Rede von
Dr.
Thomas
Dehler
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Damit ist die Fragestunde beendet.
Ich rufe auf Punkt 3 der Tagesordnung:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes über die Anpassung der Renten dus den gesetzlichen Rentenversicherungen aus Anlaß der Veränderung der allgemeinen Bemessungsgrundlage für das Jahr 1961 (Drucksache IV/16);
Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Sozialpolitik (Drucksachen IV/72, zu IV/72).
Es liegt vor der Schriftliche Bericht des Ausschusses für Sozialpolitik. Berichterstatter ist Herr Abgeordneter Kühn . Ich danke dem Herrn Berichterstatter.
Wir treten in die zweite Beratung ein.
Ich rufe auf die §§ 1, — 2, — 3 — und 4 des Entwurfs. — Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich, Zeichen zu geben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Angenommen.
Ich rufe dann § 5 auf. Hierzu liegt auf Umdruck 2 Ziffer 1 ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor. Wird der Antrag begründet? — Bitte sehr, Herr Abgeordneter Meyer!
Meyer (SPD) : Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Wir haben uns auch in diesem Jahre wieder mit der Frage des „Sonderzuschusses" zu beschäftigen, einer Frage, die immerhin rund 2 Millionen Menschen angeht. Ich glaube, es ist wichtig, dem Hohen Hause klarzumachen, wie dieser „Sonderzuschuß" eigentlich entstanden ist.
Wir hatten in der Rentengesetzgebung einen Parallelfall mit der Mindestrente im Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz 1959. Auch darüber haben wir uns damals immer wieder unterhalten. Ich erinnere Sie an das Verfahren, das Sie beim Ersten Rentenzulagengesetz um eines Prinzips, des Versicherungsprinzips willen, immer wieder hier angeführt haben. Ich habe die Protokolle über die Beratung der drei letzten Rentenanpassungsgesetze in diesem Hause noch einmal durchgelesen und festgestellt: Sie sind nur von diesem Versicherungsprinzip, von Paragraphen usw. ausgegangen, ohne an den Menschen und seine Not zu denken. Sie haben seinerzeit beim Ersten Rentenzulagengesetz zunächst einmal den Witwen, .die nur 40 Mark Mindestrente bekamen, 5 oder 6 Mark Aufstockungsbeträge wieder abgezogen und dann auf Grund eines Prinzips die kleinen, niedrigen Renten erhöht. Der „Sonderzuschuß" ist gegeben worden, weil ein Teil der Renten bei der Schaffung der sogenannten Faktorenrente, d. h. der Umstellung der 6,5 Millionen Renten, nicht erhöht worden ist.
Nun wird immer wieder — auch in den drei zurückliegenden Debatten — etwas geltend gemacht, das ganz abwegig ist und in keiner Form den Tatsachen entspricht, daß es sich nämlich bei diesen Zwergrenten meist nur um Hausfrauenrenten oder ähnliche handle. Ich behaupte, daß dies nicht der Fall ist, und ich bitte — da wir jetzt in der Beratung des Vierten Rentenanpassungsgesetzes stehen —, mir endlich einmal konkret zu sagen, wie viele dieser Hausfrauenrenten denn eigentlich in diesen rund 2 Millionen Renten stecken. Wenn Sie das erforscht haben und uns ganz konkret eine Zahl nennen können, d. h. uns nicht immer wieder mit allgemeinen Redensarten abspeisen, hätten wir das sachliche Fundament einer Diskussion. Aus meiner Kenntnis der 'Praxis kann ich sagen, daß nur ganz wenige Hausfrauen in der freiwilligen Rentenversicherung weiter Beiträge gezahlt haben. Es ist nur ein kleiner Bruchteil der rund 2 Millionen Rentner. Die Faktorenrente, sicher eine schöpferische, groß angelegte Arbeit, dieses Tabellenwerk, war 1957 notwendig, um mit einem Schlag 6,5 Millionen Renten einigermaßen auf die Beitragsrente umzustellen. Ich behaupte, es ist gar nicht exakt möglich gewesen, diese 6,5 Millionen Menschen in eine wirklich funktionierende, richtige Beitragsrente einzugliedern. Es ist einfach nicht möglich, weil die Löhne besonders in den Jahren 1900 bis 1920 bei großen Teilen unserer Beschäftigten sehr niedrig gewesen sind. Es ist vielmehr eine völlige Verzerrung des ganzen Rentengefüges eingetreten, wobei ganz unterschiedliche Leistungen herausgekommen sind.
