Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestern ist in der Debatte der Zusammenhang zwischen Sicherheitspolitik und allgemeiner Außenpolitik mehrfach angesprochen und, wie ich meine, angemessen gewürdigt worden. Das gilt auch für die Sicherheitspolitik mit ihren beiden Aspekten oder, wie gestern wieder gesagt wurde, die beiden Seiten der Medaille, nämlich die Fähigkeit zur Verteidigung und die Bereitschaft zur Abrüstung. Ich möchte gern in meinem Beitrag zur Debatte versuchen, zwei Fragen zu beantworten. Die erste Frage lautet: Was hat die Bundesregierung getan, um Vorschläge zur Rüstungskontrolle, zur Rüstungsminderung zu fördern? Und zweitens: Was tut sie, um einer europäischen Friedensordnung näherzukommen oder ihr den Weg zu ebnen?
In der Regierungserklärung vom Dezember vergangenen Jahres wurde, wie Sie sich erinnern werden, unsere gesamte Außenpolitik als konsequente und wirksame Friedenspolitik dargestellt, durch die wir mithelfen wollen, politische Spannungen zu beseitigen und das Wettrüsten einzudämmen. Wir haben in jener Regierungserklärung vom 13. Dezember vergangenen Jahres versprochen, wir würden an Vorschlägen zur Rüstungskontrolle, Rüstungsminderung und Abrüstung mitarbeiten. Gestern abend ist in der Debatte zu Recht vermutet worden, daß wohl auf diesem Gebiet mehr geschehen sei, als bisher sichtbar gemacht werden konnte oder, wie ich hinzufügen möchte, als hier heute im einzelnen genau dargelegt werden kann. Aber es ist durchaus möglich, im Rahmen dieser Debatte einen ersten Überblick zu geben, den ich gern von Zeit zu Zeit ergänzen möchte und dann hoffentlich auch anreichern kann.
Zunächst zur Thematik des Gewaltverzichts. Sie werden sich daran erinnern, daß die Regierungserklärung vor einem Jahr den deutschen Vorschlag vom März 1966 an die Adresse der Sowjetunion und der anderen osteuropäischen Staaten aktualisierte und diesen Vorschlag zum Austausch von Gewaltverzichtserklärungen ausdrücklich auch auf die deutsche Frage bezog. Hieraus ist inzwischen ein Eckstein unserer Europa- und Ostpolitik geworden. Wir haben die Bereitschaft präzisiert, den Verzicht auf Gewaltanwendung und Gewaltandrohung gegenüber allen osteuropäischen Partnern verbindlich zu formulieren. Wir haben als Regierung vielfach den Willen bekundet, diesen Verzicht so zu vollziehen, daß er ohne jeden Vorbehalt auch für den anderen Teil Deutschlands und diesem gegenüber gilt.
Wir sind in diesen Monaten nicht nur Mißtrauen und polemischen Unterstellungen begegnet, sondern wir haben auch an mehr als einer Stelle ein sachliches Interesse feststellen können. Dabei haben — das werden wir alle verstehen — Stellungnahmen der Regierung der Sowjetunion und Erörterungen mit ihr selbstverständlich ein besonderes Gewicht. Solche Erörterungen werden sich nach der Absicht beider Seiten in vertraulicher Form zu vollziehen haben. Schnelle Ergebnisse sind dabei nicht zu erwarten. Aber jeder soll wissen, daß es an unserem guten Willen nicht fehlen wird.
