl fest, daß niemand die stürmische Entwicklung der letzten zwanzig Jahre voraussehen konnte. Gewisse Fehlentwicklungen waren deshalb wohl unvermeidlich. Fest steht aber auch, wie mir scheint, daß durch intensive Planungen und die Möglichkeiten, diese Planungen zügiger zu verwirklichen, mancher Fehler hätte vermieden werden können. Der Wiederaufbau unserer Städte nach dem Kriege war deshalb — ich wiederhole: so imponierend diese Leistungen auch sein mögen — im Prinzip in erster Linie mehr ein Wiederaufbau als ein Städtebau.
Es ist jedoch wenig sinnvoll, Fehlleistungen der Vergangenheit zu beklagen und Unterlassungen nachtrauern zu wollen. Wichtig scheint mir zu sein, zu erkennen, daß wir uns jetzt in einer neuen, einer zweiten Phase des Baugeschehens befinden. Worauf es heute ankommt, ist doch dies:
Wir müssen alles tun, den Wohnungsbau viel mehr als bisher in die Gesamtproblematik des Städtebaues zu integrieren und die interdisziplinäre Komplexität des Städtebaues besser zu begreifen und nutzbar zu machen, damit nicht in zwei Jahrzehnten wieder rückblickend gesagt werden kann, wir hätten nicht vorausschauend genug gehandelt und wir hätten nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft, die zukünftige Entwicklung unserer Städte und Gemeinden so zu lenken, daß wir selbst und die nach uns kommende Generation darin menschenwürdig leben könnten.
Die Verwirklichung dieser Ziele ist nicht nur eine kommunalpolitische Aufgabe, wie man vielleicht aus der Bezeichnung des Gesetzes „Städtebauförderungsgesetz" ableiten könnte. Im Gegenteil, hier stellt sich eine der großen gesellschafts- und strukturpolitischen Aufgaben der Zukunft, die von den Ländern und Gemeinden allein nicht wahrgenommen werden kann, bei der vielmehr auch der Bund aufgerufen ist, durch Koordination seiner wirtschafts- und strukturpolitischen sowie gesellschaftspolitischen Maßnahmen auf Bundesebene aus seiner bundesstaatlichen Verantwortung heraus mitzuwirken.
Als eines der wichtigsten Hilfsmittel zur Lösung dieser Aufgabe wird von der politischen und fachlichen Öffentlichkeit in immer stärkerem Maße und fast einhellig eine gesetzliche Regelung der vielschichtigen Probleme des Städtebaues und der Gemeindeentwicklung gefordert. Warum wird diese Forderung so nachdrücklich erhoben? Warum befaßt sich die Öffentlichkeit in einer solchen Intensität mit diesen Fragen? Und wie ist überhaupt die Situation, die solche Probleme aufwirft? Wenn man die politische und hier vor allem die gesellschaftspolitische Situation im städtebaulichen Bereich untersuchen und darlegen will, wird man — wie mir scheint — von drei Feststellungen ausgehen müssen.
10830 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 201. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. Dezember 1968
Bundesminister Dr. Lauritzen
Erstens. Es gibt kaum Gemeinden und Städte, in denen nicht Gebiete mehr oder minder großen Umfanges in ihrer Bausubstanz hoffnungslos veraltet sind. Die Wohnverhältnisse in diesen Gebieten sind menschenunwürdig, die Lebens- und Arbeitsbedingungen sind rückständig und für die Menschen eine schwere Belastung. In diesen Gebieten besteht die Notwendigkeit einer Sanierung in des Wortes ureigenster Bedeutung. Zwar handelt es sich bei diesen Stadt- und Gemeindebereichen mit verfallenen Gebäuden und überalteter Bausubstanz keineswegs um reine Slumgebiete. Dennoch sind als Folge der beiden Kriege, der wirtschaftlichen Krisen, der Wohnraumbewirtschaftung, der Mietpreisbindung usw. Gebiete übriggeblieben, die den allgemeinen Anforderungen an gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse und an die Sicherheit der dort wohnenden und arbeitenden Menschen einfach nicht mehr entsprechen.
Auf der anderen Seite aber stehen heute insbesondere im Bereich früher stark zerstörter Stadtzentren und ehemaliger Altstadtwohngebiete neben mängelbehafteten überalterten Bauten ganz moderne Wohnungen, die allen Anforderungen unserer Zeit gerecht werden. Gerade dieser Kontrast ist aus gesellschaftspolitischen Gründen unerträglich. Das harte Nebeneinander von alt und neu muß einer organischen und harmonischen städtebaulichen Entwicklung zugeführt werden.
Neben diesen Mängeln in ihrer Bausubstanz zeigen viele Städte und Gemeinden Mängel in ihren urbanen Funktionen. Ganze Teile unserer Städte und zahlreiche Dörfer sind nicht mehr den Aufgaben gewachsen, die ihnen innerhalb des gemeindlichen Organismus oder der größeren Region zukommen. Ich weise hin auf die Zentren vieler Städte, die ihre Leistungsfunktion als Mittelpunkt des städtischen Lebens kaum noch erfüllen können. Ich weise hin auf Stadtgebiete, die mit störendem Gewerbe durchsetzt sind und ihrer Wohnfunktion nicht mehr genügen. Wir alle kennen Stadtstrukturen, deren uferloses Auseinanderfließen anscheinend auf keine Weise aufzuhalten ist. Wir alle kennen Innenstädte, die vom Individualverkehr erstickt werden, auszusterben beginnen und ihre Funktionen an Randgebiete der Städte abgeben. Wir kennen das wachsende Mißverhältnis zwischen Anspruch und Erfüllung des Bedarfs an Schulen, Krankenhäusern, Erholungs- und Grünflächen, Kinderspielplätzen usw. Ich erinnere an die quantitativ und qualitativ unzureichende Ausstattung mit Einrichtungen der Infrastruktur wie Verkehrsnetz, Wasserversorgung, Abwasserbeseitigung, Energieversorgung. Ich erinnere Sie in diesem Zusammenhang insbesondere an die unerträglichen Verkehrsverhältnisse in unseren Städten mit den täglichen Zeitverlusten durch Stauungen, erhöhten Unfallgefahren und übermäßigen Lärmbelästigungen. Ich erinnere Sie an die uns bedrohenden Gefahren aus der Verunreinigung der Luft und des Wassers. Wir alle kennen die Häufung von Arbeitsplätzen auf engem Raum, die ungeregelte Umwandlung älterer Wohngebiete in Kerngebiete, die ungesunde Mischung von Wohn-und Betriebsstätten mit ihren negativen physischen
wie psychischen Auswirkungen auf die Menschen,
die in solchen Gebieten leben und arbeiten müssen.
