Rede von
Dr.
Hermann
Conring
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie haben von dem Herrn Berichterstatter gehört, daß an der ostfriesisch-oldenburgischen Nordseeküste aus drei bisherigen Bundestagswahlkreisen zwei gemacht werden sollen. Man fragt sich in der Bevölkerung, warum dies eigentlich geschehen muß. Und man nimmt dann die „Grundsätze für die Wahlkreiseinteilung" zur Hand, die die Wahlkreiskommission auf den Seiten 6 bis 8 der Drucksache IV/741 niedergelegt hat. Man kommt bei der Beantwortung dieser Frage dann zunächst einmal zu dem Ergebnis, daß der Vorschlag der Wahlkreiszusammenlegung nicht mit der Größe der beteiligten drei Bundeswahlkreise zu begründen ist. Die Bevölkerungszahl dieser Bundestagswahlkreise überschreitet in keinem Falle die Toleranzgrenze von 331/3 % nach oben oder nach unten, auch nicht .die Toleranzgrenze von 25 % nach oben oder nach unten, nicht einmal die Toleranzgrenze von 20 % nach oben oder nach unten. Man sollte deshalb davon ausgehen, daß hinsichtlich der Bevölkerungszahl dieser Wahlkreise keine Bedenken bestanden hätten, sie unverändert bestehen zu lassen. Zu dem Hinweis des Berichterstatters, daß die Bevölkerungszahl sich vermehren möge, damit man diesen Wahlkreis dann wieder einrichten könne, darf 'ich mitteilen, daß die Bevölkerungszahl sich jetzt laufend wieder vermehrt und daß es im übrigen gar nicht an der Bevölkerungszahl liegt, wenn der eine von den drei Bundestagswahlkreisen auf-
*) Siehe Anlage 5
4684 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 101. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. Dezember 1963
Dr. Conring
gelöst werden soll und die beiden anderen geändert werden sollen.
Wenn Sie statt der drei Bundestagswahlkreise — nach dem Vorschlag ,des Innenausschusses — zwei Bundestagswahlkreise bilden, werden Sie das Ergebnis haben, daß die neuen Bundestagswahlkreise genau um dieselben Zahlenprozente über dem Bundesdurchschnitt liegen, wie die bisherigen Wahlkreise unter dem Bundesdurchschnitt lagen. Das wäre allenfalls noch erträglich, wenn nicht in der Drucksache der Wahlkreiskommission zum Ausdruck gebracht wäre, daß die jetzigen Bundestagswahlkreise „erheblich unter der durchschnittlichen Einwohnerzahl der Wahlkreise" lägen, und wenn nicht dieselbe Wahlkreiskommission bei den gleichen Prozentsätzen, die sich beider Neuordnung — diesmal über dem Bundesdurchschnitt — ergeben, erklärt hätte, daß dieselben Zahlen „in verhältnismäßig geringem Umfang" den Bundesdurchschnitt überstiegen. Dieser Widerspruch in der Begründung ist natürlich auch in den Bundestagswahlkreisen aufgefallen. Man hat sich vergeblich die Frage vorgelegt, warum dieselben Zahlen in dem einen Falle „erheblich" und in dem anderen Falle unerheblich, „verhältnismäßig gering" seien. Dieser Widerspruch ist nicht aufgeklärt worden. Wir können, aber davon abgesehen, überhaupt keinen sachlichen Grund finden, den Wahlkreis Leer-Wittmund aufzulösen.
Ist die neue Lösung besser als die bisherige Lösung? Sie wissen, ,daß Ostfriesland eine historisch gewachsene Einheit darstellt. Ostfriesland ist ein Fürstentum gewesen, das im Jahre 1744 nach dem Aussterben des ostfriesischen Fürstenhauses an Preußen fiel. Es ist von 1744 über die napoleonischen Wirren hin bei Preußen geblieben und wurde 1815 dem Königreich Hannover zugeteilt. Als das Königreich Hannover im Jahre 1866 verschwand, wurde es wieder dem Königreich Preußen zugeteilt. Aber in all den Zeitläufen wurde die Einheit Ostfrieslands erhalten. Diese Einheit wurde auch nach 1945 beibehalten, als Ostfriesland zu Niedersachsen kam.
