Rede von
Fritz
Erler
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bevor ich zu den einzelnen Fragen, die in der Drucksache 2611 aufgeführt sind, komme, möchte ich zum Thema Bildungsnotstand einige Vorbemerkungen machen.
Der Bildungsnotstand ist eine bedauerliche Tatsache und nicht etwa eine Übertreibung. Man muß vor jeder Bagatellisierung warnen. Wer der Meinung ist, daß auf diesem Gebiete in Wahrheit alles zum besten bestellt sei, der tut dem Bildungswesen in der Bundesrepublik 'Deutschland einen schlechten Dienst.
Vom Stand unseres Bildungswesens hängt die Stellung unseres Volkes heute und morgen und übermorgen im Wettbewerb mit anderen Völkern ab, und zwar nicht nur im Wettbewerb auf den Weltmärkten mit den anderen großen Industrienationen, sondern auch im Wettbewerb zwischen einer freiheitlichen Ordnung und einer totalitären Ordnung.
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Erler
Wir wissen selbstverständlich, 'daß es dabei nicht nur auf die Menge der zu bildenden jungen Menschen ankommt, sondern auch auf den Bildungsinhalt. Wir haben an Quantität und Qualität gleichermaßen zu denken. Aber wir müssen dabei beachten, daß es angesichts des heutigen Notstandes nicht nur um die Qualität einiger, sondern auch um die Ausbildung möglichst vieler Menschen für unser Volk und für ihre spätere Leistung geht.
Dazu ist der Ausbau unseres Erziehungswesens von der Grundlage her, von der Volksschule her, bis hinauf zur Hochschule und zur Forschung erforderlich. Wir brauchen ein breites Fundament, auf dem sich dann alle Einrichtungen der weiterführenden Bildung und Ausbildung aufbauen können.
Das ist u. a. zusätzlich durch den Siegeszug der Automation notwendig geworden. Sie verändert das Berufsbild der Menschen erheblich. In 20 Jahren werden nur sehr wenige Menschen in ihrem Beruf das gleiche Berufsbild, die gleichen Anforderungen wie heute vorfinden. Das bedeutet, daß wir nicht nur für bestimmte berufliche Qualitäten ausbilden oder gar „abrichten" dürfen, sondern daß wir den jungen Menschen ein breites Fundament an wirklicher Bildung mit auf den Weg geben müssen, weil nur von dieser Bildung her die notwendige spezielle Ausbildung in variabler Form jeweils aufgestockt werden kann. Daher ist die Bildung schlechthin und nicht nur die fachliche Ausbildung das entscheidende Fundament, um das es bei diesen Debatten geht.
Wir brauchen nur in die Vereinigten Staaten zu blicken, um zu sehen, wie eng die Zusammenhänge zwischen wirtschaftlicher Entwicklung, sozialer Stellung, sozialen Problemen und dem Stande des Bildungswesens sind. Nicht umsonst wird in den Vereinigten Staaten von Amerika das Schicksal der Arbeitslosigkeit vornehmlich von der farbigen Bevölkerung getragen, im wesentlichen deshalb, weil es für die farbige Bevölkerung einen jahrzehntelang noch nicht aufgeholten Rückstand an Erziehungsmöglichkeiten gegeben hat und weitgehend noch heute gibt. Qualifiziert gebildete und darüber hinaus fachlich ausgebildete Menschen erleiden auch drüben, in jener großen Industrienation, selten oder nur kurz das Schicksal der Arbeitslosigkeit, das im wesentlichen das Schicksal derer ist, die nur eine bestimmte Handfertigkeit erlernt haben, die im Zuge der Automation eines Tages nicht mehr gefordert wird.
Damit bin ich bei der ersten Frage unserer Großen Anfrage. Wir fragen die Bundesregierung, ob sie bereit ist, bei der Erarbeitung eines nationalen Bilnungsplanes mitzuwirken. Der ist notwendig, weil wir große Anstrengungen machen müssen, um unser ganzes Bildungswesen auf den Stand der Notwendigkeiten im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zu bringen.
Wenn wir nicht bald in allen deutschen Bundesländern das neunte Schuljahr allgemein haben und auch die Vorbereitungen treffen für das zehnte Schuljahr, also zur Vermittlung von Bildungsgütern an eine wesentlich größere Zahl von Menschen als heute, dann werden wir in 20 Jahren — ich nenne dieselbe Zahlengrenze noch einmal — nicht Gastarbeiter in Deutschland haben, die uns bei der Erarbeitung unseres Sozialproduktes und damit unseres Wohlstandes behilflich sind, sondern dann werden die Deutschen die ungebildeten Hilfsarbeiter Europas sein.