Was nun die Fragen der regionalen, d. h. europäischen Rüstungskontrolle und Rüstungsminderung angeht, so hat es im Laufe dieses Jahres Beratungen im Kreise der Verbündeten — konkret: im Rahmen der WEU und der NATO — gegeben. Es hat auch den Beginn eines Meinungsaustausches mit anderen befreundeten Regierungen gegeben. Wir sehen für uns nicht eine passive, sondern eine aktive Rolle im Prozeß bilateraler und multilateraler Konsultationen im Kreise der Verbündeten mit dem Ziel, konkrete Vorstellungen über ein Angebot an die Staaten des Warschauer Paktes zu entwickeln. Um eine aktive Rolle spielen zu können, brauchen wir und verfügen wir, wenn auch sicher noch nicht ausreichend, über eigene Vorarbeiten und Studien für einen Abbau der militärischen Konfrontation durch schrittweise und ausgewogene Verminderung der Streitkräfte in Ost und West, insbesondere der ausländischen Truppen in beiden Teilen Deutschlands. Ich gebe allerdings freimütig zu, daß wir meiner Meinung nach den Problemen, von denen hier die Rede ist, und darüber
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hinaus viel von dem, was man „Friedensforschung" zu nennen begonnen hat, noch mehr Aufmerksamkeit widmen, noch mehr Gewicht geben und daß wir darin geistig, personell und organisatorisch noch mehr investieren müssen.
Bei unserer Politik der Entspannung und Friedenssicherung haben wir uns auf ein hohes Maß an Übereinstimmung mit den Verbündeten stützen können. Dies kam auch in den Kommuniqués zum Abschluß der NATO-Ministerratstagungen im Dezember vergangenen Jahres in Paris und im Mai dieses Jahres in Brüssel zum Ausdruck.
Die auf die Ostpolitik bezogene Übereinstimmung ist dann auch sehr stark bei den laufenden Beratungen mit unseren französischen Nachbarn zutage getreten. Gleiches gilt für Konsultationen mit den Regierungen Großbritanniens und Italiens und anderer
europäischer Staaten.
Allerdings läßt, so dankbar wir sind und so dankbar ich gerade auch als Bundesaußenminister für die vielfache politische und moralische Unterstützung bin, die wir in diesen Monaten zumal auf dem Feld der Ostpolitik gefunden haben, die konkrete politische Abstimmung unter den westlichen Verbündeten und in der atlantischen Allianz manches — um nicht zu sagen: viel — zu wünschen übrig.
In der Erklärung, die der Bundesverteidigungsminister gestern für die Regierung vorgetragen hat, wird zutreffend ausgeführt, daß unsere Politik der Entspannung und der Friedenssicherung der festen Verankerung in der Allianz bedarf. Wir haben bei früheren Gelegenheiten gesagt — wir werden es nächste Woche im NATO-Rat in Brüssel wieder sagen —: Wir setzen sehr viel darauf, daß es zu einem engen Zusammenwirken unter den Verbündeten und in den westlichen Gemeinschaften als entscheidender Voraussetzung für eine erfolgreiche Politik der Entspannung und der Friedenssicherung kommt. Diese Politik steht nicht nur nicht im Gegensatz zu den Zielen der Allianz, sondern sie ist logischer Bestandteil der Zielsetzung, die sich auf die Bewahrung und die Festigung des Friedens richtet.
Die Fortdauer des Bündnisses, seine Wirksamkeit und seine lebendige Fortentwicklung sind gerade mit dem Blick auf eine künftige europäische Friedensordnung notwendig. Vieles spricht meiner Überzeugung nach dafür, daß ein wirksames europäisches Sicherheitssystem auf absehbare Zeit, wenn es überhaupt zustande zu bringen ist, vernünftig durch Vereinbarungen begründet werden könnte, die sich auf die beiden weiterbestehenden Bündnisse beziehen.
Hier ist gestern auch von den Harmel-Studien die Rede gewesen. Sie kennen jene Überlegungen in der Allianz, die durch den belgischen Außenminister Pierre Harmel angeregt wurden. Es sind Überlegungen über die zukünftige Rolle der Allianz und damit insbesondere auch zum Thema der Ost-West-Fragen und zu den Problemen der europäischen Sicherheit. Zu Recht ist vermutet worden, daß es sich hierbei um zunächst allianzinterne und außerdem vertrauliche Überlegungen handelt. Jedenfalls ist es heute noch nicht möglich, darüber zu berichten.
