Rede von: Unbekanntinfo_outline
als stärkste Absicherung gegenüber einem möglichen Mißbrauch der Macht ein neues Wahlrecht gesetzlich verankern.
— Keine Sorge, es kommt noch mehr dazu. Das bestehende Wahlrecht wird seit knapp 17 Jahren bei uns praktiziert. Es hat in der Bundesrepublik zu einer festen und stabilen Parteienstruktur geführt.
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Dezember 1966 3701
Mischnick
Dennoch oder gerade deswegen sollen offensichtlich im Kartelldenken der Macht die Mitbewerber der gegenwärtigen Regierungskoalition ausgeschaltet werden.
Es ist notwendig, in dieser Stunde daran zu erinnern, daß die Freien Demokraten in der Vergangenheit entscheidenden Anteil an der Gestaltung unseres Staates hatten.
Ich denke nur an den Beschluß — den haben Sie wahrscheinlich nicht mitgemacht; ich weiß es nicht mehr so genau - des Frankfurter Wirtschaftsrates. Wir waren es, die damals die notwendige parlamentarische Unterstützung für den Wirtschaftsdirektor Erhard erbracht haben, weil viele Kollegen aus Ihren Reihen, aus den Reihen der CDU/CSU, gegen ,die Marktwirtschaft Bedenken hatten.
— „Mit Recht", sagen Sie heute. Sind Sie immer noch vor 20 Jahren stehengeblieben? Das tut mir leid.
Im Parlamentarischen Rat sorgten Theodor Heuss, Thomas Dehler, Max Becker und andere liberale Politiker dafür, daß die Grundrechte — —
— Ja, Sie haben leider zu schnell vergessen, wie das Ringen um die Grundrechte damals war. Deshalb sind Sie offensichtlich bereit, heute leichtfertiger damit umzugehen.
Wir haben damals mit dafür gesorgt, daß die Grundrechte unseres Grundgesetzes ihr freiheitliches Gepräge bekamen.
Die erste Regierung Adenauer hat unter entscheidender Mitwirkung der Freien Demokraten von 1949 bis 1953 die Grundlagen für die Bundesrepublik Deutschland in einer Weise geschaffen, daß wir heute trotz punktueller Schwierigkeiten nach wie vor die zweitstärkste Industrienation der westlichen Welt sind.
— Dank der Mitwirkung der Freien Demokraten. Ob Sie es wahrhaben wollen oder nicht, all das wäre nicht erreicht worden, wenn nicht liberale Politiker, Freie Demokraten, in entscheidenden Funktionen mitgewirkt hätten.
Wollen Sie, meine Damen und Herren, den liberalen Kräften in unserem Volk durch eine Wahlrechtsänderung für die Zukunft die unmittelbare Mitwirkung nehmen?
— Sie sagen „ja". Sie bestätigen damit, welche Furcht Sie nach diesem schwarz-roten Kartell vor einer Wahl haben.
Wollen Sie die mehr als 3 Millionen Wähler der Freien Demokraten zwingen, sich der Stimme zu enthalten, sie politisch entrechten? Wer noch einen Funken freiheitliches Gefühl hat, muß sich dieser Art der Machtkonsolidierung der jetzigen Regierung mit allen Mitteln erwehren.
Das ist nicht nur für uns Freie Demokraten eine entscheidende Frage, das geht das ganze deutsche Volk an. Wie wollen Sie, Herr Bundeskanzler, diese Pläne eigentlich rechtfertigen? Wie wollen Sie politisch und rechtlich die Manipulation mit einem Übergangswahlrecht begründen? Wie wollen Sie all dies mit der Feststellung in Ihrer Regierungserklärung vereinbaren, in der Sie mit Blick auf das Ausland unterstreichen, daß auch bei den letzten Landtagswahlen die überwiegende Mehrheit der Wähler in Bayern und Hessen für die demokratischen Parteien votiert hat, für Parteien also, die während der letzten beiden Jahrzehnte den Aufbau eines demokratischen Staates und die Eingliederung der Bundesrepublik Deutschland in die europäische, die westliche Völkerfamilie vollzogen haben, deren Inhalt und deren politisches Ethos wir teilen?