— Jawohl, so ist es. Sie schütteln mit dem Kopf. Sie sind sich offenkundig der Bedeutung dieses Problems für die Zukunft unseres Volkes noch nicht bewußt.
— Das läßt sich nicht durch Kopfschütteln aus der Welt schaffen.
Unser einziger Reichtum in diesem Lande sind unsere Köpfe und unsere Hände. Wenn Sie nicht dafür sorgen, daß diese Köpfe und Hände ausreichend gebildet und ausgebildet werden, dann fallen wir gegenüber anderen Völkern zurück.
Wenn es heute schon so ist, daß in einem Teil der Länder der Bundesrepublik Deutschland der relative Schulbesuch der 15- bis 19jährigen hinter dem Italiens zurückbleibt, dann sollte das für Sie ein Alarmsignal sein, meine Damen und Herren.
Um vielleicht denen, die bei dieser Bemerkung fahrlässigerweise mit dem Kopf geschüttelt haben, ein paar Zahlen in Erinnerung zu rufen: Der relative Schulbesuch der 15- bis 19jährigen betrug in den Vereinigten Staaten von Amerika 66,2 %. Allerdings ist das nicht ganz vergleichbar, weil es dort nicht das System der deutschen Berufslehre gibt, sondern ein erheblicher Teil der Berufsausbildung in den Schulen stattfindet.
— Das hat gar nichts mit dem Abitur zu tun. Ich spreche von den 15- bis 19jährigen schlechthin in den verschiedensten Zweigen, ob sie das Abitur erreichen oder nicht. — In Schweden waren es 32,3 %, in Frankreich 30,8 %; der Bundesdurchschnitt beträgt 17,6 %.
Wir können aber auch von dem Niveau sprechen, das unserem Abitur vergleichbar ist. Dieses Niveau erreichen in der Bundesrepublik Deutschland 7,1 %, in Schweden 13,7 %, in Frankreich 16,8 %.
Noch eine andere Zahl, die zeigt, wie hoch ein Volk den Bildungsaufwand einschätzt: Vom Sozialprodukt werden für Bildungsaufgaben in den Vereinigten Staaten von Amerika 6,2 %, in der Sowjetunion 7 % und in der Bundesrepublik Deutschland 3,8 % verwendet.
Diese Zahlen zeigen schon rein quantitativ, wieviel aufzuholen ist. Daß es dabei natürlich auch um die Qualität geht, das sei hier gar nicht verschwie-
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gen. Aber die steht eben auch im Zusammenhang mit dem, was man insgesamt für diese große nationale Aufgabe zu opfern bereit ist.
Wir müssen unsere Bildungsreserven — daß es welche gibt, darauf komme ich noch zu sprechen — besser ausschöpfen und gleichzeitig dem einzelnen das für ihn nach seiner Begabung, seiner Neigung, seinem Leistungswillen Richtige mit auf den Weg geben. Es geht also um die Vielfältigkeit der Chancen. Es geht darum, daß wir unser Bildungssystem nicht mehr wie bisher in zu frühem Alter so abschotten, daß es keine Übergänge mehr gibt. Wir müssen für ein höheres Maß an Durchlässigkeit sorgen, damit Begabungen, die sich erst zu einem späteren Zeitpunkt in einer bestimmten Richtung herausstellen, dann auch noch diesen ihnen gemäßen Weg einschlagen können.
Das alles sind Dinge, die in der letzten Zeit hier und auch auf der Kultusministerkonferenz sorgsam besprochen worden sind. Auch in denjenigen Bundesländern, die sich bisher sehr zurückhaltend gezeigt haben, sind nun endlich Anfänge gemacht worden.
Es geht also um Angebote nach Begabung, Leistung und Neigung, um den Aufstieg in die führenden Positionen von Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Es müssen Bildungseinrichtungen durchlaufen werden, um dorthin zu gelangen, und dieses Durchlaufen der Bildungseinrichtungen darf sich nur nach der Begabung und dem Leistungswillen des jungen Menschen selbst richten, nach keinem anderen Maßstab, auch nicht nach den sozialen Verhältnissen oder den Beziehungen des Elternhauses.
Nur so wird unsere Gesellschaft in vollem Umfang eine demokratische und gleichzeitig eine bewegliche, dynamische Gesellschaft, in der alte Vorrechte dahinschmelzen. Das Bildungswesen ist ein wesentliches Mittel, um diesen erstrebten Zustand unserer Gesellschaft im Sinne unseres Grundgesetzes herbeizuführen.