Sicherlich sind diese Erscheinungen nicht von heute auf morgen aufgetreten. Es wird auch niemandem ein Versagen vorgeworfen werden können. Diese Erscheinungen sind eine zwangsläufige Folge der technischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung, der sich unsere Städte nicht immer in dem gebotenen Maße und mit der gebotenen Schnelligkeit anpassen konnten. Diese Mängel treten jedoch heute mit so erschreckender Häufigkeit zutage und werden zunehmend derart als Belastung und Herausforderung empfunden, daß sie dringend der Beseitigung bedürfen. Auf beiden Gebieten, der Verbesserung der Bausubstanz und der Beseitigung städtischer Funktionsschwächen, ist also schon jetzt ein großer Nachholbedarf auszugleichen.
In dieser Situation — und das ist die dritte Feststellung — werden neue Strukturwandlungen sichtbar. Sie haben gleichfalls in der Vergangenheit begonnen, setzen sich heute aber immer rascher fort und bringen neuartige städtebauliche Aufgaben und Probleme mit sich. Wir leben in einer Zeit, die als „zweite industrielle Revolution" bezeichnet wird. In den letzten Jahren haben die wissenschaftlichen Erkenntnisse so schnell zugenommen, und die darauf beruhende technische Entwicklung ist so schnell in die Tat umgesetzt worden, wie das noch vor einem Jahrzehnt vielleicht niemand geglaubt hätte. Es deutet doch alles darauf hin, daß sich diese Entwicklung in der Zukunft eher noch verstärken als verlangsamen wird, und zwar in einem Maße, daß die Auswirkungen uns heute noch als utopisch erscheinen mögen. Lassen Sie mich dies, meine Damen und Herren, durch einige wichtige Hinweise verdeutlichen.
Die technische und zivilisatorische Entwicklung führt zum Arbeitsteilungsprozeß und zu zunehmender Automation. Dadurch ist die räumliche Expansion bestehender und die Gründung zahlreicher neuer Produktionsstätten notwendig. Das alles führt zu einem steigenden Bedarf an Flächen von Industrie und Gewerbe, der an den bisherigen Standorten innerhalb der Städte nicht mehr befriedigt werden kann. Viele Betriebe werden daher gezwungen, in den Randgebieten der Verdichtungsräume oder in noch weiterer Entfernung in ländlichen Gebieten neue Standorte zu suchen. Daneben ist eine zunehmende Bevölkerungsbewegung aus den ländlichen Gebieten in die städtischen Räume zu beobachten. Diese Abwanderungstendenz wird sich mit Sicherheit noch fortsetzen und führt zu einem weiteren starken Anwachsen der Einwohnerzahlen in den Stadtregionen.
Diese Strukturveränderungen sind weiterhin gekennzeichnet durch eine ständige erhebliche Zunahme der Zahlen der Arbeitskräfte im Dienstleistungsbereich, d. h. in der öffentlichen und privaten Verwaltung, bei Banken, Versicherungen usw. Dienstleistungsbetriebe suchen und finden ihre Standorte vorwiegend in den Städten und innerhalb der Städte in den Stadtkernen. Ihr Flächenbedarf ist oft nur noch dadurch zu befriedigen, daß sie auf angrenzende, d. h. citynahe Wohnbezirke ausweisen.
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Dort fügen sie sich nicht organisch ein und verändern deshalb insgesamt deren Funktion.
Neben den Wanderungsbewegungen aus den schwach strukturierten Gebieten in die Verdichtungsräume und neben der Bevölkerungsverschiebung innerhalb der Verdichtungsräume selbst gibt es auch eine sogenannte kleinräumige Wanderungsbewegung auf dem Lande, nämlich von dem kleinen Dorf in die zentralen Orte, insbesondere in die Klein- und Mittelstädte. Die Statistik zeigt, daß neben den Randzonen der Großstädte gerade diese zentralen Orte den größten Einwohnerzuwachs zu verzeichnen haben.
Ihre Infrastruktur muß den veränderten Bedürfnissen angepaßt werden und dabei — ganz anders als bisher — den gesamten regionalen Einzugsbereich berücksichtigen. Zusammen mit der Tatsache, daß gerade in den ländlichen Gemeinden oft der Wohnungsbestand überaltert ist, zentrale Wasserversorgungsanlagen und Anlagen für die zentrale Beseitigung von Schmutzwasser usw., aber auch weiterführende Schulen, andere Bildungsstätten, Sportplätze, Krankenhäuser und sonstige Einrichtungen des Gemeinbedarfs fehlen, stellen diese Veränderungen ein hohes Maß an Anforderungen an den modernen Städtebau im ländlichen Bereich.
Meine Damen und Herren! Darüber hinaus führt die wirtschaftliche, soziale und technische Entwicklung unverkennbar auch zu einer Steigerung der individuellen Ansprüche der Bevölkerung. Mit dem steigenden Einkommen ist die Zunahme der Motorisierung eng gekoppelt. Schon heute hat die Massenfabrikation von Individualverkehrsmitteln Ausmaße erreicht, die das Bild unserer Gemeinden verändert und zu völlig neuartigen Zeit-, Entfernungs- und Flächenmaßstäben geführt haben. Für die Zukunft ist sicherlich mit einer weiteren beträchtlichen Steigerung der Motorisierung zu rechnen. Auch dadurch werden die Lebensverhältnisse der Bevölkerung wesentlich verändert. Der Bedarf an öffentlichen Verkehrsflächen vervielfacht sich.
Andererseits steigt mit zunehmender Freizeit das Verlangen nach zahlreicheren und größeren Freizeit- und Erholungseinrichtungen. Der steigende Lebensstandard hat aber auch steigende Ansprüche an Art und Umfang der sonstigen gemeindlichen Grundausstattung zur Folge, denn das persönliche Leben des einzelnen wird wesentlich durch das Vorhandenseins und Funktionieren von Gemeinschaftseinrichtungen wie z. B. fortbildenden Schulen, kulturellen Einrichtungen, Krankenhäusern, Sport-und Spielplätzen usw. bestimmt. Erst in einem ausgewogenen Verhältnis dieser Einrichtungen mit den Wohn- und Arbeitsstätten erreichen die Gemeinden den Gemeinschaftswert, den unsere Bevölkerung erwarten kann und benötigt.