— Wenn Sie, Herr Kollege Dittrich, rufen: „Nicht die FDP!", dann lesen Sie die Prozentsätze nach, die Ihr Bundeskanzler angegeben hat. Sie sind mit der FDP und nicht ohne FDP.
Herr Bundeskanzler, Ihre Regierungserklärung zeigt deutlicher, als Ihnen vielleicht angenehm sein kann: der staatspolitische Leitsatz dieser Koalition scheint offensichtlich die Forderung nach einer Änderung des Wahlrechts zu sein. Sie steht an der Spitze. Ihr wird alles unterstellt. Damit wollen Sie die gewachsene Parteienstruktur unter Mißachtung des Grundrechts der Chancengleichheit in das Ebenbild dieser, Ihrer Koalition umpressen.
Wundern Sie sich eigentlich darüber, Herr Bundeskanzler, daß in der Öffentlichkeit die Befürchtung laut geworden ist, diese Koalition könnte am Ende auch zu einer Gefahr für die innere Freiheit unserer Demokratie werden?
Sie dürfen sich nicht darüber wundern; denn mit Ihrer Regierungserklärung haben Sie diesen Befürchtungen Nahrung gegeben.
Sie sprachen von der Respektierung der Rechte der oppositionellen Minderheit im Parlament, und gleichzeitig verkünden Sie als Programm Ihrer Regierung die Forderung, dem Volk die liberale Alternative durch eine Wahlrechtsmanipulierung nehmen zu wollen. Das ist doch ein Widerspruch in sich.
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Sie sprechen davon, daß die Einführung dieses neuen Wahlrechts so besonders nützlich sei, weil damit künftig keine Notwendigkeit zur Bildung von Koalitionen bestehe. Sie wollen also dieses Wahlrecht als institutionelle Abwehr von Koalitionsbildungen verstehen, so als ob Koalitionen in der parlamentarischen Demokratie án sich etwas Böses wären. Sie vergessen dabei ganz und gar, daß auf dem europäischen Kontinent die Koalitionsbildung fruchtbar praktiziert wird, wo die Völker das Glück einer freiheitlichen Demokratie haben.
Wo nehmen Sie eigentlich die Garantie her, daß bei einem sogenannten Mehrheitswahlrecht, das in Wahrheit ein Minderheitenwahlrecht ist, tatsächlich die gewünschten Mehrheiten herkommen? Die Beispiele in Kanada und England beweisen doch, daß es auch anders sein kann.
Muß ich Sie, Herr Bundeskanzler, daran erinnern, daß die parlamentarische Demokratie von der parlamentarischen Auseinandersetzung lebt? Muß ich Sie daran erinnern, daß sich die politischen Kräfte in dieser Auseinandersetzung vor der Geschichte und vor dem Urteil der Wähler zu bewähren haben? Warum will man dann eine Gruppe unbedingt mit dem Wahlrecht ausschalten?
Die Wahlrechtsänderung soll offensichtlich genau das schaffen, was die Wähler 1961 und 1965 Ihnen, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, aus gutem Grund verweigert haben, nämlich die absolute Mehrheit.
Wenn jetzt die Vorteile klarer Mehrheiten, wie es so schön heißt, angepriesen werden, dann sollte man sich daran erinnern, daß die dritte Legislaturperiode von 1957 bis 1961 mit der absoluten Mehrheit der CDU/CSU die politisch sterilste Zeit nach 1949 in diesem Bundestag überhaupt war.
Die sozialdemokratische Opposition war damals in der Beurteilung mit den Freien Demokraten völlig einig.