Die Bildung von heute entscheidet weitgehend — bei weitem nicht allein — über Einkommen von morgen, aber vor allem über die Zusammensetzung der sozialen Führungsschicht von übermorgen. Unser Volk braucht die in ihm vorhandenen Begabungen am richtigen Platz. Das ist für den einzelnen und seine Lebenserfüllung wichtig. Das ist aber auch wichtig für das ganze Volk, damit es den Wettbewerb mit anderen erfolgreich bestehen kann.
Dabei wollen wir natürlich nicht vergessen — ich deutete das vorhin schon an —, daß es sehr auf den Inhalt dessen ankommt, was mit Bildung und Ausbildung — die ja nicht identisch sind — vermittelt wird. Es kann dabei nicht nur um die rein fachliche Ausrichtung gehen. Es geht um umfassende Bildung und damit nicht nur um die Aufnahme des geistigen Erbeis unseres Volkes und unserer Zivilisation durch unsere heranwachsenden Bürger, sondern auch um die Erziehung zu den Grundwerten und ethischen Prinzipien, auf denen unser freiheitliches demokratisches Staatswesen beruht.
Das ist mehr als Auswendiglernen von Texten, das ist mehr als Buchstabenwissen. Der miine „Fachidiot", der in seinem Beruf hervorragend spezialisiert war, der aber nicht über eine breitere Bildung und auch nicht über dieses Stück politischer Bildung im Sinne der Erziehung zum politischen Engagement hin verfügte, war und ist in allen Staaten der Welt ein willkommener Rohstoff für jede Form von Gewaltherrschaft.
Die demokratische Gesellschaft braucht den gebildeten und seiner Verantwortung bewußten Mitbürger. Deshalb ist die politische Bildung immer auch ein wesentlicher Teil der Erziehung: Erziehung zum Engagement, Erziehung zum Einstehen für die Werte der freiheitlichen Ordnung. Das kann nicht gelehrt, das muß zu einem großen Teil vorgelebt werden.
Damit geben wir ohne weiteres zu, daß dies nicht allein das Werk der Schule sein kann. Die Schule kann nur einen Teil dieser Aufgabe leisten; einsetzen muß das im Elternhaus, und im übrigen muß hierzu die gesamte Gesellschaft beitragen: die Umgebung, in der der junge Mensch heranwächst und in der der Staatsbürger späterhin wirkt, ob das nun das Bethiebs- oder Vereinsleben oder die Gewerkschaft oder die Partei ist, überall ist noch dieses Stück staatspolitischer Bildung und Erziehung zu leisten. Sie hört in Wahrheit nie auf. Die Staatsführung muß in diesem Prozeß zur Verantwortung hin mißt gutem Beispiel vorangehen.
Damit, meine Damen und Herren, bin ich bei der zweiten Frage:
Wie kann nach Auffassung der Bundesregierung 'das zwischen den elf Bundesländern vorhandene starke Bildungsgefälle überwunden werden?
Schauen wir uns zunächst das Vorhandensein dieses Gefälles an! Ich erwähnte vorhin den relativen Schulbesuch der 15- bis 19jährigen und rufe in Erinnerung: Der Bundesdurchschnitt liegt bei 17,6 %. Aber in Hamburg sind es 31,1 %, in Berlin 27,4 %, in Flächenländern wie Hessen und Niedersachsen 19,7 % und 18,5%.
— Später komme ich noch auf Schleswig-Holstein zurück: ,als Sonderfall aus Ihren Reihen sehr weit oben, jawohl! — Aber unter dem Bundesdurchschnitt und sogar noch nach Italien liegen Nordrhein-Westfalen mit 14,8 %, Bayern mit 14,1 %, Rheinland-Pfalz mit 13,6 % und das Saarland mit 11,8 %.
1963 besuchten in Bayern nur 28,6 % der Volksschüler voll ausgebaute, also mindestens achtklassige Schulsysteme, in Rheinland-Pfalz 29,2 %, in Schleswig-Holstein — jawohl, Herr Kollege Stoltenberg — und Hessen 60 %.
Ich spreche hier zunächst nur von ,dem Bildungsgefälle zwischen den deutschen Ländern. Daß es dabei auch den einen oder anderen politischen Zusam-
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menhang gibt, brauchen wir ja nicht zu verschweigen. Darauf komme ich nachher zurück.
Von 100 13jährigen besuchten 1963 Mittelschulen in Berlin 22,7, in Schleswig-Holstein 18,7, in Hessen 15,8. Der Bundesdurchschnitt liegt bei 11,1. Weit darunter liegen Baden-Württemberg mit 6,3 und Rheinland-Pfalz mit 4,2.
