Rede von
Dr.
Carlo
Schmid
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Ich begrüße Sie herzlich namens der Mitglieder des Deutschen Bundestages. Sie tun diesem Hause mit Ihrem Besuch eine hohe Ehre an. Sie sind der Präsident der Beratenden Versammlung des Europarates, jenes europäischen Gremiums, das die Delegierten der meisten Parlamente des .freien Europa zu seinen Mitgliedern zählt. Zwar ist die Beratende Versammlung noch nicht das Parlament der Parlamente der europäischen Staaten; aber alle nationalen Parlamente halten diesen Vorläufer einer echten parlamentarischen Vertretung der Völker Europas hoch in Ehren.
Herr Präsident, Sie haben mir mitgeteilt, daß Sie bereit sind, einige Worte an die Mitglieder des Hauses zu richten. Ich bitte Sie, es von der Tribüne aus zu tun.
Federspiel, Präsident der Beratenden Versammlung des Europarates: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete des Deutschen Bundestages! Meine ersten Worte sind Worte des Dankes: Dank an Sie, Herr Präsident, und an alle Mitglieder dieses Hohen Hauses, daß Sie mir die seltene und damit auch so ehrenvolle Gelegenheit geben, von dieser Stelle aus einige Sätze an Sie zu richten. Ich möchte diese Auszeichnung nicht für mach beanspruchen, sondern sie als das deuten, was sie offensichtlich ist: als eine erneute Bekundung dies außerordentlichen Interesses, das der Deutsche Bundestag von jeher dem Europarat entgegengebracht hat.
Die Bande zwischen Ihrem Hohen Hause und der Straßburger Versammlung haben sich von Anbeginn der Mitarbeit der Bundesrepublik Deutschland im Europarat ganz besonders eng gestaltet. Es ist eine der ersten, wenn nicht überhaupt die vornehmste Aufgabe der Straßburger Versammlung gewesen, die Voraussetzungen zu dem zu schaffen, was wir heute dm geschichtlichen Prozeß der europäischen Einigung erreicht haben, nämlich die Aussöhnung zwischen den europäischen Völkern und damit die Wiederaufnahme des neuen, demokratischen Deutschlands in die Familie der freien Völker.
Die entscheidende Rolle, die die Bundesrepublik in unserer Gemeinschaft heute wahrnimmt, und das große Gewicht ihrer Stimme sind der beste Beweis
für die erfolgreiche Lösung dieser im Anfang gewiß nicht leicht zu bewältigenden Aufgabe. Wenn sie so gelöst werden konnte, wie sie gelöst worden ist, dann nicht zuletzt dank der verständnisvollen, sachverständigen und aktiven Mitarbeit der Abgeordneten, die der Deutsche Bundestag nach Straßburg entsandt hat. So ist die deutsche Delegation inzwischen zu einer der stärksten Stützen der Straßburger Versammlung geworden.
Ich würde meiner Pflicht als Sprecher der Beratenden Versammlung nicht nachkommen, wenn ich in diesem Zusammenhang nicht auch ganz besonders Ihnen, Herr Präsident, für das großzügige Entgegenkommen danken würde, das Sie und das Präsidium des Deutschen Bundestages uns stets und in jeder Hinsicht erwiesen haben.
Meine Damen und Herren, der Europarat legt allein schon durch seine bloße Existenz davon Zeugnis ab, daß es zwischen Island und Zypern, zwischen Frankreich und Schweden eine Einheit gibt, die nicht nur auf einer mehr oder weniger zufälligen Identität von wirtschaftlichen und politischen Interessen beruht, sondern deren Grundlage eine allen unseren Völkern gemeinsame Zivilisationsform ist, eine Lebensform, die sich gegenüber allen anderen Zivilisationen unseres Erdballs vor allem dadurch auszeichnet, daß sie dem Menschen 'eine würdevolle und damit freie Entfaltung seiner Persönlichkeit erlaubt.
Diese Zivilisation in einer in völligem Umbruch befindlichen Welt zu wahren sind alle freien Völker des demokratischen Europa aufgerufen. Sie bedürfen dazu zunächst eines Höchstmaßes an innerem Zusammenhang und moralischer Bereitschaft. Dazu gehört aber auch ein Mindestmaß an institutioneller Gemeinsamkeit.
Der Europarat ist die Institution, die zur Verwirklichung dieser Gemeinschaft geschaffen wurde. Gewiß sind wir noch weit vom Ziel. Wir können auch nicht verhehlen, daß die 1949 in den Europarat gesetzten Hoffnungen nicht alle erfüllt werden konnten, nicht nur, weil die Struktur des Europarates, die zu verbessern wir uns alle als Aufgabe gestellt haben, nicht ausreichte, sondern auch weil es am Willen der Regierungen, im Rahmen des Europarates zu entscheidenden Beschlüssen zu gelangen, fehlte. Ein Teil der Mitgliedstaaten des Europarates
430 Deutscher Bundestag — Bonn, Mittwoch, den 14. Februar 1962
hat diesen Willen aufgebracht. Nach der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl haben sich diese 6 Staaten in der Europäischen Atomgemeinschaft und in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu einer dynamischen Form wirtschaftlicher Zusammenarbeit gefunden.
