Rede von
Erwin
Folger
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Sie finden darin auch die Aufforderung an die Leser, bestimmte Fragen an ihre Abgeordneten zu stellen.
Nun, auch wir Sozialdemokraten sind der Meinung, daß die Reportage in der Illustrierten strekkenweise oberflächlich ist, daß sie etwas zu sehr dramatisiert, daß sie simplifiziert und daß sie des-halb nicht allzu schwer genommen werden muß. Aber sagen Sie bitte nicht, sie sei überhaupt nicht beachtlich. Es stehen einige richtige Einsichten darin, die wir uns zu Herzen nehmen und überlegen sollten. Ich finde es sogar ganz erfreulich, daß sich eine weitverbreitete Illustrierte einmal nicht mit Soraya oder Farah Dibah oder Romy Schneider oder der Prinzessin Irene beschäftigt, sondern mit einem ernsthaften Lebensproblem unserer Bevölkerung.
Wenn ich auch zugebe, daß auch die SPD nicht lange und nicht energisch genug hinter der Sache her war, wissen wir uns doch gegenüber dem Vorwurf, nicht aufbegehrt zu haben, frei von Schuld. Der einstimmige Beschluß des Bundestages vom 27. Juni 1962 ist auf Initiative der SPD-Bundestagsfraktion zustande gekommen. Am 29. Januar 1963 haben die Bundesminister für Wirtschaft und für Arbeit dem Herrn Bundestagspräsidenten mitgeteilt, daß ein umfassendes Gesetz in kurzer Zeit nicht erstellt werden könne; der Gesetzentwurf werde zunächst nur die gewerbliche Wirtschaft umfassen können; sie seien bemüht, den Gesetzentwurf vor Beginn der Parlamentsferien vorzulegen. Das wäre der 1. Juli 1963 gewesen. Die SPD-Bundestagsfraktion hat den Herrn Bundestagspräsidenten damals gebeten, die Bundesregierung darauf aufmerksam zu machen, daß eine solche Mißachtung des Parlaments nicht geduldet werden könne, und ihr einen kurzen Termin für die Vorlage zu stellen. Die SPD hat einige Zeit später eine Kleine Anfrage eingebracht, auf die die Bundesregierung dann geantwortet hat, sie werde den Gesetzentwurf sobald als möglich vorlegen. Da war schon kein Termin mehr genannt, sondern nur noch die vage Formulierung „sobald als möglich" gebraucht. Auf die Reklamation hin haben dann die beiden Bundesminister merkwürdigerweise dem Bundestagsdirektor geschrieben, über den Sachstand berichtet, aber überhaupt kein Versprechen mehr gemacht, wann eine Vorlage erfolge. Deshalb waren wir genötigt, jetzt die Große Anfrage einzubringen.
Wenn man die wiederholten Begründungen der Bundesregierung liest, warum sie den Entwurf noch nicht habe vorlegen können: weil die Zeit zu kurz sei, wegen der notwendigen Vorarbeiten, der Abstimmungenmit den Ressorts und den Spitzenorganisationen, wegen der Notwendigkeit einer rechtsförmlichen Prüfung, wegen der Komplexität der Materie, dann könnte man meinen, wir hätten die Bundesregierung ganz verblüffend aus heiterem Himmel vor eine schwierige neue Aufgabe gestellt. Dem
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ist gar nicht so. Der alte Ben Akiba hat auch hier wieder recht: es gibt nichts, was nicht schon einmal unter der Sonne war. Die Materie ist schon ewig lange gründlich beraten und vorbereitet worden. Es gibt eine ganze Menge ausgezeichneter Arbeiten darüber, deren sich die Bundesregierung hätte bedienen können.
— Den Stein der Weisen braucht sie nicht zu finden, Herr Diebäcker. Aber eine gute Vorlage hätte in der Zeit schon gemacht werden können, wenn man sich auf die Vorlagen gestützt hätte, die es auf dem Gebiet schon gibt.