Die Klassenfrequenzen an Gymnasien schwanken zwischen 23,9 je Klasse in Berlin und 31,2 'in Rheinland-Pfalz.
Die Ausgaben je Volksschüler betrugen 1962 in Hamburg 1331 DM, in Bayern 859 DM, in 'Rheinland-Pfalz 848 DM, im Saarland 773 DM.
Schließlich noch der Fremdsprachenunterricht an Volksschulen, weil er heute auch ein Mittel ist, für viele Berufe besser tauglich zusein und auch am geistigen Austausch mit unseren Nachbarvölkern teilnehmen zu können, z. B. auch in den deutschfranzösischen Begegnungen: in Westberlin fast 100 % — .an Volksschulen! —, in Schleswig-Holstein 46,9 % — für ein Flächenland eine erstaunliche Leistung! —, in Hamburg 37,6 %, in Hessen 28,1 %, im Saarland 15,3 %, aber imindustriereichen Nordrhein-Westfalen nur 3,4 % und in Rheinland-Pfalz nur 1,7 %.
Das als Beispiel für das vorhandene Bildungsgefälle.
Wenden wir uns nun dem Problem des Lehrermangels zu. 1970 werden wir 2,3 Millionen Schüler mehr haben. Gleichzeitig werden 44 % des heutigen Lehrerstandes aus dem Schuldienst ausgeschieden sein. Rund 300 000 neue Lehrer werden gebraucht. Weder die Ausbildungsmöglichkeiten noch die Bereitschaft, den Lehrerberuf zu ergreifen, sind in ausreichendem Maße vorhanden. Außerdem stoßen wir beim Lehrermangel auf dasselbe Problem, das uns bei den verschiedensten anderen Berufen bis hin auch zum Offiziersnachwuchs immer wieder beschäftigt, nämlich auf den Mangel an Abiturienten. In unserem Lande werden einfach nicht genug Menschen bis zu dieser Bildungsschwelle hin erzogen.
Die Länder mit dem größten Lehrermangel und ohne 9. Schuljahr haben gleichzeitig auch die schlechteste Nachwuchslage. Wir sehen das an einem Vergleich der Zahl der Studierenden im Verhältnis nu der der aktiven Lehrer: in Hamburg 74,19 %, in Berlin 54,16 %, in Bayern 19,64 %, in Rheinland-Pfalz 19,17 %. Das macht klar, daß unser Schulwesen überall des Ausbaues bedarf, vor allem das ländliche Schulwesen, wo noch die größten Begabungsreserven unerschlossen sind, daß aber — das war aus den Zahlen doch wohl deutlich zu erkennen — offensichtlich in einigen Ländern der Rückstand besonders groß ist und daß es deswegen eines erheblichen politischen Impulses bedarf, um zunächst auch diese Nachzügler unter den deutschen Ländern zum Anschluß mindestens an das allgemeine deutsche und hoffentlich Später alle zusammen an das allgemeine heutige europäische Niveau zu bewegen.
Ich erinnere daran, wie hart in den meisten Landtagen der Kampf um die Schulgeldfreiheit, Land für Land, ausgefochten werden mußte, unmittelbar nach 1945. Das macht offenkundig, daß sich in diesen Zahlen eben doch auch etwas von der politischen Geschichte der einzelnen deutschen Länder widerspiegelt.
Ich erinnere an die dogmatische Front, die sich in vielen Ländern gegen die Mittelpunktschule gebildet hatte und die sich erst heute allmählich aufzulockern beginnt, nachdem sich in Bayern erfreulicherweise Kardinal Döpfner für die Mittelpunktschule ausgesprochen hat. Daraus wird klar, daß wir beim Ausbau des Schulwesens zum Teil auf erheblichen politischen Widerstand gestoßen sind, der sehr erkennbar mit den Mehrheitsverhältnissen in den einzelnen deutschen Landtagen zusammenhing.
Das gleiche gilt für Art und Ausbau der Lehrerbildung. Das Dunkel der „Pädagogischen Provinz", das in den einzelnen Provinzen unseres Heimatlandes sehr verschieden ist, hat also auch Zusammenhänge mit den Mehrheitsverhältnissen, — mit der einen großen Ausnahme: das ist Schleswig-Holstein.
— In Schleswig-Holstein sind die Weichen nach 1945 richtig gestellt worden. Erfreulicherweise hat ein Mann wie Edo Osterloh, dem wir alle zu großem Dank verpflichtet sind, hier sein Möglichstes getan, um das auszubauen.