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ID0401920500

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Deutscher Bundestag 19. Sitzung Bonn, den 14. März 1962 Inhalt: Fragestunde (Drucksache IV/239) Frage des Abg. Lohmar: Sondermarken zum 20. Jahrestag des 20. Juli 1944 Dr. Steinmetz, Staatssekretär . . . 625 B Frage des Abg. Rademacher: Münzfernsprecher auf Bahnsteigen der Bundesbahn Dr. Steinmetz, Staatssekretär 625 B, C, D Rademacher (FDP) 625 C, D Frage des Abg. Rademacher: Briefmarken- und Wechselautomaten der Bundespost Dr. Steinmetz, Staatssekretär . . . 626 A Fragen des Abg. Dr. Dittrich: Stellenzulagen für Beamte des mittleren Dienstes bei der Bundespost Dr. Steinmetz, Staatssekretär . . 626 B Frage des Abg. Keller: Ortstarif im Brief- und Fernsprechverkehr zwischen Bonn und Bad Godesberg Dr. Steinmetz, Staatssekretär . . 626 C, D, 627 A, B, C, D, 628A Keller (FDP) . . . . . . . . . 626 D Büttner (SPD) . . . . . . . . . 626 D Wittrock (SPD) 627 A, B Stiller (CDU/CSU) . . . . . . 627 C Hauffe (SPD) . . . . . . . . 627 C Ritzel (SPD) 627 D, 628 A Frage des Abg. Schmidt (Kempten) : Sonderstempel „Kampf gegen die Malaria" Dr. Steinmetz, Staatssekretär . . 628 A, B Schmidt (Kempten) (FDP) . . . . 628 B Frage des Abg. Blachstein: Versorgung der Gebiete Ostfriesland und Emsland mit Fernsehprogrammen Dr. Steinmetz, Staatssekretär . . 628 B, D Blachstein (SPD) . . . . . . . 628 C, D Frage des Abg. Ritzel: Bezüge des Prof. Dr. Gladenbeck als Geschäftsführer der Gesellschaft Freies Fernsehen von Eckhardt, Staatssekretär . . 628 D 629 B, C Ritzel (SPD) 629 B Dr. Hettlage, Staatssekretär . . 629 C Erler (SPD) 629 C Frage des Abg. Sanger: Äußerung des Bundeskanzlers über eine Konferenz der Außenminister Lahr, Staatssekretär . 629 D, 630 A, B Sänger (SPD) 630 A II Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. März 1962 Frage des Abg. Schmidt (Kempten) : Verurteilung deutscher Studenten durch ein römisches Schwurgericht Lahr, Staatssekretär . . . 630 B, C. D Schmidt (Kempten) (FDP) . . . 630 B, C Erler (SPD) 630 D Frage des Abg. Keller: Blumenspende bei Beerdigung von Bundesbediensteten Höcherl, Bundesminister . 630 D, 631 A Keller (FDP) 630 D Frage des Abg. Bauer (Würzburg) : Teilnahme von Mitgliedern österreichischer Jugendverbände am Winterlager des „Bundes Heimattreuer Jugend" Höcherl, Bundesminister . . . . 631 A, C Bauer (Würzburg) (SPD) 631 C Frage des Abg. Bading: Auskunftserteilung der Bundesregierung über die Ausführung der Beschlüsse des Bundestages Höcherl, Bundesminister 631 D, 632 A, B, C, D Bading (SPD) • . . . . 631 D, 632 A Dr. Mommer (SPD) 632 A, D Börner (SPD) 632 B Jahn (SPD) 632 B, C Ritzel (SPD) . . . . . . . . 632 C Frage des Abg. Busse: Tätigkeit von Richtern in Umlegungsausschüssen Dr. Strauß, Staatssekretär . . . 632 D, 633 A, B Busse (FDP) 633 A Dr. Ramminger (CDU/CSU) . . . 633 A Frage des Abg. Wittrock: Gesetzentwurf zur Reform des Strafregisters Dr. Strauß, Staatssekretär . 633 B, C, D Wittrock (SPD) 633 B, C Dr. Dittrich (CDU/CSU) . . . . 633 D Frage des Abg. Dr. Brecht: Gesetzentwurf über ein soziales Miet- und Wohnrecht Dr. Strauß, Staatssekretär 633 D, 634 A Dr. Brecht (SPD) . . . . 633 D, 634 A Frage des Abg. Dr. Brecht: Werkwohnungen und freifinanzierte neue Wohnungen bei der Regelung des sozialen Miet- und Wohnrechts Dr. Strauß, Staatssekretär . 634 B, C, D Dr. Brecht (SPD) 634 B Büttner (SPD) 634 C Fragen der Abg. Frau Dr. Diemer-Nicolaus: Zusammenveranlagung von Ehegatten zur Einkommensteuer Dr. Hettlage, Staatssekretär . 635 A, B, C, D Frau Dr. Diemer-Nicolaus (FDP) 635 B, C Frau Meermann (SPD) . . . . . . 635 D Fragen des Abg. Dr. Dollinger: Mangel an Zwei-Pfennig-Münzen Dr. Hettlage, Staatssekretär . . . . 636 A Fragen des Abg. Stiller: Betriebsprüfungen Dr. Hettlage, Staatssekretär . . 636 B, C Stiller (CDU/CSU) 636 C Frage des Abg. Müller (Nordenham) : Beihilfen für Gasölbetriebe Dr. Hettlage, Staatssekretär 636 D, 637 A Müller (Nordenham) (SPD) 636 D, 637 A Frage des Abg. Wendelborn: Zollfreier Treibstoff für den Segelflugsport Dr. Hettlage, Staatssekretär . . . . 637 A Entwurf eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Rechnungsjahr 1962 (Haushaltsgesetz 1962) (Drucksache IV/200) — Fortsetzung der ersten Beratung — Schoettle (SPD) . . . . . . . . 637 C Dr. Vogel (CDU/CSU) 645 C Kreitmeyer (FDP) 652 B Niederalt (CDU/CSU) 654 C Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möller (SPD) 658 C Dr. Schmidt (Wuppertal) (CDU/CSU) 662 A Dr. Deist (SPD) . . . . 664 B, 681 D Dr. Dr. h. c. Erhard, Bundesminister 674 A Dr. Dahlgrün (FDP) 678 A Dr. Burgbacher (CDU/CSU) . . . 679 D Hermsdorf ,(SPD) . . . 681 C, 688 A Struve (CDU/CSU) 682 D Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. März 1962 III Dr. Starke, Bundesminister . . . 683 C Ritzel (SPD) 688 C D. Dr. Gerstenmaier (CDU/CSU) 689 A Entwurf eines Gesetzes über die Feststellung ,des Wirtschaftsplans des ERP-Sondervermögens für das Rechnungsjahr 1962 (ERP-Wirtschaftsplangesetz 1962) (Drucksache IV/237) — Erste Beratung — Wacher (CDU/CSU) 690 B Zoglmann (FDP) . . . . . . . 690 B Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Einkommensteuergesetzes (SPD) (Drucksache IV/67) — Erste Beratung — Seuffert (SPD) . . . . . . . . 690 D Dr. Schmidt (Wuppertal) (CDU/CSU) 693 D Freiherr von Kühlmann-Stumm (FDP) 695 A Nächste Sitzung 695 D Anlage 697 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. März 1962 625 19. Sitzung Bonn, den 14. März 1962 Stenographischer Bericht Beginn: 9.03 Uhr.
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    Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich a) Beurlaubungen Arendt (Wattenscheid) 15. 3. Dr. Arnold 16. 3. Dr. Aschoff 14. 3. Dr. Atzenroth 23. 3. Dr. Dr. h. c. Baade 13. 4. Berlin 23. 3. Dr. Birrenbach 16. 3. Brand 15. 3. Dr. von Brentano 14. 3. Corterier 15. 3. Cramer 12. 4. Drachsler 15. 3. Dr. Dr. h. c. Dresbach 14. 3. Dr. Eppler 16. 3. Dr. Franz 14. 3. Dr. Furler 16. 3. Gerns 14. 3. Geiger 16. 3. Glombig 16. 3. Frau Herklotz 14. 3. Dr. Hesberg 6. 4. Hoogen 14. 3. Iven (Düren) 14. 3. Frau Jacobi (Marl) 16. 3. Dr. Kohut 20. 3. Kraus 16. 3. Dr. Kreyssig 15. 3. Krüger 31. 3. Kühn (Hildesheim) 16. 3. Leber 15. 3. Lenz (Bremerhaven) 16. 3. Lenze (Attendorn) 15. 3. Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich Liehr (Berlin) 16. 3. Dr. Löbe 16. 3. Dr. Löhr 14. 4. Dr. Baron Manteuffel-Szoege 14. 3. Margulies 14. 3. Dr. h. c. Menne (Frankfurt) 16. 3. Dr. Menzel 31. 3. Dr. Miessner 31. 3. Müller (Remscheid) 15. 3. Dr. Müller-Emmert 16. 3. Neumann (Allensbach) 16. 3. Oetzel 7. 4. Dr. h. c. Pferdmenges 23. 3. Pöhler 16. 3. Dr. Reinhard 16. 3. Reitzner 31. 3. Riedel (Frankfurt) 31. 3. Dr. Schneider 26. 3. Schulhoff 14. 3. Seifriz 16. 3. Dr. Sinn 16. 3. Steinhoff 16. 3. Storch 15. 3. Striebeck 23. 3. Strohmayr 14. 3. Verhoeven 16. 3. Frau Dr. h. c. Weber (Essen) 23. 3. Weinkamm 16. 3. Werner 14. 3. Dr. Winter 14. 3. Wullenhaupt 16. 3. b) Urlaubsanträge Schlick 14. 4.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Heinrich Deist


