Rede von
Dr.
Hans
Dichgans
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Änderungen des Grundgesetzes haben inzwischen das Tempo von zwei im Monat erreicht. Angesichts der Vorschläge, die noch in den Ausschüssen liegen, werden wir das Tempo im nächsten Jahr noch beschleunigen müssen. Ich frage mich, wie solche Serien von Grundgesetzänderungen, die die Änderungen zur Routine werden lassen, auf die Dauer auf das Ansehen des Grundgesetzes, das Ansehen der politischen Führung wirken müssen.
Wir haben es erreicht, daß zur Zeit in der Bundesrepublik kaum jemand mehr im Besitz der geltenden Fassung des Grundgesetzes ist. Die Grundgesetztexte, die wir an die Schüler verschenken, sind sämtlich falsche Texte.
Wir sollten uns ernstlich überlegen, ob wir nicht diese isolierten Änderungen durch eine organische Reform des Grundgesetzes ersetzen müssen, oder, wenn das nicht zu erreichen ist, ob wir uns nicht wenigstens vornehmen sollten, das Grundgesetz in jeder Legislaturperiode nur einmal zusammenfassend und aufeinander abgestimmt zu ändern.
Die zweite Überlegung: Wenn ich richtig unterrichtet bin, hat die Zahl der Verfassungsbeschwerden inzwischen etwa 1800 im Jahr erreicht. Diese Zahl wächst weiter. Das Gesetz, das wir heute verabschieden, übt eine psychologische Wirkung in diesem Sinne aus. Es scheint sich so zu entwickeln, daß große Anwälte es heute ihrer Reputation und ihren Klienten schuldig zu sein glauben, an jeden großen Prozeß auch eine Verfassungsbeschwerde anzuhängen.
Meine Damen und Herren, ist das zweckmäßig? Der jetzige Zustand hat bereits zu einer unerträglichen Überlastung und Verzögerung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geführt. Viele von Ihnen kennen den Fall der Stradivari-Geige, einen Fall, der seit mehr als zehn Jahren beim Bundesverfassungsgericht liegt. Der Kläger ist gestorben, der Anwalt ist gestorben, eine zweite Generation bearbeitet den Prozeß. Man fühlt sich an die Passagen von „Dichtung und Wahrheit" erinnert, in denen Goethe die Praxis des Reichskammergerichts in Wetzlar beschreibt. Meine Damen und Herren, dem müssen wir im Interesse des Ansehens unserer höchsten Gerichtsbarkeit begegnen.
Was kann geschehen? Wollen wir die Zahl der Richter erhöhen? Ich hielte dies für verkehrt. Wir haben heute schon 16 Bundesverfassungsrichter,
10820 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 201. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. Dezember 1968
Dichgans
während der amerikanische Supreme Court bei einer dreifach größeren Bevölkerung mit nur neun Richtern auskommt. Dabei hat der Supreme Court außer den Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts noch zahlreiche Aufgaben unseres Bundesgerichtshofs und auch des Bundesverwaltungsgerichts. Natürlich ist die amerikanische Gerichtsverfassung anders als die deutsche. Aber in dem Auftrag, Hüter der Verfassung zu sein, sind die Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts genau die gleichen wie die des Supreme Court. Auch wir sollten uns überlegen, ob wir nicht die Zahl der Bundesverfassungsrichter vermindern sollten. Die Tatsache, daß das Bundesverfassungsgericht in Senate aufgespalten ist, muß es notwendigerweise auch im Ansehen bei der Bevölkerung den übrigen obersten Bundesgerichten mit Senatsverfassung annähern. Die Autorität des Bundesverfassungsgerichts würde sicher wesentlich wachsen, wenn alle seine Entscheidungen als Plenarentscheidungen getroffen würden.