Übersehen wir dabei vor allem auch nicht, meine Damen und Herren, daß sich die Bevölkerungsstruktur wandeln wird! Die Zahl der Menschen wird ständig steigen. Durch die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft und die bessere Gesundheitsvorsorge wächst die Lebenserwartung der Menschen. Mit der Zunahme der Gesamtzahl ändert sich
auch der altersmäßige Aufbau. Schätzungen gehen dahin, daß schon bald mehr Einwohner im Rentenalter stehen werden. Aber auch die Zahl der Jugendlichen und Kinder wird kräftig steigen. Diese Bevölkerung wird vornehmlich in Städten, Stadtregionen und zentralen Orten wohnen. Denn Sachverständige nehmen an, daß bereits im Jahre 1985 drei Viertel unserer Bevölkerung in diesen eben genannten Bereichen leben werden. Der Städtebau der Zukunft wird auch dem entscheidend Rechnung tragen müssen.
Das alles aber, meine Damen und Herren, bedeutet doch folgendes. In unseren Gemeinden haben die vielerorts anzutreffenden Unzulänglichkeiten ihre Ursachen in der immer stärker werdenden Diskrepanz zwischen der technischen und wirtschaftlichen, biologischen und sozialen Entwicklung und den überkommenen baulichen Strukturen in Städten und Gemeinden, Strukturen, die einstmals unter völlig anderen Bedingungen ihren Sinn und ihre Bedeutung gehabt haben mögen, die jedoch mit den Aufgaben der Gegenwart und erst recht mit denen der Zukunft kaum noch in Einklang zu bringen sind. Das gilt für städtische und ländliche Gemeinden in gleicher Weise. Während in der Vergangenheit Stadt und Land deutlich gegeneinander abgegrenzt waren, ja, als Gegensätze galten, gleichen sich heute die Lebensformen im ländlichen Bereich zunehmend denen im städtischen Bereich an, und diese Entwicklung wird sich sicherlich noch fortsetzen.
Meine Damen und Herren, diese Entwicklungstendenzen sind nicht etwa durch eine Besonderheit der wirtschaftlichen, soziologischen oder politischen Struktur der Bundesrepublik bedingt. Diese Probleme, die aus dem sich mit zunehmender Beschleunigung vollziehenden wirtschaftlichen und soziologischen Strukturwandel und der fortschreitenden Industrialisierung und Technisierung erwachsen, stellen sich überall in der Welt, z. B. auch in England, in Schweden, in den Niederlanden und in Amerika. Überall werden deswegen enorme Anstrengungen unternommen, um mit den städtebaulichen Auswirkungen fertig zu werden.
Es verdient, wie mir scheint, hervorgehoben zu werden, daß Präsident Johnson zuletzt am 17. Februar dieses Jahres in seiner Botschaft über die Lage der Nation auf die wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Bedeutung städtebaulicher Erneuerungsmaßnahmen hingewiesen hat. Er ersuchte den Kongreß, eine Milliarde Dollar für ein „Modellstädtebauprogramm zur Neugestaltung der Zentren amerikanischer Städte" bereitzustellen. Vergessen wir es nicht: eine Milliarde Dollar! Im April dieses Jahres gründete er in Washington ein besonderes Institut für Städtebau mit dem Auftrag, die wissenschaftlichen Unterlagen für die „Erneuerung des Lebens in den Städten Amerikas" zu schaffen. Meine Damen und Herren, wenn ich mir demgegenüber den mehr als bescheidenen Ansatz in meinem eigenen Haushaltsplan ansehe, möchte ich fast vor Neid erblassen.
Jetzt geht es darum, die festgestellten Unzulänglichkeiten zu beseitigen und Voraussetzungen für die zukünftige Entwicklung zu schaffen. Es geht
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darum, unsere Gemeinden diesen tiefgreifenden und noch immer fortschreitenden Strukturwandlungen anzupassen. Wir müssen die Voraussetzungen schaffen, daß sich alle für die Gesellschaft förderlichen sozialen und wirtschaftlichen Kräfte frei entfalten können. Die Bewältigung dieser städtebaulichen Probleme ist darum eine gesellschaftspolitische und eine wirtschaftspolitische Aufgabe ersten Ranges. Sie ist uns aus der Entwicklung der Zeit heraus gestellt und muß erfüllt werden, wenn nicht wesentliche Schäden für unsere gesamte Gesellschaft eintreten sollen. Es liegt darum nicht mehr in unserem Belieben, zu entscheiden, ob wir diese Aufgabe anpacken wollen oder nicht. Die Verhältnisse zwingen uns einfach dazu.
Die Stadt- und Dorferneuerung ist ihrem Wesen nach unmittelbar angewandte Gesellschaftspolitik unserer Zeit. Bei allen Erneuerungsmaßnahmen größeren und kleineren Umfangs geht es aber um mehr als um die Beseitigung baulicher Mißstände. Es geht um mehr als um das Abreißen überalterter Bausubstanzen, mehr als um ästhetische und technische Ordnungsvorstellungen. Mit der Vorbereitung und Durchführung städtebaulicher Erneuerungsmaßnahmen werden Entscheidungen getroffen, von denen es abhängt, in welcher Umwelt wir selbst und unsere zukünftigen Generationen leben werden. Denn, meine Damen und Herren, der Charakter einer Stadt und ihre Anpassung an den Wandel der Lebens-und Umweltbedingungen lassen erkennen, welche Vorstellungen eine Gesellschaft vom Wert des Menschen und von der richtigen Ordnung der menschlichen Gesellschaft hat.
Meine Damen und Herren, der gesellschaftspolitische Aspekt städtebaulicher Erneuerungs- und Entwicklungsmaßnahmen ist so weit gefächert, daß er sich nur schwer gegen andere Gesichtspunkte abgrenzen läßt, die dabei aber nicht übersehen werden dürfen. Ich meine die wirtschafts- und strukturpolitischen Gesichtspunkte. Letzten Endes müssen auch deren Zielvorstellungen im Zusammenhang mit einer zeitgemäßen Gesellschaftspolitik stehen. Gerade bei der Förderung städtebaulicher Entwicklungs- und Sanierungsmaßnahmen geht es nämlich vor allem um die langfristigen Perspektiven der Wachstums- und Strukturpolitik. Eine vorausschauende Wachstumspolitik ist uns seit gut einem Jahr gesetzlich zur Pflicht gemacht. Aus der unmittelbaren Erfahrung zuerst der konjunkturellen Überhitzung und dann der Rezession ist die doppelte Zielsetzung des Stabilitätsgesetzes, nämlich Stabilität und Wirtschaftswachstum zu sichern, deutlich geworden.