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein Haushaltsplan sollte nicht nur Gelegenheit zu Analysen und Schlußfolgerungen von Finanzpolitikern geben. Durch die Finanzpolitik, wie sie im Haushaltsplan ihren Ausdruck findet, werden nicht nur die Grundlagen und zugleich die Munition für die Politik geschaffen, die geführt wird, sondern die Finanzpolitik selbst und die Auswirkungen des Haushalts beeinflussen unmittelbar über die Einnahmen- und Ausgabenpolitik die Struktur von Wirtschaft und Gesellschaft. Selbst die Haushaltsrede des Herrn Bundesfinanzministers, die sich einer weitgehenden Zurückhaltung befleißigte hinsichtlich allgemeiner politischer Erörterungen, die üblicherweise in der Vergangenheit auch vom Herrn 'Bundesfinanzminister in der Haushaltsrede mit angestellt wurden, hat doch gewisse Ausführungen und gewisse Töne enthalten, die den politischen Hintergrund deutlich machen und im Zusammenhang mit den politischen Ausführungen gesehen werden müssen, die wir sonst zu hören bekommen zu einer Politik, für 'die dieser Haushalt die Grundlage abgibt.
    Meine Damen und Herren, ich meine, daß solche Ausführungen hierher gehören. Der Herr Bundesfinanzminister hatte mehrere Akzente gesetzt, die diesen Zusammenhang klarmachen. Mein Freund Alex Möller hat bereits auf den Tenor hingewiesen: das Grundübel 'der letzten Jahre sei, alles auf einmal zu wollen. Mit diesem Satz sollen, sicherlich nicht unbeabsichtigt, bestimmte Gedankenassoziationen in der Öffentlichkeit hervorgerufen werden. Denn in engem Zusammenhang damit steht z. B., was im letzten Lagebericht des Bundeswirtschaftsministers gesagt worden ist, nämlich: daß alles auf einmal gefordert werde, nämlich Lohnerhöhungen, Urlaub und Arbeitszeitverkürzung. Das ist ja die Diskussinn, die in einer sehr 'bedenklichen Weise zur Zeit in Deutschland geführt wird.
    Ein zweiter Satz in der Rede des Herrn Bundesfinanzministers lautete: Wir haben nicht zuwenig Einnahmen, sondern wir haben zu viele Ausgaben. Die Mehrheit dieses Hauses hat dazu frenetisch Beifall geklatscht. Offenbar hat sie daran gedacht, daß der Herr Bundesfinanzminister vorher gesagt hatte, wie diese Ausgaben sich zusammensetzen, nämlich zu 35 % aus Aufwendungen für die Verteidigung und zu 28,5 % aus dem, was die Bundesregierung als soziale Sicherung zu bezeichnen pflegt. Und man ,kann sich vorstellen, was diese Beifall klatschenden Abgeordneten dabei gedacht haben, als der Minister davon sprach, daß wir zu viele Ausgaben hätten. Mir scheint, daß das an jene Erklärungen anklingt, die von den Grenzen des Wohlfahrtsstaates und den Grenzen .der Sozialpolitik sprechen.
    Sodann enthielt diese Rede des Herrn Bundesfinanzministers, ich möchte sagen, einige gezielte kleine Hinweise. Der eine Hinweis war der auf die Lohn- und Gehaltsforderungen im öffentlichen Dienst. Da wurde eine sehr große Zahl genannt: wenn diese Forderungen durchgehen, kommen 1,7 Milliarden Ausgaben auf uns zu. Der Herr Bundesfinanzminister sagte: Wir haben in diesen Haushaltsplan nichts eingesetzt. Nun, nach Adam Riese wissen wir alle, daß das Ergebnis der Verhandlungen weder die 1,7 Milliarden sein werden noch der Betrag von null DM; zu einem anderen Angebot hat sich der Herr Bundesfinanzminister bisher offenbar nicht durchringen können. Ich möchte ihn fragen,



    Dr. Deist
    ob er damit die Idee hervorrufen wollte, daß die Bundesregierung der Auffassung ist, daß die Frauen und Männer des öffentlichen Dienstes an dem ständigen Wachsen des Volkseinkommens überhaupt nicht beetiligt werden sollen.
    In der Rede war auch wieder ein Satz enthalten von Lohnerhöhungen, die über den Produktivitätszuwachs hinausgehen. Da war der Satz enthalten, daß der Welthandel durch die Kosteninflation gefährdet sei. Der Herr Bundesfinanzminister konnte nicht umhin, auch die Steuern zu nennen; aber er nannte wohlweislich vorweg Löhne und soziale Abgaben. Und unser Kollege Vogel hat es dann sehr deutlich ausgesprochen, indem er von der gewaltsamen Aufpulverung des Konsums durch die Lohn- und ,Gehaltsentwicklung sprach und sogar meinte, die Zahlungsbilanzschwierigkeiten der USA und Großbritanniens seien ein Menetekel; sie seien offensichtlich auch auf die Lohn- und Gehaltspolitik zurückzuführen. Meine Damen und Herren, was ist das für eine armselige Wirtschaftspolitik, die als einziges bewegendes Element der Wirtschaft überhaupt nur noch die Lohn- und Gehaltsbewegung sehen kann!

    (Beifall bei der SPD.)

    In denselben Rahmen gehören die Darlegungen von Herrn Kollegen Schmidt (Wuppertal), der von „Lohntreiberei" mit ihren unweigerlich preissteigernden Tendenzen gesprochen hat. Ja, dann ist es nicht mehr weit bis zu jener Ausführung des Herrn Ferdinand Fried in der „Welt", der nach der Bereinigung der Tarifstreitigkeiten im Bereich der Metallindustrie durch einen Vertrag, der mit Unterstützung und Hilfe des baden-württembergischen Ministerpräsidenten zustande gekommen ist, glaubte schreiben zu dürfen: Es ist wie ein Dammbruch, der jetzt bei den Löhnen eingesetzt hat, nachdem man in der Metallindustrie auf die entscheidende Kraftprobe verzichtet hat.
    Da wird deutlich, was man will. Man will gar nicht, daß man sich friedlich zusammenrauft, sondern man wünscht im Grunde genommen Kraftproben; und darum macht man aus dem erfreulichen Ergebnis der Auseinandersetzung in der Metallindustrie, die ein Zeichen für das Verantwortungsbewußtsein dieser Gewerkschaft gewesen ist, den Beginn eines Dammbruchs.
    Hier geht es um eins der Kernprobleme unserer sozialen Ordnung. In dem Memorandum der acht evangelischen Laien und Theologen — über dessen Einzelteile man streiten kann, das aber doch einen Diskussionsbeitrag geleistet hat, der jedenfalls offiziell auch von Ihnen anerkannt worden ist — findet sich der wichtige Satz: Die soziale Ordnung ist nicht schon deshalb gesund, weil es den meisten gutgeht. Daß es vielen bei uns gutgeht, bestreitet niemand. Wir wollen heute keine Diskussion darüber entfachen, wer dazu beigetragen hat, aber wir sollten auch die Mängel sehen, die in unserer gesellschaftlichen Ordnung vorhanden sind.