Für das Gesetz, das wir heute hier verabschieden, bedeutet das folgendes: Die Zahl der Verfahren muß drastisch vermindert werden. Wir können dem Bundesverfassungsgericht nur raten, die Bestimmungen über die Annahme der Beschwerden — genaugenommen sind es Bestimmungen über die Ablehnung der Beschwerden — sehr großzügig zu handhaben. Der Supreme Court macht das bekanntlich so, daß dort Beschwerden nur aufgenommen werden, wenn zwei Richter bereit sind, sie zu übernehmen. Wenn sich nicht zwei Richter finden, ist die Sache damit erledigt, ohne daß es einer Begründung bedarf. Auch unser Bundesverfassungsgericht sollte grundsätzlich auf Begründungen verzichten, die ja in der Sache wenig Bedeutung haben, weil die Entscheidungen unangreifbar sind.
Nur wenn es uns gelingt, die Zahl der Entscheidungen wesentlich zu reduzieren, werden wir dem Bundesverfassungsgericht die Autorität geben, die es braucht.
Die dritte Frage: Ist unser Glaube an die segensreichen politischen und juristischen Wirkungen einer möglichst ausgebreiteten Judikatur des Bundesverfassungsgerichts, möglichst vieler Verfassungsbeschwerden, nicht vielleicht ein Glaube, der eine beträchtliche Illusion enthält? Wird unsere Gesetzgebung dadurch besser, daß uns das Bundesverfassungsgericht ständig Belehrungen erteilt? Ich darf ein Beispiel erwähnen. Ich habe volles Verständnis dafür, daß das Bundesverfassungsgericht sich dazu äußern muß, ob eine Finanzierung der Parteien aus dem Bundeshaushalt zulässig ist oder nicht. Darauf beschränkt sich das Bundesverfassungsgericht aber nicht, sondern es belehrt uns, daß eine Teilfinanzierung zulässig ist, eine Finanzierung der Wahlkampfkosten ja, eine Finanzierung anderer Kosten nein. Ich will jetzt zu dieser Sache nichts sagen. Ich stelle hier nur die Frage: Woraus schließen Sie eigentlich, daß ein solches Sachproblem der Abgrenzung von acht Bundesverfassungsrichtern sachlich besser gelöst wird als
von 500 Abgeordneten, 20 Ministern und 10 000 Beamten?
Eine weitere Frage betrifft die politischen Emotionen. Unsere Vorstellung vom Bundesverfassungsgericht geht davon aus, daß wir das Volk gegen die unvernünftigen Emotionen der Politiker durch ein Gericht schützen müßten. Worauf gründen wir eigentlich diese Erwartung? Die Geschichte bestätigt sie nicht. Wir denken an die Judikatur der Weimarer Zeit, in der nicht wenige Richter ihrer Abneigung gegen die Republik in ihrer Rechtsprechung sehr klar Ausdruck gaben.
Die Behauptung, der Reichspräsident Ebert sei ein Landesverräter, kostete damals 50 RM Geldstrafe, und das Gericht schrieb in das Urteil hinein, er sei in der Tat ein Landesverräter. Ich will nicht auf die nationalsozialistische Zeit eingehen, in der wir ja auch einiges erlebt haben. Ich will nur die Frage stellen, wie voraussichtlich die Geschichtsschreibung in 30 Jahren die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beurteilen wird. Sind nicht vielleicht auch in dieser Rechtsprechung in dem einen oder anderen Falle politische Emotionen durchgeschlagen?
Ich stelle nur diese Frage, meine Damen und Herren, ohne sie zu beantworten.
Ich habe nichts gegen das Bundesverfassungsgericht. Ganz im Gegenteil, ich möchte es stärken. Aber es wäre gefährlich, wenn wir nicht erkennen würden, daß der Schutz der Demokratie nur in einem einzigen Gremium möglich ist, nämlich hier in diesem Hohen Hause.
Wenn es uns nicht gelänge, eine so gute Politik zu machen, daß die Wähler immer wieder einen demokratisch gesinnten Bundestag wählen, wenn die Wähler durch Emotionen so überspült würden, daß sie uns einen ganz anderen Bundestag lieferten, dann würde ich es für eine gefährliche Verkennung der Wirklichkeit halten, wenn wir glaubten, eine solche Entwicklung könnten wir mit acht Bundesverfassungsrichtern bekämpfen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich stimme dem Gesetz zu, weil es im Notstandspaket verabredet worden ist. Aber ich meine, wir sollten uns auch über die Gesamtproblematik einmal etwas eingehender unterhalten.