Jetzt soll in bezug auf die Bundestagswahlkreise diese historisch gewachsene Einheit aufgelöst werden, indem man einen Teil Ostfrieslands den Ostfriesen überläßt, während man den anderen Teil mit dem oldenburgischen Stadtkreis Wilhelmshaven, einer Stadt von über 100 000 Einwohnern, und einem Teil des oldenburgischen Landkreises Friesland verbindet. Wir haben in Ostfriesland keinerlei Verständnis dafür, daß diese alte Einheit Ostfrieslands, die stets respektiert wurde und die sich auch bisher in den Bundestagswahlkreisen durchaus günstig ausgewirkt hat, jetzt zerstört werden soll. Wir sind der Auffassung, daß die Herren, die diesen Vorschlag gemacht oder ihm zugestimmt haben, allzusehr von statistischen Zahlen ausgegangen sind und gewachsene historische Einheiten nicht genügend berücksichtigt haben.
Meine Damen und Herren, dieselbe Einheit besteht bezüglich der wirtschaftlichen und sozialen Struktur. Ostfriesland ist ein strukturell einheitlich ländliches Gebiet. Es gibt unsere Hafenstadt —
Emden — mit 45 000 Einwohnern. Die nächst größere Stadt Leer hat 22 000 Einwohner.
Wenn Sie diese Einheit — nicht nur die historisch-politische, sondern auch die wirtschaftliche und soziale Einheit — bei Neueinteilung der Bundestagswahlkreise auflösen und zu einem angeblich besseren Ergebnis kommen, dann haben Sie den Vorschlag vor sich, den Sie hier in der Vorlage finden. Ostfriesland soll dann also wahlkreismäßig so aufgeteilt werden, daß die Hafen- und Handelsstadt Wilhelmshaven mit über 100 000 Einwohnern mit der ländlichen Regierungshauptstadt Ostfrieslands und den ländlichen Kreisen Wittmund und Aurich verbunden wird, unbekümmert darum, daß zwischen der Stadt Wilhelmshaven und Ostfriesland verhältnismäßig wenig Beziehungen bestanden haben und bestehen.
Man fragt sich in Ostfriesland, warum denn alle diese Gesichtspunkte — die ausreichende Bevölkerungszahl, die historisch-politische Einheit, die wirtschaftliche und soziale Einheit — bei der Neueinteilung der Bundestagswahlkreise nicht berücksichtigt werden. Man liest in den „Grundsätzen", die sich die Wahlkreiskommission selbst gegeben hat, vergeblich nach. Von allen diesen Grundsätzen sind in diesem speziellen Falle so gut wie alle verletzt oder nicht berücksichtigt. Selbst die Zerschneidung eines Landkreises — des oldenburgischen Landkreises Friesland — findet hier statt, etwas, was nach der Auffassung der Wahlkreiskommission überhaupt nur dann Platz greifen dürfte, wenn sonst „untragbare Abweichungen" von der Einwohnerzahl gegeben wären.
Bei dieser Situation kann man sich nicht darüber wundern, daß sich die gesamte Bevölkerung von Ostfriesland eindeutig und energisch gegen diese Neueinteilung gewandt hat. Die politischen Parteien Ostfrieslands, gleich welcher Färbung, sind der Auffassung, daß die Neueinteilung eine wesentliche Verschlechterung des bisherigen Zustandes darstelle. Die wirtschaftlichen Korporationen — die Industrie- und Handelskammer, die Handwerkskammer, die Landwirtschaft, die Ostfrieslandstiftung u. a. — sind der einmütigen Meinung, daß hier keine Verbesserung, sondern eine Verschlechterung stattfindet. Auch die Presse, gleich welcher Richtung, hat erklärt, daß die Neuordnung — ich darf einmal zitieren — „kein Jota besser" sei als die bisherige Ordnung und daß kein Grund gefunden werden könne, der eine solche Neueinteilung rechtfertigen könne. Ja, eine der Zeitungen schließt ihre Betrachtungen damit ab, daß sie schreibt, wenn die Demokratie funktioniere, müsse es für uns bei der alten Einteilung bleiben; hier werde gegen die einhellige Volksmeinung ein bewährter Zustand nur verschlechtert.
Es ist mir einigermaßen unverständlich, daß man über diese einheitlichen Auffassungen einfach zur Tagesordnung übergegangen ist — auch im Ausschuß —, zumal irgendein ersichtlicher Grund, den man den Wählern in diesen ostfriesisch-oldenburgischen Wahlkreisen plausibel machen könnte, überhaupt nicht vorliegt.