Diese Gemeinschaft, basierend auf einem festen Vertrauensverhältnis zwischen Deutschland und Frankreich, zu dem wir im Europarat — und das stelle ich nicht ohne Stolz fest — in nicht geringem Maße beigetragen haben, hat inzwischen so überzeugende Beweise ihrer Stabilität gegeben, daß die zukünftige Organisation Europas ohne sie nicht mehr denkbar ist. Es ist daher nur eine logische Folge dieser Entwicklung, wenn 'Großbritannien, Dänemark und Irland Verhandlungen über den Beitritt zur EWG aufgenommen haben und andere Staaten wie Griechenland ein Assoziierungsabkommen mit der EWG 'bereits beschlossen oder wie die Türkei, Schweden, Österreich und die Schweiz um ein ihrer besonderen Lage entsprechendes Arrangement mit der EWG nachgesucht haben. Die Beratende Versammlung des Europarates hat sich daher wiederholt für einen erfolgreichen und baldigen Abschluß dieser Verhandlungen ausgesprochen. Ich weiß, daß Sie hier in der Bundesrepublik im gleichen Sinne handeln. Gewiß, der britische Beitritt zur EWG wäre nur ein erster Schritt zur Erweiterung der EWG als eines der Hauptpfeiler einer größeren atlantischen, wenn nicht sogar atlantisch-pazifischen Wirtschaftszone, deren Konturen sich auf Grund der jüngsten amerikanischen Initiativen allmählich abzuzeichnen beginnen.
Was uns in Europa angeht, verlangt diese neue Entwicklung mutige und großzügige Beschlüsse, um auch solchen Mitgliedstaaten des Europarats, die wie Schweden und Osterreich oder auch die Schweiz eine auch im Interesse Gesamteuropas liegende Politik militärischer Neutralität verfolgen, eine Anlehnung an die Wirtschaftsgemeinschaft zu ermöglichen. Was wir brauchen, sind nicht uniforme Lösungen, die sich im Augenblick vielleicht aufdrängen, sondern ein, ich möchte fast sagen, pragmatischer Pluralismus, der allein imstande ist, Spannungen zu mildern, Gegensätze auszugleichen, und jedem Glied der Gemeinschaft erlaubt, die ihm gestellten Aufgaben wahrzunehmen.
Denn vergessen wir nicht: Die Schaffung einer Union der westeuropäischen Völker kann kein Selbstzweck sein. Das freie Europa in seiner Gesamtheit hat eine Verantwortung für die Verwirklichung einer dauerhaften Friedensordnung in der ganzen Welt. Wenn wir nur an die Hilfe für die sich entwickelnden Länder Südamerikas, Afrikas oder Asiens denken, so können wir doch nicht neue Grenzen zwischen uns errichten,
sondern wir müssen mehr denn je die Einheit in der Vielfalt anstreben. Aber wir können den Pfeiler Europa nur dann standfest gestalten, wenn wir vor dem Problem der Teilung Europas und damit Deutschlands nicht die Augen verschließen.
Wir dürfen bei allen unseren Bestrebungen nicht vergessen, daß sich die Hoffnungen der jenseits von Elbe und Neusiedlersee lebenden Menschen mit unseren begegnen.
Nichts konnte uns tragischer die Wirklichkeit der Teilung Europas ins Gewissen rufen als die Ereignisse, die seit dem 13. August in Berlin ablaufen.
Sie wissen, wie sehr die Beratende Versammlung bestrebt ist, nicht die Augen vor dieser ungeheuerlichen und unmenschlichen Herausforderung der Geschichte zu verschließen. Gerade in der BerlinFrage bemüht sich die Beratende Versammlung um eine Koordinierung unserer Ansichten. Sie tut es in der Überzeugung, daß nichts in der Welt ewig besteht, auch nicht die Unterdrückung und der Raub der Freiheit.
Meine Damen und Herren, ich stehe hier als Sprecher des Europarates vor Ihnen. Sie kennen genau wie ich die Unzulänglichkeiten dieser Institution. Sie wissen aber auch, daß sie immer noch das einzige und für das freie Europa repräsentativste Organ politischer Zusammenarbeit ist. Seine Stärkung und Belebung ist ein Erfordernis der Stunde. Die Straßburger Versammlung weiß, daß sie bei diesen Bemühungen auf die tatkräftige Unterstützung des Bundestages und der Bundesregierung rechnen kann. Die Besprechungen, die wir in diesen Tagen in Bonn führen dürfen, bestärken uns in dieser 'Gewißheit, und dafür danke ich Ihnen.