Heute geistert dieses Modewort von den „klaren Mehrheiten" durch die Lande. Wo sind denn diese klaren Mehrheiten bisher bei Ihnen in -der CDU/ CSU gewesen? Wo wollen Sie denn diese Mehrheit in der CDU/CSU herbekommen? Haben Sie vergessen, daß von 1957 bis 1961, um nur ein Beispiel zu nennen, die Unfallversicherungsreform nicht verabschiedet werden konnte, weil sich die CDU/CSU mit oder vielleicht wegen der absoluten Mehrheit nicht einig werden konnte? Das Märchen von der entscheidungsfreudigen, auf die klare Mehrheit 'gestützten Regierung glaubt doch nur der, der die damaligen vier Jahre in diesem Bundestag nicht mitgemacht hat.
Die neue Regierung wurde mit viel Vorschußlorbeeren bedacht. Man erwartete von ihr in jeder
Beziehung ein neues Beginnen. Der gute Vorsatz, die Zahl der Minister einzuschränken, blieb praktisch schon vor der Tür des Bundeskanzleramtes auf der Strecke.
Es sind sogar zusätzlich parlamentarische Staatssekretäre oder Staatsminister — keiner weiß im Augenblick, was es geben wird — zu erwarten.
Wir Freien Demokraten halten die Einrichtung von parlamentarischen Staatssekretären oder Staatsministern für eine durchaus gute Sache; allerdings sind wir davon ausgegangen, daß gleichzeitig die Zahl der Bundesminister erheblich herabgesetzt werden kann.
Offensichtlich hat jedoch bei Ihnen der bei vielen geheiligte Proporz wieder einmal mitgewirkt, nunmehr allerdings im Quadrat. Es ging nicht nur um die Balance innerhalb der CDU/CSU nach Konfessionen und Regionen, sondern nunmehr auch um die Balance mit der SPD. Es ist eben nicht der große Wurf gelungen, der laut Schlagzeilen erfolgen sollte. Dabei will ich jetzt völlig unerörtert lassen, inwieweit der Gedanke einer wirklich neuen Politik mit so vielen bekannten alten Gesichtern und deren Auffassungen tatsächlich betrieben werden kann.
Wir Freien Demokraten, meine sehr verehrten Damen und Herren, werden in der Opposition konstruktiv mitarbeiten. Uns geht es nicht um Verneinung um jeden Preis.
Wir werden aber sorgfältig darüber wachen, ob Notwendiges offensichtlich nur deshalb nicht geschieht, weil sich die neue Koalition wegen ihrer inneren Gegensätze zu keiner Handlung aufraffen kann. Qualität konnte noch nie durch Quantität ersetzt werden.
Sie haben, Herr Bundeskanzler, mit Recht darauf verwiesen, daß die Regierungserklärung keine automatische Zusammenstellung der Ressorts sein soll, daß sie nicht degradiert werden soll zu einem Wunschkatalog der Ressorts. Das entbindet Sie freilich nicht von der Pflicht, ergänzende Ausführungen zu wichtigen Bereichen zu machen, die Sie — aus welchen Gründen auch immer — ausgespart haben.
Angesichts eines Innenministers z. B., der den Erfolg einer Regierung neuerdings offensichtlich nach der Zahl der erreichten Verfassungsänderungen zu messen scheint, stellt sich die Frage: Wie will Ihre Regierung das Verhältnis Bund—Länder gestalten? Was gehört nach Ihrer Auffassung zum Bund, was zu den Ländern? Ist Ihre Regierung bereit, dort zu handeln, wo sich das Signum des Mißtrauens der Siegermächte in der Gliederung unseres Staates zeigt, dort also, wo fremde Handschrift unsachgemäße Korrekturen an dem ange-
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bracht hat, was unsere Freunde aus allen Fraktionen im Parlamentarischen Rat wollten?
Werden Sie die Kraft haben, für eine Modernisierung und Stärkung unseres Staates innerhalb Ihrer Koalition auch die Teile der Unionsfraktion zu gewinnen, denen Sie in Ihrem Amt besonders verbunden sein müssen? Eben diese Kräfte waren es, die vor 17 Jahren den Weg zum wirklichen Bundestag nicht gehen wollten, sondern den Staatenbund als ein Modell der deutschen Möglichkeiten anpriesen.