Ich werde Sie noch an ein paar dieser Vorlagen erinnern. Es hätte möglich sein müssen, wenn schon nicht termingerecht, dann wenigstens ein Jahr später die Vorlage zu machen. Ich muß sagen, wenn bei der Verteidigung auch so langsam gearbeitet worden wäre, dann hätten wir heute noch keine Bundeswehr. Aber wir haben eine, obwohl es bestimmt eine schwere Aufgabe war, die Bundeswehr aus dem Nichts heraus aufzustellen.
Lassen Sie mich die Behauptung, daß die Sache schon lange behandelt worden ist, stichwortartig begründen. Am 5. Juli 1928 haben auf der Drucksache 182 der 4. Wahlperiode des Deutschen Reichstages Dr. Breitscheid und Fraktion den Antrag eingebracht:
Der Reichstag wolle beschließen, die Reichsregierung zu ersuchen, dem Reichstag baldigst nachstehende Vorlagen zu unterbreiten:
Da heißt es unter dem Buchstaben c) : Entwurf eines Berufsausbildungsgesetzes. Ungefähr ein Jahr später, am 29. Juli 1929, hatte die Reichsregierung dein Reichstag den Entwurf eines Berufsausbildungsgesetzes nach Zustimmung des Reichsrates und mit einem Gutachten des vorläufigen Reichswirtschaftsrates vom 9. Februar 1929 vorgelegt. Am 2. Dezember 1929 war im Reichstag dann die erste Lesung.
. Der damalige sozialdemokratische Reichsarbeitsminister Rudolf Wissell, der vor wenigen Monaten gestorben ist, hatte dazu u. a. gesagt, daß die bisherige Reichsgesetzgebung auf dem Gebiet der Berufsausbildung zersplittert, unzulänglich, lückenhaft und zum Teil auch veraltet sei. Als ich vor ein paar Tagen die einschlägigen Reichstagsdrucksachen durchsah, war ich einfach baff darüber, daß damals nahezu wörtlich dasselbe gesagt worden ist, was auch wir bei der Begründung unseres Antrages im Jahre 1962 gesagt haben, ohne daß wir uns die Reichstagsdrucksachen damals vorher angesehen hätten. Diese nahezu geisterhafte Ähnlichkeit kommt deshalb nicht etwa vom Abschreiben, sondern davon, daß 35 Jahre später immer noch derselbe Zustand besteht.
Der Reichsarbeitsminister Wissell hatte damals darauf hingewiesen, daß der Entwurf gemeinsam mit dem Reichswirtschaftsminister erarbeitet worden sei. Er sei der erste Versuch, das gesamte Gebiet der Berufsausbildung einheitlich zu regeln, mit Ausnahme der Landwirtschaft, für die ein Sondergesetz vorgelegt werden sollte, und mit Ausnahme der Arbeitsverhältnisse zwischen Jugendlichen und ihren Eltern. Von dem bisherigen Verfahren der Einzelregelung für besondere Berufe oder Berufsgruppen sei abgewichen worden. Damit sei aber keine schematische, gleiche Regelung für verschiedenartige Verhältnisse geschaffen. Die ins einzelne gehenden Regelungen blieben den gesetzlichen Berufsvertretungen überlassen.
Anscheinend hat der damalige Reichsarbeitsminister auch schon gegen die Vorwürfe ankämpfen müssen, daß er oder seine Fraktion oder die Reichsregierung etwas schematisieren oder vereinheitlichen wolle, wie auch uns seit Jahren ständig vorgeworfen wird, wir wollten verstaatlichen, wir wollten schematisch vereinheitlichen, wir wollten — das hat der Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, Herr Wild, unlängst in einer Zeitung geschrieben — die Vielfalt von Tausenden von Berufen — die es übrigens gar nicht gibt, es gibt 600 — in ein Einheitsschema pressen.