    (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

    Einer der entscheidenden Mängel ist, daß es uns
    weder in der Weimarer Republik noch nach 1945
    gelungen ist, eine gesunde Einordnung der verschiedenen Kräfte einer freien Gesellschaft in das gesamte Gesellschaftsleben und in das Staatsgefüge zuwege zu bringen.

    (Abg. Dr. Besold: Na, na, na!)

    — Ich werde Ihnen gleich einiges dazu sagen.
    Großbritannien hat eine jahrhundertealte Entwicklung zur Demokratie hinter sich. Dort ist es beinahe selbstverständlich, daß sich die Wirtschaft wirtschaftspolitischen Entscheidungen beugt, sogar ohne daß dazu gesetzliche oder institutionelle Maßnahmen ergriffen werden müssen. Die Geschichte der Vereinigten Staaten beginnt mit der Gründung eines demokratischen Staates. Auch dort gibt es eine geschichtlich gegebene Einordnung der verschiedenen Kräfte. Wir tragen die Last einer vielhundertjährigen Geschichte. Es sind noch keine fünfzig Jahre her, daß bei uns die politischen Kräfte freigesetzt worden sind. Und wir tragen seit 12 Jahren das Schicksal einer CDU-Regierung, deren Aufgabe es gewesen wäre, die Grundlagen für eine solche Einordnung zu schaffen.

    (Abg. Dr. Vogel: Was für eine Bürde für Sie! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU.)

    — Ich habe es wenigstens nett gesagt, Herr Vogel; das werden Sie mir konzedieren müssen.
    In diesem Zusammenhang möchte ich auf das zurückkommen, was ich im Anfang sagte. Gestatten Sie mir, den Rahmen nur in wenigen Strichen anzudeuten, ohne daß ich das jetzt weiter ausführen kann.
    Zunächst: Bei kritischer Überprüfung kann man nicht bestreiten, daß die Regierungspolitik der letzten 12 Jahre sehr stark in einer einseitigen Stützung mächtiger wirtschaftlicher Interessengruppen bestanden hat und von ihnen wiederum stark beeinflußt worden ist.

    (Sehr richtig! bei der SPD.)

    Darum war es bei uns möglich, daß der Bundesverband der Industrie das Zustandekommen eines brauchbaren Kartellgesetzes verhinderte und bis heute die dringend notwendige Reform des bestehenden unzulänglichen Kartellgesetzes hinauszögern konnte. Demgegenüber ist es in den Vereinigten Staaten selbstverständlich — ich möchte mal sehen, was bei uns passiert, wenn so etwas passierte —, daß die Direktoren eines großen leitenden Konzerns wegen Verstoßes gegen die Antitrustbestimmung hinter schwedische Gardinen gesetzt werden!

    (Abg. Dr. Vogel: Aber auf der anderen Seite der Präsident auch Streiks unterbinden kann!)

    — Darüber können wir uns gleich mal unterhalten.
    Zweitens. Es hat sich allmählich herumgesprochen
    — auch wenn das hier im Hause nicht gern gehört wird —, daß es in den vergangenen 12 Jahren jedenfalls nicht gelungen ist, die selbständigen Mittelschichten zu einem integrierenden Bestandteil der Wirtschaft zu machen, in der sie ihren Platz ihrer Aufgabe gemäß einnehmen können. Wir haben in



    Dr. Deist
    der Regierungserklärung wiederholt gehört, was geschehen soll. Wir haben diesmal wiederum die Mitteilung gehört, daß der Buckel in der Einkommensteuerprogression für die mittleren und kleineren Unternehmer beseitigt werden soll. Eines ist sicher: in den Vereinigten Staaten, in denen es auch wirtschaftliche Macht gibt, ganz groß gibt, in denen es große Unternehmungen gibt, wird jedenfalls gesetzlich, institutionell und verwaltungsmäßig für die mittleren und kleineren Unternehmungen sehr viel mehr getan als bei uns, um sie sinnvoll in die Gesamtwirtschaft einzugliedern.
    Und ein Letztes! Trotz Landwirtschaftsgesetz ist es nicht gelungen —wir alle bemühen uns gemeinsam um diese Aufgabe —, den Gegensatz zwischen Stadt und Land angemessen zu beseitigen. Im Gegenteil, die Diskrepanz zwischen der Einkommensentwicklung 'in der Landwirtschaft und der Einkommensentwicklung in der gewerblichen Wirtschaft wird trotz Landwirtschaftsgesetz, trotz Grünem Plan nicht kleiner, sondern sie wird größer. Das ist auch ein Beispiel dafür, was in unserer sozialen Ordnung, Herr Kollege, nicht ganz in Ordnung ist.
    Hierzu kommt — ich will es ganz deutlich sagen — die unangemessene Frontstellung gegen die Arbeitnehmerorganisationen, die noch schärfer geworden ist, seit die FDP dieser Regierungskoalition angehört.

    (Beifall bei der SPD. — Oho-Rufe in der Mitte.)

    Der Herr Bundeskanzler ist häufig erregt, wenn sich Gewerkschaften mal etwas stärker regen. Das soll auch in diesen Tagen mal wieder geschehen sein. Er ist merkwürdig unempfindlich, wenn es sich um massive Eingriffe von anderer Seite handelt. Herr Bundesfinanzminister Starke hat hier seinem britischen früheren Kollegen Thorneycroft in einem Augenblick Beifall gespendet, in dem sich zeigt, daß der Versuch dieser Regierung, die Kosten einer mißratenen Wirtschaftspolitik auf die Arbeitnehmer abzuwälzen, gescheitert ist.

    (Zurufe von der CDU/CSU. — Abg. Dr. Vogel: So kann man es auch nennen!)

    Es wäre die Aufgabe eines Psychoanalytikers, einmal den tieferen Grund dieser merkwürdigen Bruderschaft nachzuforschen.

    (Beifall bei der SPD. — Heiterkeit.)

    Dazu gesellt sich dann der Vorsitzende der zweiten Regierungspartei, Herr Kollege Dr. Mende. Ich kann nicht umhin, hierzu einige deutliche Worte zu sagen. Die Tarifparteien und die Gewerkschaften haben die Aufgabe — die verfassungsmäßige Aufgabe nach dem Grundgesetz —, in gegenseitigen Auseinandersetzungen auf dem Arbeitsmarkt — gewissermaßen als Marktparteien — miteinander um eine angemessene Lohn- und Gehaltsregelung zu kämpfen. Und was macht der Herr Kollege Mende daraus? Er wirft den Gewerkschaften vor, die sozialen Forderungen seien nicht aus sozialer Notwendigkeit gestellt, sondern um der Festigung der eigenen Machtposition willen.

    (Pfui-Rufe bei der SPD. — Zurufe von der FDP.)

    Das sagt der Chef einer Partei, die bei der letzten Regierungsbildung alle .ihre vorher verkündeten Grundsätze über den Haufen geworfen hat, nur um einiger Minister- und Staatssekretärsessel willen!

    (Lebhafter Beifall bei der SPD. — Erneute Zurufe von der FDP.)

    Dann wagt Herr Dr. Mende zu sagen, der DGB könne sich nicht als Vertreter der Arbeitnehmer aufspielen, denn er vertrete nur einen Teil der Arbeitnehmer.

    (Zurufe von der SPD.)

    Nun, er hat übersehen, daß diese Gewerkschaft mehr als 6 Millionen Mitglieder hat und daß sie bei den letzten Personalrats- und Betriebsratswahlen das Vertrauensvotum von 80 % der Arbeitnehmer erhalten hat.

    (Beifall bei der SPD. — Zuruf von der Mitte: 99 %!)

    Dann überlege ich mir, daß Herr Kollege Mende in seiner Partei, wenn ich mal ganz großzügig bin, wohl nicht mehr als 100 000 Mitglieder zählt und bei den letzten Wahlen knapp 13 % der Wähler gewonnen hat. Da erhebt sich die Frage: wer legitimiert eigentlich Herrn Dr. Mende, so in der Öffentlichkeit zu sprechen?

    (Beifall bei der SPD.)