Doch möchte ich so viel sagen: Auch diese Überlegungen im Rahmen der sogenannten HarmelStudien gingen und gehen davon aus, daß das Dach der Sicherheit auf zwei Säulen ruhen muß. Die eine besteht aus angemessenen einseitigen Vorkehrungen für eine Abschreckung und Verteidigung in der gegebenen Lage, und die andere besteht aus realistischen, illusionslosen Maßnahmen mit dem Blick auf eine beiderseitige Rüstungskontrolle und Abrüstung. Niemand, der uns zuhört oder der nachlesen sollte, was hier gesagt wird, sollte übersehen oder unterschätzen, was die Bundesregierung gesagt hat, als sie erklärte, daß sie — diese Bundesregierung — entschlossen sei, Schritte zu unternehmen und Vorschläge zu unterstützen, die zu einer militärisch ausgewogenen Rüstungsverminderung auf nuklearem und konventionellem Gebiet beitragen können.
Darf ich hier vor dem Hohen Hause eine Bemerkung zu einem Vorgang machen, der sich in dem jetzt zu Ende gehenden Jahr abgespielt hat und der vielfach zu eng aufgefaßt worden war. Sie werden sich daran erinnern, daß wir uns bei den sogenannten Dreierverhandlungen mit den Vereinigten Staaten und Großbritannien mit einigen Rückverlegungen und Truppenrotationen einverstanden erklärt hatten. Gewiß, wir hatten in der Überzeugung zugestimmt, daß unsere Sicherheit dadurch nicht gefährdet würde. Das versteht sich an sich von selbst, denn keiner ist bereit, zuzustimmen, wenn er weiß, daß 'dadurch seine Sicherheit gefährdet wird.
Aber alle Kundigen wissen, daß auch unabhängig von dieser Zentralfrage, ob die Gesamtsicherheit gefährdet wird oder nicht, heutzutage die präsente Stärke der einen Seite und der anderen und die einzelnen Elemente diesere oder jener Seite ein wichtiger Faktor sind. Jedenfalls wirkt der im Osten immer noch zu hörende Vorwurf, die Aufrüstung gehe vom Westen nach Osten, besonders wenig glaubwürdig. Es wird nicht nur für uns interessant sein, ob die tatsächlichen, wenn auch begrenzten Veränderungen in Westeuropa, die sich auf die präsenten Stärken beziehen, eine Entsprechung im Raum des sowjetischen Interesses finden werden oder nicht. Durch ein adäquates Verhalten Wäre die Chance gegeben, die Entspannung, wenn auch nur durch einen bescheidenen Schritt, zu fördern. Durch Indifferenz oder Schwerhörigkeit kann man vom Zentrum der östlichen Macht aus, wenn man will, die Entspannungsbemühungen und die realen, wenn auch begrenzten Entspannungschancen behindern oder stoppen. Das ist die Lage.
Damit nichts unklar bleibt, meine Damen und Herren: Für die Außenpolitik ist es von ganz großer Bedeutung, daß unser Verteidigungsbeitrag, das heißt die Stärke der Bundeswehr, den eingegangenen Verpflichtungen entspricht. Von dieser Basis aus ergibt sich dann hoffentlich in der weiteren Entwicklung die Möglichkeit, bei gleichmäßigen Schritten bei anderen wie auch bei uns verminderte Stärken ins Auge zu fassen. -
Der Kollege Schmidt hat gestern abend in seiner Rede ausdrücklich gesagt, er erwarte
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nicht, daß sich die Regierung zu dem äußere, was er als Entwicklungsmöglichkeiten für den Beginn der siebziger Jahre angedeutet hat. Ich bin ihm dafür dankbar. Dennoch möchte ich im Zusammenhang mit dieser Fragestellung zwei Bemerkungen machen dürfen.
