Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Gesetzentwurf der Sozialdemokratischen Fraktion hat nach all den Jahren ergebnisloser Diskussion hier im Hause mindestens zwei verblüffende Wirkungen gezeigt: erstens die beschleunigte Vorlage des Entwurfs eines Berufsausbildungsgesetzes durch die Regierungskoalition, worüber wir uns sehr freuen, und zweitens die überaus emsigen Bemühungen der Bundesanstalt, ein Forschungsinstitut zu errichten und unseren Beratungen im Bundestag auch in bezug auf die Standortfrage eines solchen Instituts im letzten Augenblick zuvorzukommen. Herr Kollege Behrendt hat schon darauf hingewiesen.
Meine Damen und Herren, ein Vergleich beider Entwürfe offenbart gemeinsame Standpunkte in verschiedenen Sachbezügen. Viele Kriterien heutiger Berufsausbildung spiegeln sich in ihren Erkenntnissen wider. Dabei geht es nicht darum, sehr verehrter Herr Kollege Diebäcker, die Bemühungen etwa um die Verbesserung der Berufsausbildung herabzuwürdigen oder gar zu verkennen. Ganz im Gegenteil! Wir haben in all den Jahren gesagt — und ich stehe nicht an, das hier zu wiederholen —, daß wir allen Beteiligten, die sich um die Verbesserung der Berufsausbildung in unserem Lande verdient gemacht haben, großen Dank schulden.
Es kann jedoch nicht geleugnet werden, daß unser Berufsausbildungssystem viel stärker traditionell als zukunftsorientiert angelegt ist. Die Durchführung der Berufsausbildung klafft — je nach Art und Lage des Betriebes weit auseinander. Sie reicht von einer unelastischen, einseitigen und deshalb völlig ungenügenden „Ausbildung" hin zu einer gründlichen und soliden fundierten Vorbereitung für anspruchsvolle Tätigkeitsbereiche.
Dies alles wiegt um so schwerer, als es sich hierbei um den normalen Bildungsweg des größten Teils unserer Jugend handelt. Man muß leider hinzufügen, daß die meisten von ihnen relativ unvollkommen aus der Berufsausbildung entlassen werden.
— Das ändert leider nichts daran, daß es so ist.
Wir haben deshalb das Ziel vor Augen gehabt, eine Vereinheitlichung und Verbesserung der Berufsausbildung herbeizuführen. Uns geht es im wesentlichen um gleiche Grundsätze und Maßstäbe, unbeschadet dessen, ob sich jemand in einem Ausbildungsverhältnis der Industrie, des Handels, des Handwerks oder — und da unterscheiden wir uns auch — in schulischen Einrichtungen befindet.
Meine Damen und Herren, es geht nicht zuletzt um einen größeren Gleichklang von Bundes- und Ländermaßnahmen, und ich möchte hier mit allem Freimut sagen: Manches von dem, was in den Entwürfen gewollt ist das trifft sicher in besonderem Maße für den Entwurf der Koalition zu — wird Stückwerk bleiben, wenn es nicht endlich auch gelingt, eine für die ganze Bundesrepublik harmonisierende Reform des Schulwesens, als des eigentlichen Unterbaus des beruflichen Bildungswesens überhaupt, anzustreben.
Trotz der Kompetenzschwierigkeiten, mit denen wir es hier zu tun haben, enthält unser Entwurf im Gegensatz zu dem der Koalition immerhin zwei beachtenswerte Ansätze zu einer Kooperation der beiden Teile unseres dualen Ausbildungssystems.
Erstens. Die Ordnungsmittel müssen u. a. auch Anforderungen an den berufsbegleitenden Unterricht umfassen und damit den Berufsschulen eine hinreichende Orientierung für ihre Lehrplangestaltung ermöglichen. Künftig dürfte daher der ewige Streit über den notwendigen Umfang des Berufsschulunterrichts entfallen; ein Streit um die Freistellung der Auszubildenden durch die Betriebe, ein Streit um die Bereitstellung von Lehrkräften und Haushaltsmitteln durch die Schulträger.
Zweitens. Unser Entwurf ebnet aber auch der Durchführung von Grundlehrgängen bis hin zu einer Vollausbildung durch Schule und ähnliche Einrichtungen den Weg. Die Ausbildung in solchen Ausbildungsstätten können die Landesregierungen der Ausbildung in den Betrieben je nach Umfang — ganz oder teilweise gleichstellen.
Jedenfalls wollen wir keinen Zweifel daran lassen, daß die Schule nicht länger als ein Anhängsel der betrieblichen Berufsausbildung empfunden werden darf, sondern daß es sich hier um zwei gleichwertige Komponenten ein und derselben Sache handelt.
Soweit wir in den Vereinheitlichungs- und Gleichstellungsbestrebungen zur Förderung unseres dualen Ausbildungssystems auch übereinstimmen mögen: beide Gesetzentwürfe — der Herr Kollege
Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode 67. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 26. Oktober 1966 3191
Liehr
Diebäcker hat dankenswerterweise schon darauf aufmerksam gemacht — haben dennoch sehr unterschiedliche Orientierungen. Der Entwurf der Koalition ist ein Entwurf zur Regelung der Berufsausbildung. Ohne jetzt schon näher auf ,seinen Inhalt einzugehen, läßt ,sich ganz generell sagen — das hat der Herr Kollege Diebäcker hier auch nicht bestritten —, daß er sich auf den jugendlichen Personenkreis der Schulabgänger bezieht, auf einen Zeitabschnitt der Vierzehn- bis Siebzehnjährigen bzw. Fünfzehn- bis Achtzehnjährigen, je nach dem Schulentlaßalter. Das heißt, er regelt einen unbestritten wichtigen Lebensabschnitt des Jugendlichen, aber am Gesamtproblem gemessen letzthin nur einen etwa dreijährigen Teilbereich ,eines lebenslangen Lern- und Fortbildungsprozesses des Arbeitnehmers.