Der eigentliche Sinn des Föderalismus liegt in der zusätzlichen Kontrolle der Macht, in der Ausgewogenheit der Machtverhältnisse, was im übrigen auch eine Absage an alle Gleichschaltungsbestrebungen in den Ländern ist. Die falschen Interpreten des Föderalismus verstehen ihn als ein Mittel zur Schwächung des Bundes und damit zur Schwächung der Handlungsfähigkeit des Ganzen; allerdings nur, solange sie im Bund nicht an der Macht sind, wie sich jetzt manchmal schon zeigt. In unserer Zeit ist nach meiner Überzeugung kein Platz für Rheinbund-Vorstellungen napoleonischer Zeit.
— Alle diejenigen, die glauben, dem Bund das verwehren zu müssen, was der Bund heute braucht.
Sie, Herr Bundeskanzler, haben es sich mit der Frage des Föderalismus in Ihrer Regierungserklärung sehr leicht gemacht. Sie sind darüber hinweggehuscht
mit dem Begriff des kooperativen Föderalismus. Gleichzeitig verweisen Sie aber auf die Regierungsmehrheit, die eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit bei weitem übersteigt. Dabei sollte freilich nicht unerwähnt bleiben, daß die verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit bei Ihrer Wahl zum Bundeskanzler knapp erreicht wurde. Entscheidend ist, ob Sie, Herr Bundeskanzler, die Kraft haben, die erforderlichen Mehrheiten für die Lösungen in der Aufgabenverteilung von Bund und Ländern im Bund und in den Ländern wirklich zu schaffen.
Bei den Hinweisen auf die Auseinandersetzung zwischen Bund und Ländern über den Anteil an der Einkommen- und Körperschaftsteuer wird davon gesprochen, daß eine vertikale Rangliste der Aufgaben von Bund, Ländern und Gemeinden erarbeitet werden muß. Da von der formierten Gesellschaft in dieser Regierungserklärung nicht mehr die Rede ist, muß man annehmen, daß an ihre Stelle jetzt die vertikale Rangordnung treten soll.
Das in der Bundestagswahl 1965 mit viel Aufwand gepriesene Deutsche Gemeinschaftswerk ist ebenfalls fallengelassen worden. Wir haben es damals schon bekämpft
und haben uns deswegen manchen Arger in der Koalition eingehandelt.
Ist die formierte Gesellschaft nun in der neuen Zusammensetzung der Regierungsbank zu sehen, oder welchen Platz nimmt dieser Begriff in der zukünftigen Politik der Regierung ein?
Hoffentlich tritt an die Stelle — und das ist mir
sehr, sehr ernst — der formierten Gesellschaft nicht
die wahlrechtsmanipulierte Gesellschaft.
In der Regierungserklärung wird dargelegt, daß der finanzielle Handlungsspielraum wiedergewonnen werden müsse, wie es wörtlich heißt, denn sonst wären die zukünftigen Haushalte nur noch Zwangsvollstreckungen früherer Regierungsvorlagen und früherer Parlamentsbeschlüsse. Offensichtlich haben Sie, Herr Bundeskanzler, dabei an die Arbeit des ,,Kuchenausschusses" Ihrer Partei vor der Bundestagswahl 1957 gedacht, als der Julius-Turm großzügig verteilt wurde, allerdings nicht in Form von einmaligen Ausgaben, sondern von steigend wiederkehrenden Ausgaben, die mit zu dem schweren Erbe der letzten Regierungen gehörten.
Gerade die absolute Mehrheit Ihrer Partei, Herr Bundeskanzler, hat uns durch Ihre Beschlüsse dazu gebracht, daß wir heute aus der Zwangsvollstrekkung früherer Regierungsvorlagen und Parlamentsbeschlüsse herausfinden müssen. Sie bestätigen mit dieser Auffassung unsere Meinung, daß für die Zukunft ein erfolgversprechender Weg nur dann beschritten werden kann, wenn wir die Ausgaben kürzen, statt durch Einnahmesteigerungen zu mehr Ausgaben anreizen.