Erstens. Da gerade in diesen Tagen die vor Monaten vereinbarten deutsch-französischen Expertengespräche über Sicherheitsprobleme der siebziger Jahre beginnen, liegt mir daran, für die Bundesregierung festzustellen, daß diese deutsch-französischen Gespräche von unserer Seite aus nicht in der Annahme geführt werden, daß wir uns wegen eines Zerfalls der NATO in wenigen Jahren sicherheitsmäßig in der Isolierung befinden würden. Das ist gar kein Gegensatz. Das ist nur die Feststellung unserer Arbeitshypothesen und das Aneinanderreihen verschiedener Entwicklungsmöglichkeiten. Wir wollen, was die jetzt anlaufenden deutschfranzösischen Gespräche angeht, wirklich die beiderseitigen Auffassungen — die der französischen und die der deutschen Regierung — austauschen. Wir werden hoffentlich miteinander über den Tag hinaus denken und dabei das ganze Europa ins Auge fassen können.
Aber ich sage noch einmal: die Vertreter der Bundesregierung gehen dabei vom Weiterbestehen, von der Weiterentwicklung der atlantischen Allianz aus, von ihrer Fähigkeit, sich im Prozeß der Friedenssicherung zu bewähren. Wir gehen auch davon aus, daß sich der Vertrag bewähren wird, den ich quasi als eine meiner ersten Amtshandlungen zu unterzeichnen hatte. Ich meine den Vertrag vom Dezember vergangenen Jahres über den Status der französischen Truppen in der Bundesrepublik Deutschland. Wir sehen diesen Vertrag im Zusammenhang mit den Abmachungen, die für den Verteidigungsfall zwischen dem französischen Generalstabschef und dem Oberkommandierenden der NATO in Europa getroffen worden sind.
Die andere Bemerkung, die ich machen wollte, ist folgende. Ich stimme dem, was gesagt worden ist, insofern zu: es wäre auch meiner Meinung nach schwer erträglich, wenn es dazu käme, daß die Verbündeten ihre präsente Stärke auf dem Kontinent wesentlich verringerten, wodurch dann womöglich auch aus westlicher Sicht eines Tages die Bundeswehr für überdimensioniert gehalten werden könnte. Hieraus resultiert für mich, daß bei allen künftigen Überlegungen das westliche Bündnis und seine Ausgewogenheit als Einheit und als gemeinsames Interesse gesehen werden muß. Jedenfalls müssen wir uns mit Nachdruck darum bemühen.
Was die weltweiten Maßnahmen in Richtung Rüstungsbegrenzung und Atomrüstung angeht, so stand, wie wir alle wissen, in diesem Jahr 1967 der Nichtverbreitungsvertrag — der Vertrag über die Nichtverbreitung nuklearer Waffen — im Mittelpunkt des internationalen Interesses. Andere Vorschläge waren überwiegend nicht erwünscht; manche hätten solche anderen Vorschläge sogar als eine Behinderung der Bemühungen um den Nichtverbreitungsvertrag angesehen, zumal es eine Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 7. November 1966 gibt, die solche Behinderung untersagt.
Die Haltung der Bundesregierung zu einem Nichtverbreitungsvertrag ist dem Hohen Hause im April dargelegt worden. In einer voraufgegangenen Denkschrift vom 7. April dieses Jahres hatten wir auch einige eigene Vorstellungen für die Verbindung eines etwaigen Nichtverbreitungsvertrages mit weiterreichenden Maßnahmen der Rüstungsbegrenzung entwickelt. So haben wir z. B. wie andere den Gedanken des völligen Teststopps wieder aufgegriffen.
Ich möchte hier übrigens, da ich von den nuklearen Dingen spreche, noch einmal ausdrücklich an den früheren deutschen Vorschlag erinnern, die atomaren, die nuklearen Waffen in ganz Europa unter Wahrung des Kräfteverhältnisses und unter Wirksamer Kontrolle stufenweise zu verringern.