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 101. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. Dezember 1963 4685
Dr. Conring
Bei dieser Sachlage, meine Damen und Herren, erhebt sich die Frage: Wie kann dem abgeholfen werden? Natürlich hätte man zu einer Neueinteilung der Wahlkreise in dem ganzen nordniedersächsischen Raum kommen können, ohne die Auflösung gerade dieses einen Wahlkreises an der Nordseeküste, zu der sich kein Grund darbietet, vorzuschlagen. Das hätte um so näher gelegen — und das ist den beteiligten Ausschußmitgliedern dargelegt worden —, als Ostfriesland ein Grenzland und ein Sanierungsgebiet ist, das sehr dringend darauf angewiesen ist, daß seine Abgeordneten im Bundestag u. a. auch die regionalen Interessen dieses Gebiets an der Nordseeküste, das etwas abseits gelegen ist, wahrnehmen.
Man könnte aber auch einen anderen Weg gehen. Denn wenn man zu einer Neueinteilung der verschiedenen nordniedersächsischen Wahlkreise käme, würde man natürlich wieder andere Wahlkreise berühren, die dann ihrerseits erklären würden: Hier bleibt zwar ein Wahlkreis erhalten, aber dort wird dafür ein anderer Wahlkreis aufgelöst. Deshalb bin ich mit einer Reihe von niedersächsischen Abgeordneten der CDU bei der Beratung dieses Gegenstandes zu dem Ergebnis gekommen, daß man in Ostfriesland den bisherigen Zustand belassen und statt der Auflösung einen neuen Wahlkreis für Niedersachsen schaffen sollte. Die Gründe, die gegen diesen Wunsch geltend gemacht werden, sind m. E. nicht durchschlagend. Ich will Sie damit nicht belästigen und auch nicht zu sehr ins einzelne gehen. Ich meine aber, daß der relativ beste und einfachste Weg wäre, nach dem bayerischen Vorbild zu verfahren und für Niedersachsen einen Wahlkreis mehr einzurichten, wie es in Niederbayern jetzt geschieht. Dann würde in Ostfriesland die alte Wahlkreiseinteilung bestehenbleiben können. Man sollte aber nicht — wie es in einem Kreistagsbeschluß heißt — „die verhängnisvolle und unzweckmäßige Zerreißung des bisher einheitlichen und in Jahrhunderten gewachsenen ostfriesischen Raumes" aus Gründen vornehmen, die keinem Menschen plausibel gemacht werden können.
Aus diesem Grunde habe ich mir erlaubt, den Antrag Umdruck 375 vorzulegen. Ich darf bei dieser Gelegenheit einen Druckfehler berichtigen, der sich beim Abschreiben eingeschlichen hat. Zu dem Wahlkreis 20, dem einen ostfriesischen Wahlkreis, der den Namen Aurich-Emden trägt, gehören die kreisfreie Stadt Emden, der Landkreis Aurich und der Landkreis Norden. Der andere ostfriesische Wahlkreis umfaßt die Landkreise Leer und Wittmund. Der dritte Kreis — Wilhelmhaven-Friesland — soll ebenfalls in dem alten Umfang bestehenbleiben.
Die notwendige Neueinteilung der Bundestagswahlkreise, gegen die man aus den bekannten, vom Berichterstatter vorgetragenen Gründen nichts einwenden kann — sie ist eine Notwendigkeit für die Gesamtheit —, sollte man nicht mit einem, wie wir meinen, schweren Unrecht gegenüber den an der ostfriesisch-oldenburgischen Küste liegenden Bundestagswahlkreisen belasten. Sie wissen vielleicht aus der Geschichte, daß die Friesen ein besonders ausgeprägtes Gefühl für Recht haben.
Aus den Reihen der Friesen sind große Rechtsdenker hervorgegangen, die Sie kennen. In der ostfriesischen Bevölkerung wird weitgehend die Auffassung vertreten, die u. a. in den Beschlüssen der ostfriesischen Landkreise und in den Beschlüssen der Städte Emden und Leer zum Ausdruck kommt, daß der ostfriesischen Bevölkerung kein Unrecht geschehen sollte, sondern daß ihr das Recht gegeben werden sollte, auf das sie Anspruch hat.
Deshalb bitte ich Sie herzlich, mit der Neueinteilung der Wahlkreise nicht eine, wie wir in Ostfriesland beinahe sagen müssen, willkürliche Auflösung eines einzelnen Wahlkreises zu verbinden, der keine Gründe für eine Auflösung aufweist. Ich bitte Sie deshalb, unseren Änderungsantrag Umdruck 375 anzunehmen.