Jetzt wird sich vor allen Dingen zeigen, ob die durch die damalige Koalition auch in den kritischen Tagen des Jahres 1950 zäh verteidigte soziale Marktwirtschaft erhalten bleiben wird. Manche Passagen der Regierungserklärung lassen hier Besorgnis aufkommen. Schon hört man in den Gängen dieses Hauses flüstern, eine einkalkulierte Inflationsrate sei das bequemste Mittel, um aus der schwierigen Haushaltssituation herauszukommen.
— Wenn Sie es noch nicht gehört haben, dann sind Ihre Informationen schlechter als unsere, was mich überrascht. •
Wir Freien Demokraten bekennen uns demgegenüber nach wie vor zu dem Grundsatz, daß die Zuwachsrate der Ausgaben von Bund, Ländern und Gemeinden mit der Zuwachsrate des Sozialprodukts in Einklang gebracht werden muß.
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Ihr Amtsvorgänger, Herr Bundeskanzler, Professor Ludwig Erhard, hat diesen Grundsatz über Jahre gemeinsam mit den Freien Demokraten vertreten. Als er selbst von diesem Grundsatz abwich — offensichtlich auf Druck falscher Ratgeber aus den eigenen Reihen —, war der entscheidende Schritt zum Ende seiner Regierungszeit getan.
Wir bekennen uns nach wie vor zu dem Gesetz zur Förderung der Stabilität, um eine konjunkturgerechte Haushaltsgesetzgebung von Bund, Ländern und Gemeinden zu erreichen und um damit für eine langfristige Stabilitätspolitik zu sorgen.
Wir vermissen in der Regierungserklärung die notwendige klare Rangordnung für die öffentlichen Ausgaben,
die bei allen haushalts- und finanzpolitischen Entscheidungen beachtet werden muß.
Wir begrüßen den Hinweis, daß die Sozialinvestitionen, die der Zukunftssicherung dienen, Vorrang haben sollen. Es muß aber deutlicher als bisher zum Ausdruck gebracht werden, was dann nachrangig sein soll. In dem Aufstellen von Vorrangigkeiten sind wir uns immer sehr schnell einig gewesen; wenn es um die Nachrangigkeit geht, geht ja meistens der Streit erst los.
Die Passagen der Regierungserklärung, die sich mit der Gesellschaftspolitik im allgemeinen und der Sozialpolitik im besonderen befaßten, sind sehr global und haben zum großen Teil nur einen geringen Aussagewert. Mit besonderem Interesse haben wir allerdings den Hinweis vermerkt, daß, wie es wörtlich heißt, „am Prinzip der dynamischen Rente" festgehalten werden soll und daß dazu festgestellt wird — ich zitiere wieder wörtlich —: „Wir müssen aber sehr ernsthaft die Bemessung der jährlichen Zuwachsraten der Sozialleistungen und der Bundeszuschüsse prüfen und sie mit den Möglichkeiten und Grundsätzen einer guten Finanzpolitik in Einklang bringen". Wir werden die Bundesregierung bei diesem Bemühen kräftig unterstützen.
Wer keine soziale Demontage will, und wir Freien Demokraten wollen keine soziale Demontage, muß den Mut haben, die sozialen Leistungen nicht nur unter den heutigen Möglichkeiten, sondern auch unter den künftigen Entwicklungen zu sehen.