Daran schließt sich die Frage an: Was können städtebauliche Erneuerungs- und Entwicklungsmaßnahmen beitragen, um dieses Ziel verwirklichen zu helfen? Aus der Erfahrung wissen wir, daß sich der Wohnungsbau auf Grund seiner Schlüsselposition innerhalb der Bauwirtschaft als wirksamer Stabilisierungsfaktor erwiesen hat. Nun ist in den nächsten Jahren jedoch mit einem allmählichen Rückgang des Wohnungsneubauvolumens zu rechnen. Es geht unter anderem darum, den dadurch bedingten Auftragsrückgang auf andere Weise aufzufangen. Die
Bundesregierung hat deswegen schon in ihrer Projektion der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung bis zum Jahre 1971 zum Ausdruck gebracht, daß der Rückgang im Wohnungsneubauvolumen durch städtebauliche Sanierungsmaßnahmen und höhere Infrastrukturinvestitionen aufgefangen werden müsse. Die Höhe und die regionale Verteilung der notwendigen Investitionen im Städtebau werden dabei die gesamtwirtschaftliche Entwicklung nachhaltig beeinflussen. Sanierungsmaßnahmen sollen und können daher den Rückgang des Wohnungsbaus bisheriger Prägung weitgehend kompensieren.
Meine Damen und Herren, dabei möchte ich allerdings gleich dem Einwand begegnen, daß der Städtebau als Mittel der Wirtschaftspolitik ungeeignet sei, da er eine zu lange Vorbereitungsphase erfordere. Selbstverständlich erfordern neue Projekte eine lange Vorbereitungszeit, aber gerade der Ihnen vorliegende Gesetzentwurf ermöglicht es, so viele Projekte vorzubereiten, sie gewissermaßen in Reserve zu halten, daß neue Investitionen schnell möglich sein werden. Andererseits können aber auch in Durchführung befindliche Maßnahmen jederzeit, wenn auch vorsichtig, gestreckt werden, wenn dies zur Dämpfung der Konjunkturüberhitzung notwendig ist. Der Städtebau ist also ebenso wie der Wohnungsbau durchaus ein geeignetes und wirkungsvolles Mittel der Wirtschaftspolitik.
Daneben dürfen wir aber auch die Bedeutung des Gesetzentwurfs auf dem Gebiete der Strukturpolitik nicht übersehen. Sie wissen, daß wir in der Bundesrepublik Gebiete haben, die aus unterschiedlichen Gründen in der wirtschaftlichen Entwicklung zurückgeblieben sind. Zum Teil handelt es sich um sogenannte Notstandsgebiete, zum Teil um Gebiete, die heute unter ihrer einseitigen Wirtschaftsstruktur zu leiden haben. Typische Gebiete sind einerseits weite Teile des Zonenrandgebiets, andererseits das Ruhr- und Saargebiet. Die Bundesregierung unternimmt zusammen mit den Länderregierungen erhebliche Anstrengungen zur Verbesserung der Wirtschaftsstruktur und der Infrastruktur in diesen Gebieten. Mit Recht wird in letzter Zeit auch auf die Notwendigkeit hingewiesen, in diesen Gebieten Kristallisationspunkte zu bilden, die nicht nur wegen ihrer wirtschaftlichen Aktivität, sondern auch wegen ihres Wohn- und Freizeitwertes eine Anziehungskraft ausüben. Ich meine, in dieser Richtung ist noch viel zu tun. Gerade im Zonenrandgebiet und in größeren Teilen des Ruhr- und Saargebietes bedarf die städtebauliche Struktur in besonderem Maße einer Anpassung an die heutigen Bedürfnisse und Vorstellungen. Zwar geschieht auch heute schon manches in Ergänzung der Maßnahmen zur Verbesserung der Wirtschaftsstruktur, aber der vorliegende Entwurf eines Städtebauförderungsgesetzes wird diese Bemühungen noch intensivieren und sie vorantreiben helfen.
Meine Damen und Herren, die in den letzten Jahren mit Demonstrativstudien und Modellvorhaben gewonnenen praktischen Erfahrungen haben zu der Erkenntnis geführt, daß die geltenden materiellrechtlichen und verfahrensrechtlichen Vorschriften zur Bewältigung dieser anstehenden städtebaulichen Aufgaben nicht ausreichen. Diese Vorstellung kann
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auch nicht durch den Hinweis entkräftet werden, daß die für den Städtebau in der Bundesrepublik maßgebenden bodenrechtlichen Vorschriften bereits im Bundesbaugesetz des Jahres 1960 enthalten seien. Dieses Gesetz beschränkt sich nach seiner Grundkonzeption darauf, einer organischen städtebaulichen Entwicklung der Gemeinden den planerischen Rahmen zu setzen. 'Den Rahmen auszufüllen, überläßt das Bundesbaugesetz grundsätzlich der privaten Initiative. Füllt aber die Privatinitiative diesen Rahmen nicht aus, so fehlen den Gemeinden ausreichende Handhaben, selbst tätig zu werden. Gerade bei Sanierungs- und Entwicklungsmaßnahmen kommt es aber ganz entscheidend darauf an, nicht nur zu planen, sondern den Plan auch alsbald in die Wirklichkeit umzusetzen. Es liegt daher im öffentlichen wie im privaten Interesse, daß die Planung auch vollzogen wird. Aus diesen Gründen müssen die rechtlichen Handhaben des Bundesbaugesetzes ergänzt und fortgebildet werden.
Daß der Wiederaufbau nach dem Kriege ohne diese besonderen rechtlichen Instrumentarien möglich war, spricht keineswegs gegen die Notwendigkeit des Gesetzentwurfs. Die Wiederaufbaumaßnahmen sind mit den in dem Entwurf angesprochenen Sanierungs- und Entwicklungsmaßnahmen nicht vergleichbar. Während es beim Wiederaufbau darum ging, zerstörte Gebäude wiederaufzurichten, wobei die überkommenen Strukturen des betreffenden Gebietes weitgehend erhalten blieben, sollen durch Sanierungsmaßnahmen bebaute Gebiete zur Beseitigung städtebaulicher Mißstände wesentlich verbessert, umgestaltet und in ihrer Funktion erneuert werden.
Für die speziellen Probleme, die sich bei den Entwicklungsmaßnahmen, also bei dem Bau neuer Ortschaften und neuer Ortsteile ergeben, bietet das Bundesbaugesetz überhaupt kein Instrumentarium an.
Lassen Sie mich nun, meine Damen und Herren, kurz auf die tragenden Gedanken des Gesetzentwurfs eingehen.