    Das ist ein bitteres Kapitel unserer Innenpolitik. Sie ist nämlich gespickt mit irreführenden Darstellungen, die die öffentliche Meinung in völlig falscher Weise beeinflussen sollen. Lassen Sie mich über diese irreführenden Darstellungen, die für die politische Meinungsbildung eine wichtige Rolle spielen, einige Worte sagen.
    Der Herr Bundesfinanzminister hat das Lob der Preisstabilität in Deutschland gesungen. Ich halte es lieber mit dem Herrn Bundeswirtschaftsminister, der auf der Frankfurter Messe sagte, auch der jährliche Kaufkraftschwund von 2 bis 3 % sei eine inflationäre Tendenz, die gefährlich sei. Ich entsinne mich, daß der Herr Kollege Etzel vor zwei Jahren — so war es wohl — im Zusammenhang mit dem Haushalt sehr deutlich darauf hingewiesen hat, wir könnten uns nicht dabei beruhigen, daß die ständige Aushöhlung der Kaufkraft 'der D-Mark — sie beträgt inzwischen seit der Währungsreform um 20 % — immer weiter fortschreite. Wir wissen, daß im Januar die Lebenshaltungskosten um 3,5 % über dem Stand vom Januar 1961 gelegen haben. Wir sind uns alle darüber einig — wir sollten uns da keine falschen Unterstellungen machen —, daß das eine bedenkliche und gefährliche Entwicklung ist, der wir entgegenzuwirken haben. Denn diejenigen, die darunter leiden, sind in erster Linie die Bezieher von festen Einkommen und die kleineren Sparer.

    (Zuruf von der Mitte: Vollkommen richtig!)

    Darum ist es schon der Mühe wert, sich zunächst einmal ernsthaft über die Ursachen einer solchen Entwicklung zu unterhalten.
    Die Bundesregierung operiert unbedenklich—muß ich beinahe sagen — mit der ständigen Wiederho-



    Dr. Deist
    lung der Behauptung, daß die Lohn-. und Gehaltsentwicklung der entscheidende Grund für die Preisentwicklung sei.

    (Zuruf von der Mitte: Sicher ein sehr wichtiger Grund!)

    — Ich spreche gleich darüber, daß die Lohn- und Gehaltsentwicklung im Rahmen der Einkommensverteilung auch eine Rolle spielt; das werde ich nicht bestreiten. Wir werden uns vielleicht auch einmal über die Konsequenzen unterhalten können, die wir daraus zu ziehen haben. Aber erst müssen wir einmal die öffentliche Atmosphäre bereinigen, damit man sich vernünftig über dieses Problem unterhalten kann.
    Die Bundesregierung weist in Übereinstimmung mit der gesamten Presse zu Beginn jeden Jahres auf die drohende große Lohnwelle hin. Nun, in einem Staat mit aufsteigender Wirtschaft ist es ja wohl notwendig, daß auch die Arbeitnehmer an der Einkommensvermehrung beteiligt werden. Da wir etwa 20 Millionen Arbeitnehmer unter Tarif haben und die Tarifverträge ungefähr 1 1/4 bis 1 1/2 Jahre laufen, ist es ganz natürlich, daß jedes Jahr für 12 bis 14 Millionen Arbeitnehmer eine Anpassung erfolgen muß. Das ist keine ungeheuerliche Lohnwelle, sondern der normale Ablauf der Dinge, wenn Sie nicht wollen, daß die Arbeitnehmer an der Steigerung des Volkseinkommens nicht beteiligt werden.

    (Abg. Dr. Vogel: Das hat niemand von uns hier bestritten! — Weitere Zurufe von der Mitte.)

    — Ich habe gesagt: Wenn! Ich habe gesagt, das sei die normale Entwicklung, und Sie müßten das anerkennen, wenn nicht — — Ich habe noch nicht gesagt, was Sie wollen. Ich überlasse es anderen, die Konsequenzen zu ziehen. Manchmal ist das für viele so deutlich, so daß man nicht besonders viel dazu zu sagen braucht. Jedenfalls hat die Bundesnotenbank in den letzten Jahren am Schluß jeden Jahres festgestellt, daß nach der ganzen Konstellation der wirtschaftlichen Daten die Lohnentwicklung des abgelaufenen Jahres nicht der entscheidende Grund für die Preisentwicklung sein konnte. Darum müssen wir uns sehr deutlich gegen irreführende Darstellungen wenden, die trotz aller gegenteiligen Darlegungen immer wieder wiederholt werden. Weil Sie, meine Damen und Herren, und diejenigen, die zu Ihnen stehen, diese Behauptung ständig wiederholen, sehen wir uns gezwungen, immer wieder darauf hinzuweisen, wo die entscheidenden Ursachen der unglücklichen Preisentwicklung in den letzten Jahren zu suchen sind. Ich kann mich heute kurz fassen, weil wir dies wiederholt getan haben.
    Sie sind dem Handelsbilanzüberschuß der vergangenen Jahre nicht rechtzeitig und nicht wirksam genug begegnet. Der Herr Bundeswirtschaftsminister hat wohl einige Versuche gemacht, dieser Entwicklung rechtzeitig zu begegnen; er ist aber bei der Mehrheit dieses Bundestages damit meist nicht durchgedrungen.
    Punkt 2. Es gehört zu den wesentlichen Erkenntnissen der modernen Konjunkturwissenschaft, daß die Konjunkturpolitik unglücklichen Entwicklungen rechtzeitig entgegentreten muß. Der Konjunkturüberhitzung, ,die wir im Jahre 1960 erlebt haben, mußte im Laufe des Jahres 1960, spätestens im Herbst 1960, entgegengetreten werden. Wir wissen aus der öffentlichen Erörterung in der Presse, daß der Herr Bundeswirtschaftsminister auch damals einige Pläne hatte, die dann aber auf Veranlassung des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, der sich sehr stark gegen solche Eingriffe wandte, zurückgestellt worden sind, so daß uns dann mit Verspätung im Frühjahr 1961 die D-Mark-Aufwertung beschert wurde.
    Schließlich gehört in dieses Kapitel eine völlig unzulängliche Kartell- und Preispolitik. Aus dem Bundeswirtschaftsministerium stammte die Meldung, die vor einiger Zeit durch die Presse ging, wonach man nicht so sehr darauf starren sollte, daß einige Preise in Gewerbezweigen mit hohem Lohnanteil steigen — das sei ein normaler Vorgang —. Es komme vielmehr darauf an, daß die Preise in den lukrativen, der Rationalisierung und Automation zugänglichen Großunternehmungen gesenkt würden. Das ist ein Problem, das bei uns in Deutschland nicht zulänglich angepackt worden ist.
    Ich muß mich mit diesen kurzen Hinweisen begnügen, um darzulegen, daß 'der entscheidende Grund für die 'Entwicklung der letzten Jahre nicht die Löhne, sondern das Versagen ,der Wirtschaftspolitik der Bundesregierung — jedenfalls auf diesem Gebiet — war.

    (Beifall bei der SPD.)

    Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang, da sich die D-Mark-Abwertung gerade jährt — —

    (Zuruf von der CDU/CSU: Aufwertung!)

    — D-Mark-Aufwertung!

    (Abg. Dr. Stoltenberg: Sie sind so in der Abwertung begriffen, Herr Deist, daß Sie von ,der Aufwertung gar nicht mehr sprechen können! — Heiterkeit.)

    — Darüber unterhalten wir uns bei anderer Gelegenheit, 'Herr Stoltenberg. Bei mir können Sie immerhin voraussetzen, daß ich den Unterschied einigermaßen kenne.

    (Heiterkeit.)

    Der Herr Bundeswirtschaftsminister hat damals zur D-Mark-Aufwertung ausgeführt: „Niemand behauptet und niemand wird glauben wollen, daß die Aufwertung das Allheilmittel zur Lösung aller wirtschaftlichen, sozialen und finanziellen Sorgen ist. Aber mit diesem Schritt haben wir die Grundlage für eine zielbewußte, aktive Konjunkturpolitik zurückgewonnen." Ich habe mir erlaubt, das mit der Genehmigung 'des Herr Präsidenten zu zitieren. Ich bitte um Entschuldigung, daß ich für dies Zitat nicht die Genehmigung des Herrn Präsidenten eingeholt habe.


Rede von Dr. Richard Jaeger
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CSU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Sie haben sie mit Recht stillschweigend vorausgesetzt.