Wir verstehen die Regierungserklärung dahin gehend, daß die neue Bundesregierung offensichtlich die Automatik überprüfen will, die in. der Rentengesetzgebung enthalten ist. Uns Freien Demokraten geht es darum, nicht nur dem Rentner von heute, sondern auch dem Beitragszahler von heute die soziale Sicherung zu geben, die' wirtschaftlich möglich ist.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit Befremden mußten wir allerdings feststellen, daß für den ganzen Bereich der Abwicklung von Kriegs- und Nachkriegsfolgen eine pauschale Feststellung getroffen wird, die zu mancherlei Befürchtung Anlaß gibt. Will die neue Bundesregierung hier einen Schlußstrich ziehen nach dem Motto, wer bis jetzt auf der Strecke geblieben ist, der soll auch in Zukunft auf der Strecke bleiben? Ist es mit der Verwirklichung des sozialen Rechtsstaats in Einklang zu bringen, daß wir weiterhin bei der Gewährung sozialer Leistungen mit zweierlei Maßstab messen? Der Zwang, sparsam zu wirtschaften, darf doch nicht bedeuten, daß die durch den Krieg und die Nachkriegszeit Betroffenen die Hauptleidtragenden, ja zum Teil die allein Leidtragenden bleiben sollen. Ist die gestrige kurze Debatte um die Kriegsopferversorgung schon ein Vorbote dieser neuen Einstellung gewesen?
— Ich habe nicht von dem Volumen, sondern von der
Debatte gesprochen, Herr Kollege Schellenberg, und
das scheint mir doch ein großer Unterschied zu sein.
Richtig wird in der Regierungserklärung davon gesprochen, daß wir uns nicht mehr leisten können, öffentliche Mittel unterschiedslos nach dem Gießkannenprinzip zu verteilen. Warum hat dann eigentlich die neue Koalition ihre eigene Regierung bei der Entscheidung über das sogenannte Pennälergehalt in der vorigen Woche bereits im Stich gelassen und das noch immer vorhandene Gießkannenprinzip in diesem speziellen Bereich nicht völlig beseitigt,
um damit den Weg für gezielte Maßnahmen der Ausbildungsförderung frei zu machen?
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich nun ein paar kurze grundsätzliche Bemerkungen zur Deutschland- und zur Außenpolitik machen. Wir Freien Demokraten begrüßen es, daß der Weg der Friedensnote der Bundesregierung vom März dieses Jahres mit dem Angebot der Gewaltverzichtserklärungen fortgesetzt werden soll. Wir halten es für richtig, daß die Bundesregierung betont, sie sei bereit, das ungelöste Problem der deutschen Teilung in dieses Angebot einzubeziehen.
Wir sind mit der Bundesregierung der Meinung, daß wir uns nicht eine falsche und gefährliche Alternative der Wahl zwischen Frankreich und den Vereinigten Staaten aufreden lassen sollen. Wir hätten es allerdings für besser gehalten, Herr Bundeskanzler, wenn die historischen Reminiszenzen unterblieben wären. Es ist nicht unsere Sache, die Partnerschaft anderer Staaten untereinander zu werten. Wir hoffen, daß die neue Bundesregierung alle Möglichkeiten nutzt, um die Teilnahme Großbritanniens und anderer EFTA-Länder an der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu verwirklichen.
Die Deutschlandpolitik der neuen Bundesregierung wird ein entscheidender Prüfstein dafür sein, ob sich angeblich Bewährtes oder ob sich Neues durchgesetzt hat. Niemand bestreitet, daß es richtig ist, bewährte politische Grundsätze der Vergangenheit auch für die Zukunft anzuwenden. Nur scheint die Meinung darüber, was sich bewährt und was sich nicht bewährt hat, unter den neuen Koalitionspartnern sehr unterschiedlich zu sein.
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Wir sind gespannt darauf, ob die Gedanken des Bundesministers für gesamtdeutsche Fragen, Herbert Wehner, die er in seinem Interview mit Günter Gaus dargelegt hat, nunmehr in die Politik der neuen Bundesregierung Eingang finden. Sind die Überlegungen, die in seinem neuesten Interview im „Vorwärts" erschienen sind, Grundlagen seiner Politik und entsprechen sie den Richtlinien der Politik, die Sie, Herr Bundeskanzler, ausgeben? Wir finden darin vieles, was wir Freien Demokraten immer vertreten haben und wofür wir immer von unserem damaligen Koalitionspartner beschimpft worden sind.