Ich darf noch einmal das Beispiel anführen, das mir zugetragen wurde: Zwei 'Frauen bezogen vor der Rentenreform eine Rente der gleichen Höhe, ungefähr 144 DM. Nach der Rentenreform, die die Einführung der Faktorenrente brachte, war die Höhe der Renten ganz verschieden. Ich gebe gern zu, daß die eine Frau eine Frühinvaliditätsrente — heute sagen wir: Berufsunfähigkeitsrente — bezog und die Renten dieser Art, wie die Kenner der Materie wissen, in besonders starkem Maße erhöht worden sind. Ich kenne die Gründe nicht im einzelnen: ich bin in diesen Dingen nicht mathematisch so bewandert, um hinter das Geheimnis zu kommen, ob hier etwa bereits bei der Errechnung des Faktors ein Aufstockungsbetrag mit eingesetzt ist; es ist wohl anzunehmen. Jedenfalls wäre durch die Rentenreform die Rente der einen Frau unter die 144 DM gesunken, wenn wir nicht eine Besitz-
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standklausel eingeführt hätten. Die Rente der anderen Frau ist dagegen um 90 DM erhöht worden.
Die Rente der einen Frau ist also lediglich um die 21 DM — da es sich um eine Rente aus eigener Versicherung handelte — des „Sonderzuschusses" erhöht worden. Diesen „Sonderzuschuß" der jetzt zur Diskussion steht, habe ich in Analogie zur seinerzeitigen Mindestrente des Sozialversicherungs-Anpassungsgesetzes gesetzt, um aufzuzeigen, daß Sie immer wieder mit den gleichen falschen Argumenten operieren. Die Rente der einen Witwe ist also immer weiter zurückgeblieben. Die Differenz beträgt mittlerweile über 100 DM, obwohl die Renten vor der Rentenreform fast die gleiche Höhe hatten. So wirkt sich also diese Behandlung des „Sonderzuschusses" aus.
Ich habe das deshalb etwas ausführlicher dargelegt, um mich mit dem Argument auseinanderzusetzen, das in diesen Diskussionen immer wiederkehrt: Der „Sonderzuschuß" ist kein Teil der Rente, es ist eben ein Zuschuß; er ist insbesondere auch kein Teil der sogenannten dynamischen Rente. Wenn Sie sich einmal die Mühe machen, das Rentengefüge eingehend zu betrachten, dann werden Sie erkennen, daß sich diese großen Verzerrungen aus der Eigenart der Umstellung, der sogenannten Faktorenrente, ergeben haben. Keinesfalls trifft es zu, daß es sich bei den Empfängern der niedrigen Renten um Menschen handelt, die die Zahlung ihrer Pflichtbeiträge usw. vernachlässigt haben. Das ist zumindest in 80 % der Fälle nicht so. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir endlich einmal Zahlen über die sogenannte Hausfrauenversicherungsrente vorlegten.
Durch die von Ihnen gefaßten Beschlüsse sind Verzerrungen, Härten und Mängel rückwirkend in das Rentengefüge eingebaut worden. Eine wirkliche Beitragsrente wird vielleicht erst in 15 oder 20 Jahren zu befriedigenden Ergebnissen führen, wenn die Menschen darauf vorbereitet sind, wenn sich das heute bestehende Lohngefüge auswirkt. Es muß aber zu Verzerrungen führen, wenn man die niedrigen Landarbeiterlöhne, Hausgehilfinnenlöhne usw. rück wirk e n d in die Berechnungsgrundlage einbezieht. Alle diese Umstände sind es, die die geringe Höhe jener zwei Millionen Renten bedingen, und mit dem von Ihnen befürworteten Verfahren bestrafen Sie diese Menschen rückwirkend.
Ich könnte Ihnen noch sehr viel Material auf den Tisch des Hauses legen, denn ich habe mich mit Rentenfragen dieser Art eingehend beschäftigt, weil ich einfach nicht Ihr Argument verstehe, der „Sonderzuschuß" sei kein Teil der Rente. Wenn Sie diese Auffassung vertreten, dann bitte ich mir in der 'Diskussion zu sagen, warum Sie dann diesen „Sonderzuschuß" beschlossen haben? Waren es damals — vor der Bundestagswahl — wahlpolitische Gründe? Oder waren Sie der Meinung, daß die Faktorenrente doch nicht so exakt auf die Verhältnisse in der Vergangenheit zurückprojiziert werden kann und daß man den anderthalb bis zwei Millionen Menschen, die früher sehr niedrige Löhne bezogen haben — Ostgebiete, Landwirtschaft usw. —, doch einen gewissen Ausgleich geben müsse. War das Ihre Erwägung? Wenn es Ihre Erwägung war und wenn Sie zu diesem Entschluß gekommen sind, müssen Sie anerkennen, daß der kleine „Sonderzuschuß ein Teil der Rente ist.
Sie wissen, wie sich das Preis- und Lohngefüge in unserem Land seit 1957 entwickelt hat; es ist nicht meine Aufgabe, darüber eine Untersuchung anzustellen. In der Sozialpolitik habe ich einfach von den Tatsachen auszugehen, davon, daß anderthalb bis zwei Millionen Menschen nun immer wieder weiter zurückgedrückt werden. Das geht sogar so weit — um eine andere Auswirkung anzuführen —, daß Sie bei demjenigen, dessen Altersruhegeld mit Erreichung des 65. Lebensjahres die bekannte 2/13-Erhöhung erfahren soll, den „Sonderschuß" erst einmal abziehen und dann der Rentner auf den übrigen Teil der Rente seine 2/13 aufgeschlagen erhält, so daß manchmal nur ein paar Groschen „Erhöhung" übrig bleiben. Die Menschen schreiben: Wie ist das nun möglich?, wir sollen nach dem klaren Gesetzestext bei der Umwandlung in ein Altersruhegeld 2/13 Zuschlag zu der Rente, die wir haben, und nicht eine gekürzte Rente haben. — Sie sehen also, daß sich eine Reihe von Schwierigkeiten ergeben, weil Sie sich auf diesen Standpunkt gestellt haben.