Die Regierungsvorlage ist auf folgenden drei Grundgedanken aufgebaut:
1. Bei der Anwendung des Gesetzes sind die Eigentümerbelange weitgehend zu berücksichtigen. Insbesondere ist Eigentum im Rahmen des Möglichen zu erhalten oder an anderer Stelle oder gegebenenfalls in anderer Rechtsform neu zu begründen.
2. Bei der Anwendung des Gesetzes soll niemand einen Schaden erleiden, aber auch niemand auf Kosten der Allgemeinheit einen ungerechtfertigten Gewinn erzielen.
3. Die materiellrechtlichen und verfahrensrechtlichen Handhaben sollen unter Berücksichtigung des besonderen Charakters der Sanierungs- und Entwicklungsmaßnahmen so ausgestaltet werden, daß sie im Interesse der Allgemeinheit und der Betroffenen die zügige Abwicklung derartiger Maßnahmen sicherstellen.
Zu 1. Um den besonderen Belangen der Eigentümer im Sanierungs- und Entwicklungsgebiet Rechnung zu tragen, ist in zahlreichen Vorschriften des Gesetzes festgelegt, daß die betroffenen Eigentümer, um sie zu einer Mitwirkung zu veranlassen, zu jeder Phase des Verfahrens eingehend über die beabsichtigten Maßnahmen und deren Notwendigkeit unterrichtet werden und sie dazu auch angehört werden. Auch die Durchführung der Sanierungsmaßnahmen selbst bleibt vorrangig den Eigentümern überlassen. Die Gemeinden werden verpflichtet, Initiativen der Eigentümer in jeder Hinsicht zu unterstützen. Bei Erneuerungsmaßnahmen wird sich zwar eine Inanspruchnahme der Grundstücke durch die öffentliche Hand vielfach nicht vermeiden lassen. Nach der Konzeption des Entwurfs soll indessen diese Inanspruchnahme abgesehen von den für öffentliche Zwecke benötigten Grundstücken nur eine Durchgangsstufe auf dem Wege darstellen, wiederum privates Eigen-turn zu begründen. Diese Durchgangsstufe ist allerdings notwendig, um die bei Sanierungs- und Entwicklungsmaßnahmen unentbehrliche Bodenordnung auch durchführen zu können.
Der gegen den Entwurf gelegentlich erhobene Vorwurf, er bezwecke eine Kommunalisierung oder gar Sozialisierung des Eigentums, ist absolut unzutreffend. Auf Grund zwingender Vorschriften des Entwurfs werden die Gemeinden und die Sanierungsträger verpflichtet, die von ihnen erworbenen Grundstücke wieder zu veräußern. Diese Veräußerungspflicht gilt sowohl für freihändig erworbene Grundstücke als auch für Grundstücke, die durch Ausübung des Vorkaufsrechts, des Grunderwerbsrechts oder durch Enteignung in das Eigentum der Gemeinde oder des Sanierungsträgers gelangt sind.
Der zweite Grundgedanke, daß niemand aus der Sanierung einen Schaden erleiden soll, aber auch niemand ungerechtfertigte Gewinne erzielen darf, wird durch eine Reihe sorgfältig aufeinander abgestimmter Vorschriften verwirklicht. Allen diesen Regelungen liegt die Überlegung zugrunde, daß durch die von der Gemeinde veranlaßte, von ihr geleitete tatsächliche und rechtliche Neuordnung im Sanierungsgebiet eine beträchtliche Wertsteigerung der Grundstücke gegenüber den Verhältnissen vor Beginn der Sanierung eintritt.
Die Kosten der Ordnungsmaßnahme müssen von der Sache her grundsätzlich der öffentlichen Hand angelastet werden. Andererseits dienen aber die nachhaltige Verbesserung des strukturellen Gefüges im Sanierungsgebiet und die nachhaltige Sicherung seiner Funktionsfähigkeit zugleich auch dem wirtschaftlichen Interesse der Eigentümer. Ohne die Aktivität der Gemeinde müßten sie zusehen, wie ihr Eigentum langsam wirtschaftlich verfällt. Unter Würdigung und in Abwägung der beiderseitigen Interessen ist es daher gerechtfertigt, die Eigentümer mit der Werterhöhung ihrer Grundstücke zu den Kosten der Ordnungsmaßnahmen heranzuziehen. Der Zweck dieser gesetzlichen Regelung besteht also darin, die Werterhöhung der Grundstücke zur Dekkung der dabei anfallenden unrentierlichen Kosten mit in Anspruch zu nehmen.
Diese gesetzliche Regelung bezweckt demnach keineswegs eine Gewinnabschöpfung im Sinne frü-
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herer insbesondere bodenreformerischer Vorstellungen. Die auf diesem Grundgedanken beruhenden Vorschriften des Entwurfs berühren ein zentrales Problem für die Durchführbarkeit städtebaulicher Sanierungsmaßnahmen überhaupt. Die Bewältigung dieses Problems ist aber nicht nur für unsere spezifischen Verhältnisse von Bedeutung, sondern stellt sich auch in anderen Ländern wie z. B. in den USA und in den Ländern Westeuropas. Sie hat dort ihren Niederschlag in gesetzgeberischen Maßnahmen gefunden, die zum Teil weit über das hinausgehen, was in dem Ihnen vorliegenden Gesetzentwurf vorgeschlagen wird.
So kennt z. B. Belgien das Rechtsinstitut der Enteignung zur Realisierung einer Bebauungsplanung und ebenso die Zonenenteignung. Planungsgewinne sollen dort bei der Enteignungsentschädigung nicht berücksichtigt werden. Ebensowenig werden allgemeine Wertsteigerungen der zu enteignenden Grundstücke berücksichtigt. Bei einer sukzessiven Enteignung wird die Entschädigungshöhe für sämtliche Zonenparzellen auf die Höhe der erstgezahlten Entschädigung fixiert. Das belgische Recht unterwirft darüber hinaus Veräußerungsgewinne bei im wesentlichen unbebauten Grundstücken einer Bodenwertzuwachssteuer. Ähnliche Regelungen finden wir im dänischen, im französischen, im niederländischen und im englischen Recht. Um eine genaue Übersicht über das europäische Sanierungsrecht zu erhalten, habe ich eine Untersuchung in Auftrag gegeben, die ich in Kürze der Öffentlichkeit vorlegen möchte.