Meine Freunde und ich, Herr Bundeskanzler, hoffen auf einen neuen, besseren Weg. Ich erwarte nicht, daß die Möglichkeiten der künftigen Deutschlandpolitik hier und heute bis ins einzelne dargelegt werden. Manches, dessen sind wir uns bewußt, wird man im vertraulichen Gespräch — wie wir hoffen, nicht nur innerhalb der Regierung, sondern auch mit der Opposition — behandeln müssen. Wichtig ist für uns, zu wissen, ob neue Wege nur proklamiert werden oder ob der Wille und die Mehrheit dahinter stehen, diese neuen Wege auch gehen zu wollen. Wir können mit dafür sorgen, wenn es not tut, wenn Sie uns brauchen, Herr Bundesminister Wehner, die Mehrheiten dafür zu finden.
Herr Bundeskanzler, wir Freien Demokraten vermissen in der Regierungserklärung ein Wort zur Bundeswehr und ihrem Auftrag. Es ist ja noch nicht vergessen, daß im September die damalige Opposition mit einem Mißtrauensantrag gegen den damaligen Verteidigungsminister von Hassel mehr wollte als nur die Auswechselung eines Ministers. Es wäre wichtig, heute von Ihnen, Herr Bundeskanzler, zu hören, wie Sie den Auftrag der Bundeswehr für die Zukunft sehen.
Wir hätten es begrüßt, wenn in der Frage der atomaren Bewaffnung klarere Aussagen erfolgt wären. Daß wir „keine nationale Verfügungsgewalt über Atomwaffen und keinen nationalen Besitz an solchen Waffen anstreben", ist nichts Neues. Wir Freien Demokraten sind der Auffassung, daß die Bundesrepublik keinerlei Mitbesitz an Atomwaffen anstreben sollte. Nur durch eine solche klare Aussage gewinnen wir den außenpolitischen Spielraum, den wir brauchen.
Damit wir unserer Verantwortung für die Erhaltung der Substanz des ganzen deutschen Volkes gerecht werden können, braucht die Bundesrepublik Deutschland ein Vetorecht gegen den Einsatz atomarer Waffen auf deutschem Boden und gegen deutschen Boden. Als gleichberechtigtes Mitglied im NATO-Bündnis hat die Bundesrepublik nach unserer Auffassung auch Anspruch auf Mitwirkung bei der Krisenbewältigung. Es soll hier auf Einzelheiten nicht näher eingegangen werden; das wird eine Reihe meiner Kollegen in weiteren Beiträgen tun. Über eines sollte sich aber jeder in diesem Hause im klaren sein: der Weg der atomaren Illusion führt geradewegs in die politische Isolation.
Zu unserem Bedauern ist in der Regierungserklärung auch kein Wort zum künftigen Notstandsrecht enthalten. Wir haben volles Verständnis dafür, daß nicht alle Ressortfragen dargelegt worden sind. Die Gestaltung des Notstandsrechts gehört aber zu den Grundproblemen, die in dieser Legislaturperiode gelöst werden müssen. Oft genug ist ja die Notwendigkeit einer Zweidrittelmehrheit dafür betont worden und zum Teil wurde gerade die Notstandsgesetzgebung als Begründung angeführt, weshalb man eine Koalition mit so breiter Mehrheit brauche.
Es läßt mißtrauisch werden, daß gerade über diese, die Öffentlichkeit stark bewegende Frage nichts gesagt wird. Bedeutet das, daß die Notstandsgesetzgebung für den einen Teil der neuen Regierung weniger dringlich geworden ist? Soll sie damit vertagt werden? Oder bedeutet es für den anderen Teil der Regierung, daß man öffentlich besser nicht darüber spricht, weil man nicht- weiß, wie man es seinen eigenen Freunden sagen soll, wie man es ihnen begreiflich machen soll? Wir hoffen, daß unsere Befürchtungen unbegründet sind. Ein klärendes Wort hierzu durch Sie, Herr Bundeskanzler, ist vonnöten.
