Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute früh konnten wir den Zeitungen den neuesten Lebenshaltungskostenindex — für November — entnehmen: Die Zahl 2,9 % ist an sich schon interessant. Besonders interessant ist, daß diese Zuwachsrate höher liegt als die vom Oktober, wenn auch nur unwesentlich höher. Ich meine daher, daß wir von einer falschen Voraussetzung ausgehen würden, wenn wir die wirtschaftspolitischen Aufgaben der nächsten Monate unter der Devise angingen: Stabilität haben wir schon; jetzt fehlt etwas anderes. Einige Kollegen haben sogar bestritten, daß Wachstum und Beschäftigung überhaupt gefährdet seien.
Tatsächlich zeigt doch die Preisentwicklung unter Berücksichtigung des Bildes, das vorhin der Kollege Dr. Alex Möller von der Wirtschaftsentwicklung, den Produktionsrückgängen in der Industrie und in der Bauwirtschaft, von der schlechten Lage im Einzelhandel und im Großhandel sowie von den Zukunftsaussichten gezeichnet hat, daß beide Ziele anzupacken sind, nämlich sowohl die Stabilität als auch das Wachstum.
Die aktuelle Preisentwicklung zeigt uns aber noch etwas zweites. Sie zeigt, daß die bisherige Politik der Nachfragedämpfung, daß also der Versuch, Stabilität durch langanhaltende Kreditrestriktionen und Nachfragedämpfung zu erreichen, zwar zu einer schweren Beeinträchtigung der Güterproduktion geführt, unsere Steuereinnahmen ruiniert hat und die Arbeitslosigkeit im kommenden Winter vergrößern wird, aber dennoch keine Preisstabilität gebracht hat. Das ist das Faktum, von dem wir ausgehen müssen.
Die Welt von heute ist kompliziert. Es ist möglich — entgegen dem, was wir früher einmal gelernt haben —, daß gleichzeitig die Produktion nach unten und die Preisentwicklung nach oben geht. Davon muß die Regierung ausgehen.
Ich finde es gut, daß die Regierung sich nicht lange mit der Vergangenheit aufgehalten hat, daß sie nicht, was einige Kollegen hier gewünscht haben, die „bewährten 18 Jahre" vorgeführt hat; denn über die Bewährung in diesen 18 Jahren hätte es in diesem Hause eine Diskussion gegeben. Die sozialdemokratische Fraktion hätte nämlich unterscheiden müssen, und zwar nach den ersten zwölf und nach den zweiten sechs Jahren. In der ersten Periode konnten Wachstum und Stabilität zusammen tatsächlich gesichert werden. In den sechs Jahren der zweiten Periode — und diese sechs Jahre decken auch die Amtszeit des Herrn Bundesfinanzministers Dr. Starke — mußten bei geringerem Wachstum als zuvor erhebliche Preissteigerungen in Kauf genommen werden. Zu der zweiten Periode hätte die sozialdemokratische Fraktion in einer Debatte über eine entsprechende Regierungserklärung feststellen können, daß sie und nicht andere Fraktionen auf dem laufenden gewesen ist.
Schon Herr Dr. Deist hat in diesem Hause eine „Wirtschaftspolitik aus einem Guß" gefordert. Das ist in der Regierungserklärung mit „Einheit von Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik" und mit „langfristiger Abstimmung in einer mittelfristigen Finanzplanung" umschrieben worden. Bei den konjunkturpolitischen Auseinandersetzungen im Jahre 1964 mußten meine Kollegen von der sozialdemokratischen Fraktion des 4. Bundestages darauf hinweisen, daß am Anfang eines Aufschwungs mit Erfolg gebremst werden könne, daß dies aber, je länger man damit warte, immer schwieriger sein würde.