Meine Damen und Herren, es muß die Frage erlaubt sein, ob es ausreicht, die Elementar-, die Grundphase in der Existenz des Arbeitnehmers gesetzlich isoliert und von den nachfolgenden beruflichen Entwicklungsstufen angesichts unserer arbeitsteiligen, hochindustrialisierten Gesellschaft zu sehen. Wir sagen: nein! Was spricht eigentlich dafür, abgesehen von der ohnehin vorwiegend sozialpolitisch orientierten Interessenlage der Arbeitnehmer, die Verantwortung für den Gesamtkomplex Berufsberatung, Berufsausbildung, berufliche Fortbildung, Umschulung, Rehabilitation unnötig auseinanderzureißen: Hie Wirtschaftsminister, dort Arbeitsminister? So wie wir von dem durch Umstellung betroffenen Arbeitnehmer ein Umdenken erwarten, ,sollte auch die Bundesregierung rationellen Lösungen nicht verschlossen sein.
Schon jetzt bietet unsere Wirtschaft genügend Anzeichen dafür, daß wir es künftighin verstärkt mit den Notwendigkeiten einer Harmonisierung von Lehre, Anpassung an veränderte Arbeitsplatzbedingungen und beruflicher Fortbildung zu tun haben werden, und zwar als einen das ganze Berufsleben begleitenden Ausbildungsprozeß. Eine ganz unerläßliche Voraussetzung für diese Harmonisierung des Ausbildungsprozesses ist die Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Es ist heute gänzlich unbestritten, daß es zu den wichtigsten Aufgaben der Arbeitsmarktpolitik überhaupt gehört, für eine den wirtschaftlichen, technischen, sozialen und beruflichen Verhältnissen und ihren Entwicklungsperspektiven entsprechende Eingliederung jugendlicher Berufsanfänger zu sorgen. Hierzu sind sehr detaillierte Kenntnisse nicht nur der augenblicklichen Berufsstrukturen, sondern auch der sie bestimmenden langfristigen Entwicklungstendenzen notwendig.
Der augenblickliche Stand von Berufsforschung und Berufsstatistik ist keineswegs ausreichend, die Zukunftsaussichten der einzelnen Berufe bzw. der Ausbildungsformen und -wege mit Sicherheit zu beurteilen. Die Berufsberatung, so qualifiziert und bemüht ihre Mitarbeiter auch sind, ist völlig überfordert, solange ihr für Berufsaufklärung und Berufsberatung nicht möglichst einwandfreie Daten insbesondere nach Art und Zahl des Nachwuchsbedarfs zur Verfügung stehen. Zwar hilft die Berufsberatung nach besten Kräften — und ich glaube, wir schulden ihr großen Dank dafür —, sie verfügt aber keineswegs über das auf berufskundlichen Forschungsergebnissen beruhende Grundlagenmaterial.
Der Leiter der Berufsstatistik im Statistischen Bundesamt äußerte sich dazu wie folgt — ich zitiere —:
Eine systematische Vervollständigung der Berufsanalysen ist, insbesondere mit den modernen Mitteln der Technik, noch nicht in Angriff genommen. Die Notwendigkeit einer amtlichen Koordinierung dieser Arbeiten und einer zentralen Dokumentation ist offenbar erkannt. Der Weg hierzu bedarf noch der Erschließung.
Meine Damen und Herren, die Folge dieser unzulänglichen Grundlagen statistischer und wissenschaftlicher Art ist ein kaum noch zu verantwortendes Maß beruflicher Fehlleitungen. Die betriebliche Bedarfsdeckung mit Nachwuchskräften ist seit Jahren weit entfernt von den volkswirtschaftlichen Erfordernissen. Ich will das hier nicht nur so pauschal sagen, sondern drei Beispiele dazu geben.
Das erste Beispiel ist einer vor einiger Zeit erschienene Veröffentlichung des Deutschen Industrie- und Handelstages entnommen, bezogen auf die Untersuchung eines großen Hüttenwerks in der Bundesrepublik. Von den ca. 5000 Beschäftigten, so hieß es darin, waren nur etwa 25 % Facharbeiter. Unter den 75 % der Arbeitnehmer, die ursprünglich nicht die Absicht hatten, in einem Hüttenwerk zu arbeiten, befanden sich etwa — ich nenne runde Zahlen —200 aus erlernten kaufmännischen oder Büroberufen; 1260 hatten als Metallhandwerker, 110 als Maurer, 260 als Zimmerer und Tischler gelernt. Außerdem befanden sich darunter 110 Maler, 220 Bäcker und Konditoren, 90 Fleischer, 40 Sattler, 90 Schneider und Schuhmacher, 50 Dachdecker, 40 Gärtner, 20 Köche und Kellner und 40 Friseure. Etwa die Hälfte aller in diesem Hüttenwerk beschäftigten Arbeitnehmer kommen aus Berufen, die ursprünglich nichts mit der Beschäftigung im Hüttenwerk zu tun haben, und zwar alles Berufe mit einer in der Regel dreijährigen Lehrzeit. Bitte sehr!