  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Heinrich Deist


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Danke vielmals!
    Ich darf mit Genehmigung ,des Herrn Präsidenten zitieren, was ich damals ausgeführt hatte:
    Nach dem Willen der Bundesregierung, und ich meine, nach unser aller Willen soll die Neufestsetzung ,des Außenwertes der D-Mark den Sinn haben, Preissenkungen herbeizuführen und damit den augenblicklichen Preissteigerungstendenzen Einhalt zu gebieten.
    Und ich habe dann fortgesetzt:
    Denn darüber sollten wir uns klar sein: Der Verbraucher ist jedenfalls in einigen Wochen und Monaten in der Lage, an Hand von Fakten zu beurteilen, ob die Mark mehr wert ist, ob sie wenigstens so viel wert ist wie vorher oder ob sie weiterhin an Wert verliert. Wir hoffen, daß er in der Lage ist, ein positives Urteil abzugeben.
    Heute wissen wir, daß er leider nicht in der Lage ist, ein solches positives Urteil abzugeben. Denn die D-Mark-Aufwertung kam viel zu spät, als daß sie rechtzeitig, d. h. im Boom, hätte wirken können. Ihre Auswirkungen zeigten sich vielmehr erst im Herbst des Jahres 1961 — wenn nicht später —, als wir bereits in gewisse Abschwungtendenzen geraten waren. Sie trägt damit einen Teil der Schuld daran, daß dieser Abschwung für bestimmte Gewerbezweige eine sehr harte Sache geworden ist.
    Zu den irreführenden Darstellungen gehört auch der Vergleich zwischen dem realen Zuwachs der Produktivität in der Wirtschaft und der nominellen Lohnsteigerung, ein Vergleich, der ebenso unzulässig ist wie der Vergleich von Birnen und Äpfeln. Ein solcher unzulässiger Vergleich führt zu jenen kuriosen Konsequenzen, die Herr Fried, von dem ich bereits gesprochen habe, gezogen hat: Wir haben einen Zuwachs der Produktivität von nur 4 %, infolgedessen sind Lohnerhöhungen von 6 % und mehr zuviel.
    Und was lesen wir in den Erläuterungen zum Bundeshaushalt? Die Bundesregierung veranschlagt das Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Produktivität auf etwa 7,5 % bei einem realen Zuwachs von 4 %. Dabei wird eine Preiserhöhung von etwa 3 bis 3,5 % im Laufe eines Jahres einkalkuliert. Das Ergebnis dieser merkwürdigen Vergleiche wäre, wenn das alles richtig wäre: Der Staat stellt sich bei seinem Einkommenszuwachs selbstverständlich auf die 7,5 % Zuwachs ein; der Arbeitnehmer soll gefälligst bei 4 % verbleiben. Und sollen etwa die Unternehmergewinne um den Teil jener 7,5 % erhöht werden, der bei den Arbeitnehmern eingespart wird? Meine Damen und Herren, Sie müssen sich überlegen, ob bei derartigen Darstellungen auf der Seite der Betroffenen nicht solche Vorstellungen hervorgerufen werden.
    Tatsächlich ist es so, daß sich im Laufe der Jahre 1950 bis 1960 die gesamte wirtschaftliche Leistung der Bundesrepublik je Erwerbstätigen real um 67 % erhöht hat, während sich die Nettolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer, das, was der Arbeitnehmer bekommen hat, real um 64 % erhöht haben. Das heißt, die Entwicklung der Löhne und Gehälter ist hinter der wirtschaftlichen Entwicklung zurückgeblieben. Kein Mensch bestreitet, daß im Jahre 1961 die Lohnentwicklung stärker angezogen hat und daß damit ein Teil des Rückstandes eingeholt worden ist. Er ist aber auch nur eingeholt worden, und niemand hat ein Recht, zu behaupten, die Löhne seien in unerhörter Weise vorangeschritten.
    Der Vergleich, der hier dauernd angeführt wird, lautet so: Das Sozialprodukt ist real um 67 % gestiegen, aber die Löhne und Gehälter nominal um 101 %; das muß natürlich die Wirtschaft in Unordnung bringen! — Was würden Sie sagen, meine Damen und Herren, wenn wir darlegten: Das Bruttosozialprodukt ist real um 67 % gestiegen, aber die Einkommen der Selbständigen und der Unternehmen sind — nominal — um 164 %, nämlich um das Dreifache gestiegen!? — Diese Argumentation wäre genauso falsch wie die ihre. Ich hoffe nicht, daß einer auf die Idee kommt, zu argumentieren: Wenn schon die Löhne und Gehälter um das Doppelte des realen Sozialproduktzuwachses steigen, müssen eben die Unternehmereinkommen und Gewinne um das Dreifache steigen.
    Dann einige Bemerkungen zu der von mir bereits erwähnten Formel von dem „ungezügelten Fordern und Gewähren von Lohnerhöhungen, Arbeitszeitverkürzungen und Urlaubsverlängerungen". Ist es richtig, eine solche Darstellung herauszugeben? Ist es nicht so, daß gerade bezüglich der Arbeitszeitverkürzung ein hohes Maß von Verantwortungsbewußtsein geherrscht hat? Tatsächlich wurde die Arbeitszeitverkürzung im Bewußtsein dessen, daß sie natürlich Einfluß auf die Kostenlage der Unternehmungen hat, über einen langen Zeitraum verteilt. Zum Beispiel ist im Bereich der Industriegewerkschaft Metall die Arbeitszeitverkürzung von 48 auf 40 Stunden auf einen Zeitraum von acht Jahren verteilt worden, um den Übergang erträglich zu machen. Angesichts dessen davon zu sprechen, daß der Produktivitätszuwachs unangemessen gemindert werde, weil eine allzu starke plötzliche Verkürzung der Arbeitszeit eingetreten sei, ist einfach nicht richtig. Als das Bundeswirtschaftsministerium das in seinem letzten Lagebericht schrieb, erschien zu gleicher Zeit ein Bericht der Bundesbank zu demselben Problem. Darin wurde festgestellt: Die Arbeitszeit ist im Jahre 1961 zwar um 2 % zurückgegangen, aber dabei handelte es sich vorwiegend um den Abbau von Überstunden, um verlängerten Urlaub, „während durch Tarifvereinbarungen die ordentliche Arbeitszeit im Jahre 1961 nur in wenigen Bereichen verkürzt wurde". — Man sollte doch anerkennen, daß hier ein Versuch unternommen worden ist, den Notwendigkeiten der wirtschaftlichen Entwicklung Rechnung zu tragen und Verantwortungsbewußtsein zu zeigen. Eine solche Beeinflussung der öffentlichen Meinung mit Darstellungen, die irreführend wirken müssen, wird bei uns systematisch betrieben.
    Aus dieser Überlegung ergeben sich drei harte Folgerungen. Eine solche zielbewußte Irreführung über Tatsachen muß dazu führen, daß das Verständnis der verschiedenen Gruppen in Deutschland füreinander, für ihre verschiedenartigen Interessen immer geringer wird. „Es ist unerhört, wie hier, zum Teil bewußt, mit falschen Zahlen gearbeitet



    Dr. Deist
    wird. Hier übt die Bundesregierung eine rücksichtslose und propagandistische Aktivität, der die unkritische, ressentimentgeladene Öffentlichkeit erliegt." Diese Sätze etwa gebrauchte der nordrhein-westfälische Ministerpräsident, Herr Meyers, als er sich mit dem Verhalten der Bundesregierung bei den Verhandlungen über die 'Finanzfragen der letzten Zeit befaßte.

    (Hört! Hört! bei der SPD.)

    Das ist symptomatisch. So verkümmern wir die für eine Demokratie notwendige Einsicht, daß es verschiedenartige berechtigte Interessen geben muß, daß wir in einem demokratischen Staat dafür zu wirken haben, daß ein Ausgleich zwischen diesen verschiedenen Interessen geschaffen wird. Wir erschüttern damit die in unserem Grundgesetz niedergelegten fundamentalen 'Grundsätze, daß die Tarifparteien nicht nur legitimiert, sondern verpflichtet sind, als wesentliche Ordnungsfaktoren der Wirtschaft durch ihre eigene Aktivität für eine angemessene Beteiligung der Arbeitnehmer am Sozialprodukt zu sorgen. Das ist die eine Schlußfolgerung, die sich ergibt.
    Gestatten Sie mir, daran eine zweite anzuknüpfen. Die Bundesregierung nimmt hier eine einseitige Beeinflussung der öffentlichen Meinung zuungunsten eines großen, großen Teils unserer Bevölkerung vor. Überlege ich mir, daß sie durch ihre Politik die größeren Einkommen und Vermögen gegenüber den kleineren stark bevorzugt, daß sie durch den Verzicht auf eine wirksame Kartell- und Preispolitik die Reallöhne beeinträchtigt und daß sie auch die Organisationen der Arbeitnehmerschaft bei der Vorbereitung von Gesetzen nicht in gleicher Weise — vielleicht formal in gleicher Weise, aber nicht materiell in gleicher Weise — beteiligt wie andere Gruppen, — wenn das also die Politik von Regierung und Parlamentsmehrheit ist, dann können die Arbeitnehmerorganisationen ihren Auftrag, den sie nach 'dem Grundgesetz haben, gar nicht anders betreiben als durch eine, wie ich sie nennen möchte, kompensatorische Lohnpolitik. Sie können nichts anderes tun, als 'durch ihre Lohnpolitik dafür zu sorgen, daß die Folgen einer solchen einseitigen Wirtschafts- und Unternehmenspolitik von der Arbeitnehmerschaft abgewehrt und Preiserhöhungen durch Lohnerhöhungen kompensiert werden. Mehr Verantwortungsbewußtsein, als die Bundesregierung von sich und der Unternehmerschaft erwartet, kann sie auch nicht von den Arbeitnehmerorganisationen verlangen.