Wir haben dann in diesem 5. Bundestag selbst miterlebt die unterschiedlichen Auffassungen dieses Hauses und der Regierung über eine Stabilitätsaktion ohne die Gefahren einer Stagnation. Das alles hätte in einer entsprechenden Regierungserklärung stehen müssen, wenn die letzten 18 Jahre behandelt worden wären. Sie hätte ja nicht einfach aussagen können: 1948 ging es uns allen sehr schlecht, und jetzt geht es uns allen viel besser; man hätte den Zeitverlauf zwischendurch behandeln müssen. Ich finde es sehr weise, daß die Erklärung der Regierung Kiesinger dies vermieden hat, daß sie unmittelbar von der Lage ausgeht, die die neue Regierung heute vorfindet. Einer Lage, die im kommenden Winter wirtschaftlich außerordentlich schwierig sein wird. Die Regierung hat sich vorgenommen — und muß es nach dem Willen dieses Hauses auch schaffen —, beide Aufgaben zu lösen: die Beschäftigung zu stabilisieren und die Preisentwicklung nicht erneut ausarten zu lassen.
Dazu muß die Regierung zunächst einmal — und das leuchtet mir ein — mit einem expansiven Programm starten. Es ist jetzt aber notwendig, die Produktivitätsentwicklung in der Industrie und in der gesamten verarbeitenden Wirtschaft durch Nachfragestützung zu steigern, damit die uriselige Spanne zwischen Produktivität und Löhnen auch von der Produktivitäts-Seite, wenn auch nicht nur von dieser Seite, verkleinert werden kann.
Ich fürchte, wir werden dieses expansive Programm bald brauchen, auch wenn die Regierung an-
3770 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Dezember 1966
Dr. Arndt
kündigt: Falls erforderlich, wird ein öffentliches Investitionsprogramm nötig sein. — Ich schätze, wir werden es bald brauchen. Erinnern Sie sich bitte an die Debatte, die wir im September über das Stabilitätsgesetz hatten. Schon damals durfte ich als Sprecher der sozialdemokratischen Fraktion darauf hinweisen, daß wir an sich schon damals eine Investitionsanregung im Tiefbau und in gewissen Bereichen der elektrotechnischen Industrie — allerdings ein Programm in viel kleinerem Umfang — gebrauchen würden. Wenn wir mit den Anregungen, die wir für das Frühjahr brauchen — ich habe aber keinen Zweifel, daß etwas geschehen wird —, noch länger warten, werden die öffentlichen Ausgaben, die zur Konjunkturstützung benötigt werden, nur noch größer und größer werden, weil die Wirtschaftstätigkeit in der nächsten Zukunft ohne öffentliche Initiativen einfach nicht besser werden kann.
Man muß sich einfach vor Augen führen, daß dies die Ausgangslage der Regierung ist, daß diese Regierung also jetzt keinen Leistungsbeweis zur Bekämpfung einer Konjunkturüberhitzung anzutreten hat, sondern einen Leistungsbeweis zur Bekämpfung einer möglichen Rezession bei weiteren Preissteigerungsgefahren. Die Ausgangslage kann sich die Regierung ja nicht aussuchen. Die Öffentlichkeit und das Hohe Haus sind gezwungen, der Regierung abzunehmen, daß sie entschlossen ist, wenn die Wirtschaft erst wieder in Gang gekommen ist und die Stabilität der Beschäftigung gesichert ist, auch einem Ausufern der Nachfrage- und Preisentwicklung entgegenzutreten. Aber im Augenblick kann sie nur für die Situation handeln, die von ihr zur Zeit angetroffen wird, und diese Situation verlangt Nachfragestabilisierung.
— Ja, darauf werde ich gleich kommen.
Diese Frage wird sich Herr Dr. Brüning vielleicht im Jahre 1930 auch gestellt haben: Wo nehme ich das Geld her? Es wäre wünschenswert gewesen, er hätte über diese Frage nicht allzu lange nachgedacht
und sich in klarer Sprache an die Leute gewendet, die für die Geldversorgung der Wirtschaft nun einmal zuständig sind. Ich möchte nicht, daß wir den Bundeskanzler und den Bundesfinanzminister in eine Situation bringen, die der von damals auch nur irgendwie ähneln könnte.
Meine Damen und Herren, hier ist vorhin vom Kollegen Pohle gesagt worden, man könne doch nicht einfach den Geldhahn aufdrehen. Ich weiß nicht, was diese Polemik bedeuten soll. Eine antizyklische Politik der Notenbank heißt, daß sie 1964 den „Geldhahn" entschiedener hätte abdrehen sollen und daß sie ihn jetzt aufdrehen sollte. Wir müssen von der Notenbank doch die gleiche Rücksicht auf die Gesamtwirtschaft verlangen wie von der Regierung.