Wir fordern deshalb, daß der „Sonderzuschuß" endlich voll einbezogen wird. Ich darf auch noch darauf hinweisen, daß es sich zwar um den „Sonderzuschuß" von 14 bzw. 21 DM handelt, daß aber diese Menschen — fast zwei Millionen — nicht alle den vollen „Sonderzuschuß" erhalten, sondern nur ein Teil. Beispiel: In der Rentenerhöhung durch die Faktorenrente steckte schon eine Erhöhung von 10 DM. Dann bekam der Betreffende von diesem Sonderzuschuß nur noch 11 DM. Es werden also auch diesmal wieder nur die 10 DM in die Dynamik der vierten Rentenanpassung einbezogen. Wenn Sie ernsthafte Untersuchungen anstellten, würden Sie mit uns zu dem gleichen Ergebnis kommen. Denn diese Renten werden ja zunächst alle ausgeklammert. Die Post kann sie nicht umstellen. Es ist eine große Verwaltungsarbeit notwendig. Wenn Sie die 10 DM in die Rentenanpassung einbeziehen, sind das 50 Pf im Monat. Wenn Sie sich diese ungeheure Verwaltungsarbeit — Lohnstunden und alles, was damit verbunden ist — einmal vor Augen führen, erkennen Sie, daß wir einen großen Teil Geld für eine Verwaltungsarbeit ausgeben, den wir eigentlich den kleinen Rentnern geben sollten,
und dann erkennen Sie weiter, daß der Standpunkt
auf die Dauer nicht aufrechterhalten werden kann.
Wir hatten den Eindruck— an anderer Stelle hat der Kollege Professor Dr. Schellenberg schon davon gesprochen —, daß von der größten Fraktion — oder einem Teil dieser Fraktion — mancherlei in die Welt gesetzt worden ist. Ich könnte auch Äußerungen des Kollegen Kühn über das Weihnachtsgeld und eine Sonderzulage verlesen, — und was alles für Illusionen in den Menschen erweckt worden sind. Wir Sozialdemokraten haben uns von vornherein nicht
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daran beteiligt, weil wir der Überzeugung sind, daß in dem Gefüge der Rentenversicherung zunächst gar kein richtiger Raum dafür vorhanden ist. Wir haben in § 2 des Vierten Rentenanpassungsgesetzes eine wichtige Neuerung dahingehend getroffen, und wir sind hier so mit einer Handbewegung in den ersten Paragraphen darüber hinwegegangen. Hier haben Sie auch eine Position aufgegeben, bei der wir in den früheren drei Rentenanpassungsgesetzen die größten Schwierigkeiten gehabt haben. Sie beziehen jetzt endlich in bezug auf die Ruhensvorschriften etwas ein, was längst fällig war, schon bei den früheren Rentenanpassungsgesetzen. Alle die Renten, die unter die Ruhensvorschriften fallen, werden jetzt neu berechnet werden, so daß hier unter Umständen nicht nur eine Rentenerhöhung von 5 %, sondern von 15 und mehr Prozent herauskommen wird.
Wir begrüßen das insbesondere deshalb, well ein großer Teil der Bergleute einen gerechten Vorteil von dieser Regelung haben wird.
Ich darf zusammenfassen. Gehen Sie nun endlich bei der Vierten Rentenanpassung den Schritt, den Sie in § 2 bei den Ruhensvorschriften gemacht haben! Geben Sie auch diese Position auf! Sparen Sie ungeheure Verwaltungsarbeit! Vereinfachen Sie den Vorgang der Rentenanpassung, und denken Sie insbesondere an die vielen kleinen Rentner!
Ich freue mich, daß in diesem Jahr nicht wieder so viele abwertende Zwischenrufe hier gemacht worden sind,
die immer gerade auf diese kleinen Renten ausgingen. Ich habe mich heute — um abzuschließen — gar nicht mit diesen Tatsachen befaßt, die den Kennern der Materie, glaube ich, vollkommen klar sind, sondern ich habe versucht, einmal Ihren Blick auf die Verzerrung des Rentengefüges und die Faktorenrente hinzulenken, auf die dadurch entstehenden Ungerechtigkeiten und Schwierigkeiten für viele Rentner. In diesem Zusammenhang habe ich Sie gebeten, den „Sonderzuschuß" Ihrer Betrachtung zu unterziehen.
Wir bitten also, bei der Vierten Rentenanpassung endlich auch den vollen „Sonderzuschuß" in die Rentenanpassung miteinzubeziehen.