Die SPD-Fraktion hat bisher gar nichts getan, was einen solchen Vorwurf rechtfertigen würde. Im Gegenteil, wir haben bei jeder Gelegenheit versichert, daß wir selbstverständlich die Möglichkeit offenhalten wollen, die notwendigen Einzelregelungen durch die Träger der Berufsausbildung auch weiterhin durchführen zu lassen. Wir sind der Meinung, daß die ständige Wiederholung dieses Vorwurfs trotz besseren Wissens direkt als bösartig bezeichnet werden muß. Sie kommt uns genauso vor wie der üble Trick, jede Kritik an der Regierung oder an unserer bestehenden Ordnung als kommunistisch abzutun. Wir können uns das nur so erklären, daß da Kräfte am Werk sind, die im trüben fischen wollen und weiter schludern wollen; sonst wäre es einfach nicht möglich, uns wider besseres Wissen dauernd derartige Vorwürfe zu machen.
Der Geltungsbereich des damaligen Reichstags-entwurfs erstreckte sich nicht nur auf Lehrlinge, sondern auch auf die An- und Ungelernten, damit die Arbeitgeber nicht von Lehrverhältnissen auf andere Arbeitsverhältnisse mit Jugendlichen ausweichen konnten. Der Entwurf war für die Beschäftigung aller Jugendlichen gedacht. Dafür sollten gewisse Mindestvorschriften gelten. Der wichtigste Grundgedanke in dem damaligen Entwurf war, daß eine ordnungsgemäße Berufsausbildung, die den Absichten des Gesetzes und den Bedürfnissen der Wirtschaft entspricht, nur in Betrieben erfolgen kann, die von vornherein nach Art und Umfang als Lehrbetriebe geeignet sind und deren Inhaber selbst die Reife und die berufliche Befähigung besitzen, die unerläßlich sind, wenn junge Menschen zu Facharbeitern und Berufsgenossen herangebildet werden sollen. Diese Vorschrift — dieser Meinung war Wissell damals — liege im Interesse jeder Berufsgruppe. Es sollten keine neuen Behörden geschaffen werden. Es sollte an das Bestehende angeknüpft werden. Die bestehenden gesetzlichen Berufsvertre-
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tungen sollten zu Trägern des Verfahrens gemacht und die Durchführung den paritätischen Selbstverwaltungen auf der Grundlage der Gleichberechtigung anvertraut werden.
In der Begründung heißt es noch: Der bisherige Zustand genüge den Ansprüchen weder der Wirt- schaft noch der Gesellschaft. Es sei eine umfassende gesetzliche Ordnung der Berufsausbildung im Betriebe notwendig. Aus dieser Erkenntnis sei der Entwurf entstanden. Eine geordnete Berufsausbildung werde bisher nur einem beschränkten Ausschnitt von Jugendlichen zuteil. — Das gilt auch heute noch.
Der Sozialpolitische Ausschuß des Vorläufigen Reichswirtschaftsrates hat eine Empfehlung eines Arbeitsausschusses, den Geltungsbereich auf gewerbliche Lehrlinge zu beschränken, abgelehnt und den Standpunkt vertreten, die Einbeziehung der gesamten erwerbstätigen Jugendlichen entspreche den wirtschaftlichen Notwendigkeiten und werde gutgeheißen. Die für die Landwirtschaft vorgenommene Ausnahme sei sachlich nicht berechtigt. Die Landwirtschaft solle einbezogen werden, und die Möglichkeit, für Bergbau und Hauswirtschaft abweichende Regelungen zu treffen, sei nicht notwendig.
Eine Delikatesse im Zusammenhang mit der ersten Lesung des Entwurfs im damaligen Reichstag ist, daß der kommunistische Abgeordnete Blenkle gesagt hat, die SPD sei keine revolutionäre und keine kämpferische Partei mehr. — Das ist mir vorhin auch eingefallen, als der Herr Bundestagspräsident Dr. Gerstenmaier von der hundertjährigen Geschichte unserer Partei gesprochen hat. — Blenkle hat behauptet, der Entwurf, den die Reichsregierung vorgelegt habe, sei reaktionär und gehe in Wirklichkeit ,auf die vorhergegangene sogenannte Bürgerblockregierung zurück.
Heute können wir sagen: wir könnten froh sein, wenn dieser sogenannte reaktionäre Entwurf Gesetz geworden wäre oder wenn er es wenigstens heute werden würde.