    (der Gewinne, die auch 1961 immer noch recht hoch gewesen sind, aber geringer gestiegen sind als in den vergangenen Jahren, hat in keiner Weise, wie immer getan wird, die Investitionstätigkeit in der Wirtschaft beeinflußt. Im Gegenteil, im Jahre 1961 sind in Investitionen wiederum überproportional gestiegen. Die Selbstfinanzierung der Brutto-Investitionen betrug immer noch 62 %. In dieser Entwicklung ist ein Normalisierungsvorgang zu sehen. Was hätte denn das ganze Lamento der letzten Jahre, daß wir eine zu große Selbstfinanzierung und eine zu große Vermögensansammlung bei den Großunternehmungen haben, für einen Sinn, wenn nicht die Zurückdrängung der Gewinne und die Zurückdrängung dieser Vermögenszusammenballung eine sinnvolle Normalisierung wäre! Tatsächlich ist festzustellen, daß sich bei der Unternehmerschaft zur Zeit eine gewisse Zurückhaltung, ein gewisser Attentismus in bezug auf die Investitionen entwickelt. Das hat seine psychologischen Ursachen. Vielleicht darf man hinzufügen: die wirklichen Stützen der augenblicklichen Konjunkturentwicklung und des Konjunkturaufschwungs sind tatsächlich die Verbrauchernachfrage, die durch die Lohnentwicklung genügend hochgehalten wurde, und die öffentlichen Ausgaben. Der unangebrachte Pessimismus, der heute vielfach an Hand der für Dezember und Januar zur Verfügung stehenden, zunächst für eine gültige Aussage nicht ausreichenden Zahlen über die konjunkturelle Entwicklung zum Ausdruck gebracht wird, birgt allerdings die Gefahr in sich, daß die unternehmerische Zurückhaltung in der Wirtschaft verstärkt und damit die konjunkturelle Entwicklung wirklich gefährdet wird. Das ist ein Gesichtspunkt, den auch die verantwortlichen Stellen beachten sollten. Daraus ergibt sich — und damit komme ich auf die Frage zurück, die vorhin gestellt wurde —, daß sich zur Zeit wie eigentlich immer in einer freien Wirtschaft, die in großem Umfang auf freien Entscheidungen autonomer Menschen und autonomer Gruppen beruht, Gefahren für die wirtschaftliche Entwicklung ergeben und daß es die normale Aufgabe der Wirtschaftspolitik ist, dafür zu sorgen, daß diese Gefahren nicht zur Wirklichkeit werden. Meine Damen und Herren, wir wissen, daß zu den Grundlagen der freien Wirtschaft, unabhängig von der Bundesregierung und der autonomen Bundesnotenbank, eben freie Unternehmerentscheidungen und die freie Entscheidung der Tarifpartner auf dem Arbeitsmarkt gehören. Ich nenne Ihnen jetzt die Zahlen zu Ihrem Einwand. Wir wissen, daß sich das Volkseinkommen netto gerechnet zu 45 % aus Löhnen und Gehältern und zu 15 % aus Sozialeinkommen zusammensetzt, die in gewissem Umfange von der Lohnund Gehaltsentwicklung abhängig sind. Hier haben wir einen Block von 60 % gegenüber 20 % Einkommen der Selbständigen und 20 % Einkommen des Staates. Damit wird zugleich der Zusammenhang zwischen der Lohnpolitik der Tarifparteien, der Gewinnund Preispolitik der Unternehmungen und der Wirtschafts-, Finanzund Sozialpolitik des Staates deutlich. Es kommt daher darauf an, Methoden zu finden, um alle diese Partner in gleicher Weise — ich betone: in gleicher Weise — volkswirtschaftlicher Verantwortung zu unterstellen. Das ist die Ordnungsaufgabe des demokratischen Staates. Meine Damen und Herren, wir sollten uns doch darüber klar sein, daß freie Lebensformen nicht Freiheit für die Willkür der Starken, Freiheit für die Auslieferung der Wirtschaftspolitik an mächtige Dr. Deist Interessengruppen bedeuten darf. Es fragt sich also, welche Methoden der moderne Staat zur Verfügung hat. Mein Kollege Schoettle hat heute schon angedeutet und hat es in früheren Haushaltsdebatten ausführlich dargelegt, daß die modernen Industriestaaten des freien Westens sich auf der Grundlage einer volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ein Instrument für diese Dinge erarbeitet haben, nämlich vorausschauende Wirtschaftsbudgets für die nächsten Jahre. Es ist vielleicht nicht uninteressant, darauf hinzuweisen, daß der Konjunkturausschuß bei der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, der bezeichnenderweise unter dem Vorsitz des deutschen Staatssekretärs Professor Müller-Armack tagt — der sich hier ein großes Verdienst erworben hat —, einstimmig festgestellt hat, es sei für die Sicherung einer gesunden wirtschaftlichen Entwicklung in Europa notwendig, in allen Mitgliedstaaten — in allen Mitgliedstaaten — vorausschauende Wirtschaftsbudgets nach gleichen Grundsätzen aufzustellen. Wir lesen in der Presse, daß in Großbritannien der konservative Schatzkanzler, Selwyn Lloyd — alle, die etwas ängstlich sind in bezug auf Ausdrücke, bitte ich um Entschuldigung; ich habe den Ausdruck aus Großbritannien übernommen —, ein Planungsgremium geschaffen hat mit der Aufgabe, die Wirtschaftslage und die Pläne der Industrie zu prüfen, die Hindernisse zu untersuchen, die einem schnelleren Wachstum der Wirtschaft 'entgegenstehen, und Methoden zu entwickeln, mit denen die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft mit dem Ziel eines gesunden Wachstums verbessert werden kann. Das ist auch unser Problem: ob wir uns zu Maßnahmen entschließen, die geeignet sind, eine gesunde Ordnung im Ablauf der Wirtschaft auch bei uns in Deutschland sicherzustellen. Wir wissen, der Herr Bundeswirtschaftsminister ist einem solchen Wirtschaftsinstrument innerlich nicht sonderlich geneigt, wenn ich mich vorsichtig ausdrücken soll. Er hat das Anfang des Jahres 1960 in einer ausführlichen Denkschrift auch zum Ausdruck gebracht. Daraus erklärt es sich, daß bei uns in 'Deutschland wesentliche Voraussetzungen für eine ausreichende Diagnose der Wirtschaftsentwicklung und damit für eine langfristige Wirtschaftspolitik fehlen. In diesen Tagen, Anfang März, hat in 'Düsseldorf die Arbeitsgemeinschaft Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen getagt. Auf dieser Tagung hat Herr ,Professor Wagenfür aus Brüssel dargelegt, daß er in Deutschland einen beschämenden Rückstand der Konjunkturstatistik feststellen müsse. Und Herr Professor Krelle aus Bonn hat von den Unzulänglichkeiten unserer gesetzlichen Voraussetzungen für eine solche zielbewußte Wirtschaftspolitik gesprochen. Hier liegt das Problem. Der Unterschied zwischen uns, der freien Wirtschaft, und der Wirtschaft des Ostens besteht doch nicht darin, daß man da drüben planmäßig und zielbewußt wirkt und bei uns Plan-und ziellos wirtschaftet; (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/CSU)