Mit dem dritten Grundgedanken, eine zügige Durchführung der Maßnahmen sicherzustellen, wird einmal das Anliegen verfolgt, Belastungen für die Betroffenen möglichst schnell wieder zu beseitigen, um eine rentable Grundstücksausnutzung zu ermöglichen und im Interesse aller Beteiligten die Kosten zu verringern. Diesem Ziel dienen z. B. die Einführung eines Abbruch- und Baugebots, eines gemeindlichen Grunderwerbsrechts und die zeitliche Abkürzung des Enteignungsverfahrens. Zum anderen soll das gemeindliche Vorkaufsrecht, um eine wesentliche Entlastung des Rechtsverkehrs zu erreichen, durch den Entwurf seiner dinglichen Wirkung entkleidet werden. Durch die Zusammenfassung der nach geltendem Recht bestehenden Genehmigungspflichten und durch Verzicht auf entbehrliche Genehmigungstatbestände soll eine wesentliche Vereinfachung und Liberalisierung der behördlichen Kontrollen erreicht werden.
Ich darf wohl sagen, daß wir alle, die wir an diesem Gesetzentwurf gearbeitet haben — und darunter verstehe ich auch die fachliche und politische Öffentlichkeit, die uns mit ihren Vorschlägen und auch mit ihrer Kritik in unserer Arbeit wesentlich unterstützt hat —, uns die Arbeit nicht leicht gemacht haben. Wir haben uns redlich bemüht, bei jeder Vorschrift sehr sorgfältig die sachliche Notwendigkeit zu prüfen und die Interessen der Beteiligten gerecht gegeneinander abzuwägen. Schon an der Erarbeitung der Vorlage haben in meinem Hause verschiedene Gremien mitgewirkt, deren Vorschläge veröffentlicht und allen interessierten Verbänden zugeleitet worden sind. Es ist uns eine Fülle von Anregungen zugegangen. Im wesentlichen beschränken sich die Vorschläge auf die Ausgestaltung der Gesetzesvorschriften. Die Notwendigkeit des Gesetzes wurde überwiegend ebenso eindeutig bejaht wie seine grundsätzliche Zielsetzung. Die Zahl der kritischen Stimmen ist relativ klein. Sie behaupten, das Gesetz sei unnötig, da das Bundesbaugesetz zur Durchführung städtebaulicher Maßnahmen ausreiche.
Ich bin auf diese Fragen bereits eingegangen. Die Notwendigkeit des Gesetzes ergibt sich — wie dargelegt — aus der ganz unterschiedlichen Aufgabenstellung. Die Kritik, meine Damen und Herren, wendet sich insbesondere gegen die Vorschrift des § 15 des Entwurfs, der die Nichtberücksichtigung von Werterhöhungen regelt. Auf die grundsätzliche Bedeutung habe ich schon hingewiesen. Soweit gegen die Fassung der Vorlage der Vorwurf mangelnder Bestimmtheit erhoben wird, sollte im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens versucht werden, vielleicht eine konkretere Fassung zu finden, die einerseits die vom Grundgesetz geforderte gerechte Interessenabwägung zum Ausdruck bringt, damit vor allem soziale Härten vermieden werden, und andererseits die Entscheidung über die Höhe der Entschädigung nicht den Gerichten aufbürdet.
Im übrigen, meine Damen und Herren, ist die hier vorgelegte Gesetzesvorschrift keineswegs völlig neu. Auch das Flurbereinigungsgesetz enthält eine Vorschrift, die die Berücksichtigung von Wertsteigerungen ausschließt, die durch die Aussicht auf Durchführung einer Flurbereinigung etwa entstanden sind.
Bei den Einwendungen gegen den § 16 der Vorlage über genehmigungspflichtige Vorhaben und Rechtsvorgänge wird einfach übersehen, daß die Vorschrift lediglich verschiedene Genehmigungspflichten des Bundesbaugesetzes unter Verzicht auf entbehrliche Genehmigungstatbestände zusammenfaßt. Anders als im Bundesbaugesetz wird nur vorgesehen, daß die Genehmigung auch bei überhöhten Preisforderungen zu versagen ist. Diese Regelung steht allerdings in engem Zusammenhang mit dem § 15 des Entwurfs. Sie soll sicherstellen, daß Werterhöhungen im rechtsgeschäftlichen Verkehr nicht vorweggenommen werden. Sie ist zudem, meine Damen und Herren, örtlich auf förmlichfestgelegte Entwicklungs- und Sanierungsgebiete und zeitlich bis zur Aufhebung der Sanierung begrenzt. In unserer Marktwirtschaft mag eine derartige Kontrolle einigen als systemwidrig erscheinen. Sie ist aber unter den derzeitigen Bodenmarktverhältnissen unerläßlich, wenn wir nicht die Sanierungs- und Entwicklungsmaßnahmen gefährden oder gar unmöglich machen oder sie mit hohen Kosten belasten wollen. Die Prüfung von Kaufverträgen unter Einbeziehung der Höhe des vereinbarten Kaufpreises ist im übrigen dem geltenden Recht keineswegs fremd. Im weiten Bereich des landwirtschaftlichen Grundstücksverkehrs gilt seit eh und je eine solche Regelung, und sie ist auch durchaus mit dem Grundgesetz vereinbar, wie das Bundesverfassungsgericht in seinen Urteilen ausdrücklich festgestellt hat.
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Nun, meine Damen und Herren, von besonderer Bedeutung ist natürlich die Frage der finanziellen Beteiligung des Bundes an den Sanierungs- und Entwicklungsmaßnahmen. Ich meine, die hier aufgezeigte Aufgabe ist so groß, daß Gemeinden und Länder sie allein nicht verwirklichen können. Eine finanzielle Mithilfe des Bundes ist daher unerläßlich. Wenn es richtig ist, daß die Erneuerung und Entwicklung unserer Gemeinden eine der großen gesellschaftspolitischen Aufgaben der nächsten Jahrzehnte sein wird, dann kann die Inangriffnahme und Durchführung dieser Aufgabe nicht von der Finanzkraft der jeweiligen Gemeinde und des Landes abhängig sein. Die Lösung dieser Aufgabe muß vielmehr überall gewährleistet sein, wo Menschen wohnen, und der Bund, der für die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse zu sorgen hat, muß dann dabei finanziell mithelfen.
Die verfassungsrechtliche Grundlage für diese Mitfinanzierungskompetenz des Bundes soll durch das Finanzreformgesetz geschaffen werden, das gegenwärtig in diesem Hohen Hause beraten wird. Ursprünglich beabsichtigte die Bundesregierung, den Wohnungs- und Städtebau in den Katalog der Gemeinschaftsaufgaben aufzunehmen. Dies hätte eine 50%ige Kostenbeteiligung des Bundes zur Folge gehabt. Dieser Gedanke ist im Laufe der Besprechungen und Beratungen aufgegeben worden, da diese Beratungen zu einer starken Einschränkung der Liste der Gemeinschaftsaufgaben geführt haben.