Meine Damen und Herren, obwohl wir selbst nicht Mitglied der Genfer Abrüstungskonferenz sind, haben wir den jetzt vorliegenden Entwurf eines Nichtverbreitungsvertrages nicht ganz unwesentlich mit beeinflußt, gerade da, wo es darum ging und geht, den Zusammenhang mit weiteren Maßnahmen der Abrüstung und Friedenssicherung klar — oder jedenfalls klarer — zu machen. Wir haben uns — das muß auch einmal von dieser Stelle aus gesagt werden, weil es draußen vielfach falsche Vorstellungen gibt — weder quergelegt noch negative Kritik geübt, sondern wir haben konstruktiv mitgearbeitet und uns um drei vitale Interessen zu kümmern gehabt: Die Nichtbeeinträchtigung der friedlichen Nutzung — vital für einen Industriestaat wie die Bundesrepublik Deutschland —, die Wahrung eines einheitlichen Energiemarktes im wachsenden Europa — vital für dieses wachsende Europa — und unsere legitimen Sicherheitsinteressen innerhalb des Bündnisses.
Die Arbeit am Nichtverbreitungsvertrag ist noch nicht abgeschlossen, und eine Gesamtbeurteilung wird erst dann möglich sein, wenn der Gesamttext vorliegt. Aber ich wollte doch auch vor dem Hohen Hause auf die bedeutsame Ankündigung hinweisen, die Präsident Johnson am vergangenen Sonnabend gemacht hat, die amerikanischen zivilen Einrichtungen im Rahmen des Nichtverbreitungsvertrages einer Kontrolle zu unterstellen. Die britische Regierung hat sich, wie sie uns im Frühjahr in Aussicht gestellt hatte, hierzu ebenfalls bereit erklärt.
Dies sind aus unserer Sicht gute Schritte bei dem Bemühen um eine befriedigende Regelung der Kontrollfrage auf der Grundlage der Gleichbehandlung und der Gegenseitigkeit.
Aus meiner Verantwortung als Bundesaußenminister und da wir es nicht nur in östlichen Ländern mit Mißtrauen zu tun haben — was häufig übersehen wird —, liegt mir sehr daran, die vierfache Selbstbeschränkung der Bundesrepublik Deutschland auf nuklearem Gebiet auch von mir aus noch einmal zu unterstreichen:
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Verzicht auf die Herstellung von Kernwaffen; Verzicht auf eigene Verfügungsgewalt über nukleare Waffen — oder genauer gesagt: atomare Sprengkörper —; Unterwerfung der zivilen Nutzung unter die Kontrolle von Euratom; Unterstützung des Prinzips der Nichtverbreitung von nuklearen Waffen.
Meine Damen und Herren, die gestrige Erklärung des Bundesverteidigungsministers hat erneut deutlich gemacht, daß es das Ziel der deutschen Außenpolitik ist, eine Friedensordnung in und für Europa schaffen zu helfen, eine Friedensordnung, die allen europäischen Staaten ausreichende Stabilität sichert, und die auch eine gerechte und dauerhafte Lösung der deutschen Frage möglich macht. Dies will sagen: eine europäische Friedensordnung bedeutet mehr als ein Sicherheitssystem. Eine Friedensordnung muß daraufhin konzipiert werden, daß es nicht ausreicht, die Anhäufung militärischer Macht abzubauen, daß dies isoliert auch kaum möglich sein wird — jedenfalls nicht durchgreifend —, sondern daß es darüber hinaus auf den Abbau der politischen Spannungen, den Ausgleich der Interessen, die Verständigung der Völker, die Zusammenarbeit der Staaten ankommen wird, damit solide Grundlagen für eine gute europäische Zukunft geschaffen werden können.
Eine solche Friedensordnung setzt aber voraus oder muß notwendigerweise einschließen, daß die militärische Konfrontation abgebaut und schließlich überwunden wird, daß den berechtigten Sicherheitsinteressen der europäischen Völker und Staaten Rechnung getragen wird, daß durch Vereinbarungen oder im Vorfeld von Vereinbarungen durch paralleles, adäquates Verhalten Rüstungen abgebaut und Kontrollvorkehrungen verstärkt werden. Ich erinnere hier beispielsweise an den deutschen Vorschlag über den Austausch von Manöverbeobachtern, vorüber bilaterale Vereinbarungen abgeschlossen werden könnten.