Was vor Jahren und erst wieder im Januar 1966 als Lieblingskind des früheren Bundeskanzlers Dr. Adenauer erschien, ist nunmehr Wirklichkeit geworden. Es gab schon immer Stimmen in der CDU/ CSU, die nach der schwarz-roten Koalition riefen, um entweder den Freien Demokraten zu drohen oder weil sie aus innerster Überzeugung diese bequemste Regierungsmöglichkeit als der Weisheit letzten Schluß ansahen.
— Na, wenn es für Sie unbequem wird; das werden wir ja erleben.
Manche meinen sogar, daß CDU/CSU und SPD bei einer gemeinsamen Regierung gezwungen seien, sich in allen Lebensfragen des deutschen Volkes zu verständigen, womit unnötiger Leerlauf und unnützes Gezänk vermieden würden.
Das ist eine Verkennung der Aufgaben in der parlamentarischen Demokratie.
Worin liegen die größten Gefahren dieser breiten Mehrheit? Bei den notwendigen Grundgesetzänderungen für die Notstandsgesetzgebung sowie für die Finanzreform sollten jeweils die sinnvollsten und . für die gesamte Bevölkerung besten Lösungen erarbeitet werden, nicht aber etwa unter Abtausch von Zugeständnissen die am besten bei der eigenen Anhängerschaft verkaufbaren Kompromisse gefunden werden. Es sei daran erinnert, daß anläßlich der Verabschiedung einiger Landesverfassungen 1946 und 1947 Konfessionsschulen auf der einen und Sozialisierungsartikel auf der anderen Seite beliebte Tauschobjekte gewesen sind.
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Eine weitere Gefahr sehen wir in dem Bestreben, den Bundesrat über die Umbildung der Länderkoalitionen gleichschalten zu wollen. Hier scheint der Widerstand in der SPD mancherorts auszureichen, um diese generelle Gleichschaltung zu verhindern. An uns Freien Demokraten soll es nicht liegen.
Hinzu kommt die Verlockung, die heute schon in zahlreichen Organen der öffentlichen Meinung vorhandene Proporzaufteilung zu benutzen, um den unbequemen Mahner Freie Demokraten aus dem öffentlichen Meinungsbild verschwinden zu lassen.
Wir sind allerdings überzeugt, daß die Verantwortlichen bei Fernsehen, Rundfunk und Presse nicht der Versuchung erliegen werden, nur die Regierungsmeinung zu vertreten. Geschähe das, wären die innerpolitischen Folgen innerhalb kürzester Frist verheerend, die außenpolitischen ließen nicht lange auf sich warten.
Jetzt ist die Stunde der Bewährung für alle die gekommen, die von sich behaupten, sie seien liberal, und die in anderen Parteien wirken. Auf sie wird es entscheidend mit ankommen, ob in Zukunft eine Abstimmungswalze alles platt drückt, oder ob das Parlament in seiner Funktion gegenüber der Regierung nicht nur in der Regierungserklärung angesprochen wird, sondern in der täglichen Arbeit auch wirksam werden kann.
Im Laufe der Debatte werden meine Fraktionskollegen für die verschiedenen Sachgebiete die Auffassung der Freien Demokraten ausführlicher darlegen und da, wo wir es für notwendig halten, Alternativen zu der Regierungserklärung verdeutlichen. Wir werden die Politik Ihrer Regierung, Herr Bundeskanzler, kritisch verfolgen und ihr immer dann entgegentreten, wenn wir es aus unserer grundsätzlichen freiheitlichen Auffassung für notwendig halten.
Sie können und werden keine Vertrauenserklärung von uns für Ihre Regierung erwarten. Ich wünsche Ihnen trotz aller Meinungsverschiedenheiten und grundsätzlicher Bedenken im Interesse unseres Volkes eine glückliche Hand; Sie werden sie notwendig brauchen.