Nunmehr ist die Einfügung eines Art. 104 a in das Grundgesetz vorgesehen, der dem Bund die Gewährung von Finanzhilfen zur Förderung städtebaulicher Maßnahmen ermöglichen soll. Mag auch die endgültige Fassung dieses neuen Artikels noch nicht feststehen, bei allen Erörterungen ist jedoch immer wieder zum Ausdruck gebracht worden, daß diese neue Grundgesetzvorschrift den Wohnungsbau sowie die Erneuerung und die Entwicklung der Gemeinden mitumfassen soll. Das Städtebauförderungsgesetz wird dann eines der ersten Ausführungsgesetze zu diesem Art. 104 a des Grundgesetzes sein. Bund und Länder werden dann im Rahmen der mittelfristigen Finanzplanung in dem Umfang Mittel einsetzen müssen, wie es die jeweilige finanzielle Situation zuläßt.
Welche Maßnahmen damit finanziert werden können, wird nach der Dringlichkeit zu entscheiden sein. Deshalb enthält das Gesetz auch hierüber keine detaillierten Angaben, sondern überweist die Regelung der Einzelheiten einer Verwaltungsvereinbarung, die naturgemäß mit allen Ländern einheitlich abgeschlossen werden muß. Da es sich um die Finanzierung sehr unterschiedlicher Maßnahmen wie Strukturanalysen, Planungsaufträge, Bodenordnungsmaßnahmen, den Bau von Wohnungen und Verkehrseinrichtungen usw. handelt, entzieht sich die Regelung der finanziellen Einzelfragen weitgehend einer gesetzlichen Normierung. Es handelt sich auch hier vielmehr um ein Problem der politischen Koordination.
Dabei soll nicht verkannt werden, daß sich die im Entwurf angesprochenen städtebaulichen Erneue-rungs- und Entwicklungsmaßnahmen über längere Zeiträume erstrecken werden und die Langfristigkeit der Vorbereitung, Planung und Durchführung dieser Maßnahmen zugleich einen langfristigen Mittelbedarf bedingt, der nur im Rahmen mehrjähriger Programme und unter Berücksichtigung der gesamtwirtschaftlichen und regionalwirtschaftlichen Notwendigkeit sichergestellt werden kann,. aber wegen der Kontinuität der Aufgabe in absehbarer Zeit den Einsatz bestimmter feststehender Mittel erfordert. In diesem Zusammenhang möchte ich als sicher annehmen, daß sich unter Berücksichtigung der finanziellen Möglichkeiten des Bundes in der Zukunft auch die Städtebauförderung in die langfristigen Haushaltsüberlegungen im Rahmen der mittelfristigen Finanzplanung einordnen läßt.
Alle diese Überlegungen, meine Damen und Herren, waren für die Ihnen vorliegende Fassung des § 69 des Entwurfs ausschlaggebend.
Bei der Erörterung der Finanzierungsprobleme tauchen nun immer wieder zwei Fragen auf: Wie groß ist der Erneuerungsbedarf, und wie hoch werden die Kosten für die Erneuerungsmaßnahmen sein? Beide Fragen lassen sich, um das vorweg zu sagen, zur Stunde praktisch nicht beantworten. Es scheint mir aber auch nicht notwendig zu sein. Über den Sanierungsbedarf gibt es bereits Material, aus dem grobe Annäherungswerte abgeleitet werden können. Ein tieferes Eindringen in die Problematik der Ermittlung des Sanierungsbedarfs führt jedoch zu der Einsicht, daß der Aussagewert jeder Globalschätzung zwangsläufig begrenzt ist und begrenzt bleiben muß. Wir können aber davon ausgehen, daß sich in der Zeit, in der wir uns in der Wohnungspolitik auf die Beseitigung der größten Wohnungsnot konzentrieren mußten, ein städtebauliches Defizit aufgestaut hat. Über die Größe dieses Defizits werden uns die Ergebnisse der im Oktober dieses Jahres durchgeführten Wohnungszählung wesentliche Unterlagen vermitteln.
Auch über den notwendigen Kostenaufwand ist in der letzten Zeit viel spekuliert worden. Ich halte solche Spekulationen für gefährlich und für die weitere Beratung des Gesetzentwurfs auch nicht förderlich. Es' scheint mir auch nicht notwendig zu sein, den Kostenaufwand in seiner Gesamthöhe exakt zu ermitteln. Denn als wir nach dem Kriege mit der öffentlichen Förderung des Wohnungsbaues begannen, hat sich niemand die Frage gestellt, welchen Gesamtbetrag wir damit letzten Endes aufbringen müßten. Dasselbe gilt für jede andere langfristige Daueraufgabe. Nach unseren Erfahrungen aus den Studien- und Modellvorhaben werden sich die unrentierlichen Kosten von Sanierungsmaßnahmen — und nur an diesen unrentierlichen Kosten wird sich der Bund zu beteiligen haben — zwischen 20 und 30 % der Gesamtkosten einer Sanierungsmaßnahme bewegen. Wenn Sie weiter bedenken, daß der Bund von diesen Kosten jeweils nur einen Teil übernimmt, dann werden Sie zu dem Ergebnis kommen, daß sich die auf den Bund zukommenden Gesamtkosten in einer Größenordnung halten werden, die nach meiner Auffassung auch verkraftet werden kann.
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Bundesminister Dr. Lauritzen
Darüber hinaus wird durch die im Entwurf vorgesehene Inanspruchnahme der Bodenwerterhöhungen sichergestellt, daß sich die unrentierlichen Kosten der Sanierungsmaßnahmen noch weiter verringern werden. Es wäre in jedem Falle aber gut, wenn man aus der vorsichtigen Prognose, die städtebaulichen Erneuerungs- und Entwicklungsmaßnahmen würden sicherlich nicht teurer sein als der Wohnungsbau der Vergangenheit, nicht sofort den bedenklichen Umkehrschluß zöge, diese Maßnahmen kosteten mindestens genauso viel wie der Wohnungsbau der Vergangenheit.
Im übrigen müssen die Kosten auch nicht auf einmal aufgebracht werden. Wir haben mit Sicherheit eine Aufgabe vor uns, die Jahrzehnte in Anspruch nehmen wird, und niemand mag dem Bundesratsausschuß für Wiederaufbau und Wohnungswesen widersprechen, wenn er die Städtebauförderung als eine permanente Zukunftsaufgabe bezeichnet hat.