Nun meine ich, meine Damen und Herren, daß es nicht realistisch wäre, heute oder in nächster Zukunft eine große Lösung der europäischen Probleme zu erwarten. Auch deshalb halten wir es nicht für sinnvoll, dem Gedanken an eine europäische Sicherheitskonferenz nachzujagen, einer Sicherheitskonferenz, die, zumal nach dem uns bisher bekannten Schema, ohnehin nur den besonderen Zielen einer Gruppe von europäischen Staaten dienen sollte oder würde.
Eines Tages wird es gewiß auch zu einer Konferenz über Fragen der europäischen Sicherheit und der Friedensordnung kommen. Aber sie muß gut vorbereitet sein. Die Zeit muß dann für sie reif sein.
Inzwischen werden wir uns dafür einsetzen und daran mitwirken, daß in der Allianz — und wenn ich Allianz sage, meine Damen und Herren, dann meine ich das Bündnis einschließlich seines amerikanischen Pfeilers — darüber beraten und daran gearbeitet wird, wie die Elemente der europäischen Sicherheit und einer europäischen Friedensordnung aussehen sollen. Das kann dann gewiß nicht mehr nur für die Schubladen und nur für die Expertenausschüsse geschehen; denn unser Volk möchte gewiß ebenso wie die Völker ganz Europas wissen, wie der Plan aussieht, nach dem das große gemeinsame europäische Haus gebaut werden kann.
Dieser Tage nahm man in einer Ostberliner Verlautbarung Anstoß daran, daß wir sagen, im Rahmen einer europäischen Friedensordnung müsse eine gerechte und dauerhafte Lösung auch der deutschen Frage gefunden werden, Man meinte in Ostberlin, dies beweise, daß wir etwas ändern wollten; das sei verwerflich, und das stehe im Gegensatz zum Interesse an der Sicherung des Friedens.
Was heißt hier: ändern wollen? Alle, die es ernst meinen mit dem Frieden und mit Europa, wollen, müssen zum Besseren etwas ändern wollen in Europa.
Wir wollen — alle, die dieses Ziel wollen — eine zweifelhafte durch eine solide Sicherheit ersetzen. Damit fängt es erst einmal an. Wir wollen Mißtrauen durch Zusammenarbeit ersetzen. Wir wollen die Spaltung Europas überwinden.
Gewaltverzicht einschließlich der Respektierung der Grenzen, der in Europa bestehenden Grenzen, bedeutet nicht, daß alles genauso bleiben kann, wie es heute ist. Nicht nur die übersteigerte militärische Konfrontation inmitten dieses Kontinents und auf deutschem Boden ist unvernünftig, auch die Mauer in Berlin und der Todesstreifen mitten durch Deutschland sind unvernünftig,
widernatürlich und gegen den Strom der Geschichte.
Niemand, dem die in der Charta der Vereinten Nationen verbrieften Rechte etwas bedeuten und dem die friedliche, gedeihliche Zukunft Europas am Herzen liegt, sollte sich darüber im unklaren sein, daß durch Übereinkünfte, durch den Ausgleich der Interessen manches geändert werden muß. Dies gilt für die Lage im anderen Teil Deutschlands, dies gilt für das Verhältnis zwischen den deutschen Gebieten und den in ihnen lebenden Menschen, dies gilt mit dem Blick auf eine Friedensordnung, die auch dem deutschen Volk, wenn es das will, die friedliche Perspektive der nationalen Einheit offenhalten muß. Dies heißt Friedensordnung, europäische Friedensordnung für das deutsche Volk.
Dies schwächt den innerdeutschen Gewaltverzicht nicht ab, sondern macht den innerdeutschen Gewaltverzicht überhaupt erst ehrlich, dies setzt ihn in den rechten Zusammenhang mit solchen Regelungen, wie sie der Bundeskanzler in seinen Briefen nach Ostberlin vorgeschlagen hat, um das Leben der Menschen und das Verhältnis zwischen den beiden Ordnungen auf deutschem Boden erträglicher und friedlicher zu gestalten.