    der Unterschied muß doch — ich bin sehr froh, wenn Sie dem zustimmen, und hoffentlich können wir gemeinsam die Konsequenzen ziehen — in den Methoden 'bestehen, mit denen wir eine gesunde wirtschaftliche Entwicklung sichern.
    Eine Voraussetzung für eine solche mit freiheitlichen Mitteln durchgeführte Wachstumspolitik sind eben diese vorausschauenden Wirtschaftsbudgets. Und sie unterscheiden sich grundlegend von dem, was jenseits der Zonengrenze geschieht. Sie unterscheiden sich darin, daß alle gemeinsam unter das Gesetz der Verantwortung gestellt, aber nicht einheitlich kommandiert werden. Sie unterscheiden sich darin, daß die Ziele für die langfristige Wirtschaftspolitik aufgestellt werden auf der Grundlage von Feststellungen unabhängiger Experten und auf einer Grundlage, die mit den freien gesellschaftlichen Kräften, insbesondere mit den Arbeitnehmern und Arbeitgebern, beraten worden ist. Sie unterscheiden sich dadurch, daß sie der Kontrolle des Parlaments unterliegen. Und sie unterscheiden sich schließlich darin entscheidend von dem, was im Osten geschieht, daß den Wirtschaftsbürgern — Unternehmern sund Arbeitnehmern — prinzipiell ihre freie Entscheidung gesichert wird und daß ihnen Schutz gegen behördliche Eingriffe in die freie Wirtschaftssphäre 'gegeben wird. Das ist der Unterschied zwischen einer zielbewußten Wirtschaftspolitik im Westen und dem, was wir im Osten erleben.
    In der Entwicklung eines solchen vorausschauenden Wirtschaftbudgets liegt auch zugleich der Zwang, eine Wirtschaftspolitik zu betreiben, die nicht einseitig bestimmte Wirtschaftsinteressen fördert, sondern dem gemeinsamen Verantwortungsbewußtsein gerecht wird. Ich möchte anerkennen, der Herr Bundeswirtschaftsminister hat ungeachtet seiner theoretischen Abneigung im Anfang des Jahres 1958 einen Versuch gemacht, ein solches konjunkturwissenschaftliches Gremium zu gründen. Er ist dann am Widerspruch des Bundesverbands der Industrie und dem darauffolgenden Veto des Herrn Bundeskanzlers gescheitert.
    Inzwischen habe ich einige Hoffnung. Ein Sohn des Herrn Bundeskanzlers hat einen bemerkenswerten Artikel veröffentlicht, in dem jedenfalls Ansatzpunkte zu einer solchen Regelung enthalten sind. Herr Bundeskanzler, ich habe die stille Hoffnung, daß der Sohn vielleicht einen größeren Einfluß auf den Vater hat als der Vizekanzler auf seinen Bundeskanzler.

    (Heiterkeit. — Beifall bei der SPD.)

    Herr Kollege Starke, auch bei Ihnen möchte ich die Hoffnung nicht ganz aufgeben.

    (Erneute Heiterkeit.)

    Sie waren zwar nicht bereit, die gleiche Konsequenz zu ziehen wie der offenbar von Ihnen so sehr geschätzte britische Kollege Thorneycroft, nämlich zurückzutreten. Aber vielleicht sind Sie bereit, die Konsequenz zu ziehen, die der jetzige Schatzkanzler und Kollege in Großbritannien gezogen hat, nämlich ein Planungsgremium, das für die Grundlagen einer ausreichenden Wirtschaftsdiagnose und -prog-



    Dr. Deist
    nose verantwortlich ist, einzuberufen. Vielleicht sind Sie dazu bereit.
    Herr Bundesfinanzminister, es ist nicht meine Aufgabe, Ihnen Ratschläge zu erteilen. Aber wenn Sie einen Finanzplan für mehrere Jahre, für 1962 bis 1964 aufstellen wollen — „Plan" ist in Ihrer Umgebung schon ein gefährliches Wort; ich warne Neugierige —,

    (Heiterkeit)


    (die frei entscheiden sollen, unter das Gesetz der gemeinsamen Verantwortung gegenüber der Gesamtheit zu stellen. Sie müssen sich aber bewußt sein, meine Damen und Herren: Solange die Unternehmer es ablehnen, auch Richtpunkte für ihre Unternehmenspolitik anzuerkennen, haben sie kein Recht, nach dem Staat zu rufen, wenn es um die Lohnpolitik der Arbeitnehmer geht. Und solange Regierung und Parlamentsmehrheit diese ihre Verantwortung, wie ich sie eben dargelegt habe, verleugnen, haben sie kein Recht, andere verantwortlich zu machen, wenn die Wirtschaftspolitik auf bestimmten entscheidenden Gebieten zu Fehlentwicklungen führt. Lassen Sie mich nun zu zwei anderen Problemen noch einige Worte sagen, zunächst zur Flutkatastrophe. Ich möchte nicht die Methode meines Vorredners aufnehmen und dieses Unglück, das über uns gekommen ist, zu polemischen Auseinandersetzungen benutzen. (Lebhafte Zurufe von der Mitte: Das hat er doch nicht getan!)


    (Beifall bei der SPD.)

    — Na, die Sache mit dem Bundesleistungsgesetz und der Zwischenruf „Das kam wohl von Hamburg!" waren ja nicht so ganz ohne!

    (Abg. Etzel: Der Redner hat das aber nicht getan!)

    — Meine Damen und Herren, ich sage: gut, bemühen wir uns gemeinsam darum, bei den mit der Flutkatastrophe zusammenhängenden Problemen nach Möglichkeit alle Polemik zu vermeiden; denn damit werden wir der Sache nicht gerecht. Ich bitte, auch das, was ich jetzt dazu sage, als einen Beitrag zu der gemeinsamen Anstrengung, die wir hier alle zu machen haben, anzusehen.
    Der Herr Bundesfinanzminister hat darauf hingewiesen, daß die Bundesregierung sehr schnell einen Kredit von 200 Millionen DM zur Verfügung gestellt hat, der für zwei Jahre zinslos ist. Ich möchte dieses schnelle Handeln in keiner Weise bagatellisieren, sondern anerkennen.
    Der Herr Bundesfinanzminister hat ferner ausgeführt, daß über weitere Aufbauhilfen beraten werde. Meine Damen und Herren, wir sollten uns im gemeinsamen Interesse überlegen, ob wir uns in diesem Augenblick — mehr als vier Wochen nach der Katastrophe — mit einer solchen kurzen Darstellung begnügen können. Es wird nicht wenige geben, die noch die Ausführungen im Ohr haben, die der amtierende Präsident, unser Freund Carlo Schmid von dieser Tribüne aus gemacht hat. Ich darf drei Sätze von ihm zitieren:
    Diese Katastrophe hat nicht einzelne Ortschaften und Bundesländer für sich allein geschlagen, sie traf das ganze deutsche Volk. Darum steht das ganze Volk für alle einzelnen ein, in deren Person es von dem Unheil geschlagen worden ist. Bundesrepublik, Länder, Gemeinden, Wirtschaft und Gesellschaft Deutschlands sind in unlösbarer Notgemeinschaft aufgerufen, zu handeln und vorzusorgen.
    Der Herr Bundeswirtschaftsminister Erhard hat als Stellvertreter des Bundeskanzlers in der Regierungserklärung zwei ähnliche Sätze gesagt, die ich — auch um der Parität willen — hier anführen möchte:
    Meine Damen und Herren, daß diese Katastrophe in ihrem Ausmaß über die Leistungskraft eines einzelnen Landes oder einer Stadt hinausgeht, ist selbstverständlich. Auch die Bundesregierung ist sich darüber klar, daß neben anderen Lasten ... das ganze deutsche Volk eine Verpflichtung hat, hier mit zu helfen und mit zu heilen.
    Wir sollten uns nun gemeinsam fragen: Wie ist die Lage heute, werden wir der heutigen Lage gerecht? Der Gesamtschaden läßt sich noch nicht überblicken. Aber die einzelnen, die betroffen sind und den ersten Schock überwunden haben, stehen jetzt vor sehr, sehr harten nackten Tatsachen. Es sind große und kleine Unternehmen betroffen. Die großen Unternehmen sind aus der Natur der Sache in der Lage, das, was sie getroffen hat, zum Teil selbst zu verkraften. Ich möchte hier anerkennend sagen: Sie haben das auch in hervorragender Weise getan. Aber diejenigen, die das Geschehen mit aller Gewalt getroffen hat, sind die große Zahl selbständiger mittlerer und kleiner Unternehmen.
    Meine Damen und Herren, wir müssen uns fragen, ob eine Überbrückungshilfe mit der Bemerkung, wir erörterten andere Hilfen, wirklich der Situation gerecht wird. Alle diese mittleren und kleineren Unternehmer — Industrielle, Handwerker und Einzelhändler — haben zu einem erheblichen Teil ihre Maschinen, ihre Ladeneinrichtung, ihre Vorräte, d. h. ihre Existenzgrundlage verloren. Ein großer Teil von ihnen hat Angst, in dieser Situation Kredite und Überbrückungshilfen zu übernehmen, weil er nicht weiß, wie die Dinge weitergehen sollen. Und die Marschbauern, deren ganzes Vermögen in ihrem Vieh bestand — dabei denken wir daran, daß in dem Katastrophengebiet an der Unterelbe zwei Drittel des Viehbestandes verlorengegangen sind —, die Obstbauern im Alten Land, deren einziger Wert und deren Existenzgrundlage in ihren Obstbäumen und ihren Obstvorräten bestand, und die sonstigen landwirtschaftlichen Betriebe, die alle bis zur näch-