Meine Damen und Herren, diese Aufgabe ist nicht nur sehr schwierig und wird erhebliche finanzielle Mittel erfordern, sie wird auch auf Jahrzehnte hinaus große Anstrengungen notwendig machen.
Das Ihnen im Entwurf vorliegende Gesetz kann und soll dabei nicht mehr und nicht weniger sein als ein Hilfsmittel, ein notwendiges Instrument. Wie dieses Instrument funktioniert, ob es wirksam sein wird, die Verantwortung dafür wird vor allem bei den Gemeinden liegen und bei allen, die bei uns in den Gemeinden, in den Ländern und im Bund für die städtebaulichen Aufgaben verantwortlich sind. Es sind vor allem die Gemeinden, die auf dieses Gesetz warten. Viele Pläne liegen in den Schubladen, können aber nicht realisiert werden. Es gibt bisher nur wenige Stadterneuerungsmaßnahmen, die in Angriff genommen werden konnten, und auch diese nur unter Schwierigkeiten, Verzögerungen und erheblichen Kosten, eben weil es an dem notwendigen Instrumentarium fehlte.
Der Gesetzentwurf soll die Voraussetzungen schaffen für eine planvolle Erneuerung und Entwicklung unserer Gemeinden. Über die Notwendigkeit und den Sinn des Gesetzes schreibt der Baseler Nationalökonom Professor Salin, der den Vorsitz in dem bei meinem Ministerium gebildeten Arbeitskreis für Stadtentwicklung hat:
Es wird unerläßlich sein, der Bevölkerung als Ganzer deutlich zu machen, daß mit dem hier vorgelegten Gesetz ihr ein Programm unterbreitet wird, das für die eigene Zukunft und für die Zukunft ihrer Kinder von ganz entscheidender Bedeutung sein kann, wenn an ein menschenwürdiges Leben gedacht wird und ein menschenwürdiges Leben durch den Bau der Stadt gefördert werden soll.
Hier wird sichtbar, daß es um eine fundamentale innen- und gesellschaftspolitische Aufgabe der nächsten Jahrzehnte geht.
In seiner Botschaft an den Kongreß über den Wohnungs- und Städtebau hat Präsident Kennedy im März 1961 es einmal — wie mir scheint, sehr zutreffend — so formuliert:
Die bisherigen Stadterneuerungspläne waren zu eng begrenzt, um den Grundproblemen der alten Städte wirklich gerecht zu werden. Es genügt nicht, wenn wir uns nur mit den den heutigen Anforderungen entsprechenden Wohnungen befassen; wir müssen unsere Städte umgestalten, damit sie das Nervenzentrum sich ausbreitender Stadtgebiete werden. Unsere Bemühungen um die Stadterneuerung müssen über Sanierungsmaßnahmen und Maßnahmen zur Verhütung einer Neuentstehung von Elendsvierteln hinaus dem positiven Moment einer wirtschaftlichen und sozialen Regeneration zugewandt sein.
Hinter diesen weitreichenden Zielen, hinter diesen weitgesteckten Erwartungen steht die Erkenntnis, daß unsere Städte und Gemeinden Katalysatoren fast aller Lebensvorgänge sind, Kristallisationspunkte unserer Kultur und unserer Zivilisation. Kein Dogma kann uns helfen, diese Problem zu lösen, sondern nur klare Erkenntnisse und realitätsgerechtes Handeln und, meine Damen und Herren, schnelles Handeln!
Ich weiß, daß dem Hohen Hause ein große Bürde auferlegt wird, wenn dieser Gesetzentwurf in den noch verbleibenden Arbeitsmonaten dieser Wahlperiode beraten und verabschiedet werden soll. Ich meine allerdings auch, daß überzeugende Arbeit bis zum Schluß die beste Präsentation für die Wahlen ist, und glaube, daß das die Wähler merken und honorieren werden.
Die Notwendigkeit des Gesetzentwurfs hoffe ich überzeugend dargelegt zu haben. Daß es möglich sein wird, ihn bei ernsthaftem politischen Willen und bei Anstrengung aller Kräfte noch in dieser Wahlperiode zu verabschieden, ist meine Überzeugung, meine Hoffnung, aber auch mein Appell an das Hohe Haus. Die Probleme, um die es geht, stehen seit Jahren zur Diskussion. Aller Sachverstand ist aufgeboten, alles Sachwissen ist aufbereitet. Die Diskussion städtebaulicher Probleme in der Öffentlichkeit hat bei uns noch nie eine solche Breite gehabt wie in den letzten Monaten; die Forderungen nach einem solchen Gesetz und die Aufnahmebereitschaft dafür waren noch nie so offenkundig wie gerade jetzt. Daran, meine ich, ändern auch nichts die uneinsichtigen Gegenstimmen und gelegentlichen Verzerrungen einiger Kritiker.
Meine Damen und Herren! Die Entwicklung unserer Städte hat seit Beginn des Industriezeitalters immer etwas Düsteres an sich gehabt. Nichts spiegelt dies besser wider als nun schon klassische Formulierungen wie das gespenstische „Im Dickicht der Städte", der Titel eines Stücks von Bert Brecht anfangs der 20er Jahre, das unfreundliche Signal Mitscherlichs von der „Unwirtlichkeit unserer Städte" oder das Wort von der großen Landzerstörung, das aus dem Deutschen Werkbund kommt. Sprachliches — so scheint mir — wird hier zum Symptom für unbewältigte Probleme. Und in der Tat: die Industriegesellschaft hat es bisher nicht
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fertiggebracht, die durch die Industrialisierung entstandenen Probleme des Städtebaus zu lösen.
Von dem britischen Geschichtsphilosophen Toynbee stammt das Wort, daß Kultur entsteht, wenn der Mensch herausgefordert wird und er dann auf die Fragen der Zeit eine Antwort findet. Die Zukunft unserer Städte und Gemeinden, der Wohnstätten und der Umwelt unserer Menschen ist für uns eine solche Herausforderung. Sie stellt uns Fragen, wie mir scheint: sehr schwerwiegende Fragen. Der Gesetzentwurf, den ich die Ehre habe namens der Bundesregierung dem Hohen Hause vorzulegen, will auf einen Teil dieser Fragen eine Antwort geben. Ich darf das Hohe Haus bitten, diesen Entwurf, der mir sehr dringlich zu sein scheint, noch in dieser Legislaturperiode zu verabschieden.