Unsere Außenpolitik verbindet die überzeugte aktive Teilnahme am westeuropäischen Zusammen-
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schluß mit allen sinnvollen Bestrebungen, die die Zusammenarbeit mit den Völkern und Staaten Osteuropas fördern helfen. Gelegentlich höre ich jetzt aus Osteuropa — nicht immer in den Zeitungen, manchmal auch auf andere Weise —, dies sei wohl nur die Meinung des Außenminister der Bundesrepublik Deutschland. Mir liegt daran, hier vor dem Hohen Hause und für die, die sich sonst dafür interessieren, in aller Form festzustellen: dies ist nicht so, sondern das, wovon ich hier und anderswo spreche, ist die Überzeugung des Bundeskanzlers und des Bundesaußenministers, und es ist die Politik der Bundesregierung.
Wir stellen uns, um den Frieden organisieren zu helfen, der Verantwortung für die westeuropäischen Gemeinschaften ebenso wie der Verantwortung für Gesamteuropa. Wir wollen nach bitterer Erfahrung und aus ehrlicher Überzeugung dazu beitragen, daß auf unserem Kontinent Furcht und Mißtrauen überwunden werden, damit Europa in friedlicher, konstruktiver Zusammenarbeit so zusammenwächst, daß es nicht nur dem Wohl seiner Völker gerecht wird, sondern auch dem Frieden der Welt dienen kann. Denn es unterliegt doch keinem Zweifel, daß von einer europäischen Friedensordnung stabilisierende Einflüsse auf das Weltgeschehen ausgehen würden, daß Europa dem Fortschritt der Menschheit besser dienen und daß es denen besser beistehen könnte, die der Hilfe zur Selbsthilfe bedürfen.
Meine Damen und Herren, die Verteidigungspolitik jedes Staates, gerade auch unseres Staates, muß übereinstimmen mit den allgemeinen Leitlinien der auswärtigen Politik. Von dieser Debatte hängt einiges für das Verständnis und die Glaubwürdigkeit unserer Politik in Ost und West ab. Für unsere Bündnispartner muß klarsein: Wir befinden uns in Übereinstimmung mit der in der Allianz durch uns mit formulierten Politik und stehen zu dieser Politik. Für die Regierung der Sowjetunion und unsere östlichen Nachbarn muß klarsein: Unsere Verteidigungspolitik steht nicht im Widerspruch zu unserem Bemühen um Entspannung, sondern ist ihm zugeordnet. Unsere engsten europäischen Partner müssen wissen: Wir meinen es ganz ernst mit unseren Vorschlägen, gemeinsame Antworten auf die Frage nach den langfristigen Möglichkeiten europäischer Kooperation zu finden. Und unser eigenes Volk muß wissen: Wir wollen nicht das Opfer blinder Zufälle sein, auch nicht ein Spielball von Interessen anderer, sondern wir wollen gemeinsam mit unseren Freunden und Verbündeten für die gemeinsame Sicherheit sorgen, aber auch mit ihnen und, in voller Offenheit ihnen gegenüber, auch mit anderen, ohne die es nicht geht, daran arbeiten, daß der Weg zum Abbau der Spannungen und der Rüstungen und zu einer dauerhaften europäischen Friedensordnung geöffnet wird.
Meine Damen und Herren, ein Mann, der seit Kennedys Tagen mit der Verteidigung der Vereinigten Staaten befaßt war und dessen große Fähigkeiten jetzt als Präsident der Weltbank nicht zuletzt auch gegenüber den Entwicklungsländern zur Geltung kommen werden, — ich meine, wie Sie alle sicher schon verstanden haben, Robert McNamara — hat kürzlich gesagt: Die Welt braucht im Jahre 22 des Atomzeitalters keinen neuen Rüstungswettlauf; was die Welt in diesem Jahre 22 des Atomzeitalters braucht, — so sagte er und dem schließe ich mich an — ist ein neuer Wettlauf der Vernunft.