    Dr. Deist
    sten Ernte keine Betriebseinnahmen mehr haben? Auch sie haben Angst, Kredite und Überbrückungsbeihilfen anzunehmen und sich damit zu verschulden. Es ist vielleicht doch unsere Aufgabe, sich damit einmal zu befassen. Man sehe sich an, wie in dieser ungeklärten Situation die Hausbanken Fragebögen an die Betroffenen austeilen, die beinahe nach einem Offenbarungseid aussehen. Wenn ich das so sage, meine Damen und Herren, sehen Sie, daß ich keinerlei polemische Bemerkungen machen will, sondern daß es sich hier um ein wichtiges gemeinsames Problem handelt. Ich meine jedenfalls, wir haben die Aufgabe, dafür zu sorgen, daß diese Menschen, die zur Zeit Angst und Sorge um ihre Zukunft haben, nicht der Mutlosigkeit und der Verzweiflung anheimfallen.
    Wir sollten ernsthaft überlegen: Haben diese Menschen nicht Anspruch darauf, zu wissen, wie in etwa der Schaden geregelt wird? Ich habe ein beklemmendes Gefühl, wenn ich sehe, mit welcher ängstlichen Sorge dieser Gedanke zurückgehalten wird, über Schaden und Schadenserstattung zu sprechen.
    Hier handelt es sich nicht mehr um Einzelschicksale, hier handelt es sich um eine Katastrophe nationalen Ausmaßes, für die die Gemeinschaft einstehen muß. Jene, die betroffen sind, verlangen von uns, daß wir uns der Worte erinnern, die hier am 22. Februar gesagt worden sind. Wir haben in den letzten Wochen Beispiele des Gemeinschaftsbewußtseins, des solidarischen Handelns, der Hilfsbereitschaft und der Opferbereitschaft in einem Maße erlebt, wie wir das vorher kaum erwartet hatten. Das waren nicht nur Kommunen, nicht nur die Bundeswehr, nicht nur die Polizei, sondern das waren vor allem auch die Freiwilligen des Deichschutzes, die Freiwilligen in den Wohlfahrtsverbänden. Das waren Tausende, die spontan zur Hilfe eilten. Da gab es große Beispiele nachbarschaftlicher Hilfe. Und es gibt Hunderttausende, die gespendet haben und noch spenden, weil sie meinen, helfen zu müssen. Das sind breite Schichten unseres Volkes, die hier in Bewegung gerieten. Das sind auch Dinge, über die wir in unserer Zeit froh sein können.
    Diesen Menschen gehört nicht nur der Dank, den der Bundestag ihnen aussprechen sollte, sondern ihr Verhalten muß uns auch zu der Überlegung zwingen, ob wir, Bundestag und Bundesregierung, uns dieser Situation gegenüber wirklich gerecht verhalten. Es sind gewaltige Schäden entstanden, sie gehen in die Milliardengröße. Das ist eine Aufgabe, die gemeinsam von Unternehmungen, Ländern und Bund getragen werden muß.
    Aber wenn das eine nationale Katastrophe ist, dann hat der Bund eine entscheidende Verantwortung zu tragen und auch einen entscheidenden Teil der Lasten mitzutragen. Die Gemeinden, die Länder und die Unternehmen haben sehr viel aufzubringen, ob es Lohnerstattung, Soforthilfen, Unterhaltshilfen, Hausratsentschädigung oder ob es vieles andere mehr ist. Aber über diesen Rahmen gehen hinaus die ungeheuren Sachschäden insbesondere jener breiten Schicht mittlerer und selbständiger Existenzen, die doch nach unser aller Auffassung ein wichtiger Bestandteil unserer freien Ordnung sind.
    Meine Damen und Herren, das gilt für die Sachschäden an Hausbesitz und die Sachschäden an Betriebsgebäuden, Maschinen und Geräten, Grund und Boden, Vieh und Vorräten. Alle diese Werte haben eines gemeinsam: sie sind die Existenzgrundlage der Selbständigen. Es geht über die Kraft der Länder hinaus, diese Schäden angemessen zu entgelten. Es handelt sich hier um eine so große Aufgabe, daß sie nur als Bundesangelegenheit betrachtet werden kann.

    (Abg. Etzel: Doch nicht nur! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU: Nicht nur!)

    — Federführend als 'Bundesangelegenheit! Ich habe gesagt: Es ist eine gemeinsame Aufgabe, die Lasten zu tragen. Ich bin ferne davon, zu meinen, die gesamten Lasten müsse der Bund übernehmen.

    (Abg. Dr. Vogel: Bitte keine Spezialdebatte über die Flutkatastrophe!)

    Jene dort oben wissen, was in den Niederlanden getan wurde. Und vielleicht könnten wir uns ein Beispiel an der niederländischen Regelung nehmen. Da ist unmittelbar nach der Flutkatastrophe von 1953 ein Gesetzentwurf über die Regelung der Schäden vorgelegt worden.

    (Sehr richtig! bei der SPD.)

    Die kleineren Sachschäden sind voll entschädigt worden. Darüber hinaus ist mit Abschlägen entschädigt worden.
    Meine Damen und Herren, wir sollten uns nicht zu viel vormachen; wir sollten wissen, daß eine sinnvolle Regelung der Sachschäden der Flutkatastrophe unumgänglich ist.

    (Zustimmung bei der SPD.)

    Wir sollten uns auch bewußt sein, daß das Grundgesetz mit der Bestimmung, diese deutsche Bundesrepublik zu einem sozialen Rechtsstaat auszubauen, uns Verpflichtungen auferlegt, und daß Vorgänge wie bei der Entschädigung der Vertriebenen und Flüchtlinge Vorgänge sind, die kraft Grundgesetzes zu einer gleichen Behandlung in ähnlich gelagerten Situationen zwingen.
    Darum meine ich, wir sollten uns bereitfinden, über das hinaus, was der Herr Bundesfinanzminister gesagt hat, hier deutlich zum Ausdruck zu bringen, daß die Totalschäden kleiner und mittlerer selbständiger Existenzen — naturgemäß bis zu einer angemessenen Grenze — entschädigt werden, damit die Betroffenen wissen, daß sie eine Grundlage für den Wiederaufbau ihrer Existenz bekommen. Wir sollten uns dahin entscheiden, daß Teilschäden mit entsprechenden Abschlägen erstattet werden. Dabei setze ich voraus, daß bei der Beurteilung der Frage, ob ein Teilschaden vorliegt, die wirtschaftliche Einheit als Ganzes, das gesamte wirtschaftliche Unternehmen betrachtet wird.
    Ich habe das hier mit Absicht dargelegt, weil ich fürchte, wie verlieren allzuviel Zeit, und weil wir uns bewußt sein müssen, daß eine solche Katastro-



    Dr. Deist
    phe auch psychologische Auswirkungen auf .die Menschen hat, die von ihr betroffen sind.
    Wir sollten deshalb die Bundesregierung bitten, sehr bald einen Gesetzentwurf einzubringen, der diese Grundsätze für die Entschädigung deutlich werden läßt. Es sollte deutlich werden, ,daß es sich insoweit um eine gemeinsame Aufgabe handelt. Es wäre nicht gut, wenn eine Partei — zum Beispiel wir — sich gezwungen sähe, hier eine Initiative zu ergreifen. Wir sind dazu bereit, wenn ,die Bundesregierung nicht das Erforderliche veranlaßt. Das Bewußtsein gemeinsamer Verantwortung sollte aber durch eine Vorlage der Bundesregierung zum Ausdruck kommen. Wir haben hier nicht mehr sehr viel Zeit zu verlieren.