Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es kommt nicht häufig vor, daß vor diesem Hohen Hause von der Bundesratsbank aus das Wort ergriffen wird. Wenn ich heute namens des Landes Berlin vor Sie hintrete, dann spiegelt sich darin die außerordentliche Lage wider, in die wir gebracht wurden.
Es geht nicht um Berlin allein. Es geht um das kalte Ungarn, das sich im anderen Teil Deutschlands und im Ostsektor meiner Stadt vollzogen hat: Sie alle kennen die Bilder vom Stacheldraht, von den Betonpfählen und Betonmauern, von den Panzern, von den spanischen Reitern und von den feldmarschmäßig ausgerüsteten Soldaten. Was geschehen ist, ist mehr als ein schreiendes Unrecht.
Man muß die Unzahl menschlicher Tragödien im Auge haben, die ,sich in diesen Tagen abspielen. Mitten durch eine Stadt, in der es trotz der administrativen Teilung noch immer täglich vieltausendfache Verbindungen gab, sind die Betonpfähle einer Grenze eingerammt worden, die zu einer Art chinesischer Mauer ausgebaut wird.
Was zusammengehört, ist weiter auseinandergerissen, es wird brutal zerschlagen. Das Recht auf Freizügigkeit wurde zertrampelt. Dabei ist es primitives Menschenrecht, fliehen zu dürfen von einem Land in das andere. Um wieviel mehr gilt das erst, wenn es sich um die Flucht innerhalb eines Landes und innerhalb einer einzigen Stadt handelt.
Deshalb ist es die Meinung Berlins, daß vor allem eine Initiative ergriffen werden müßte, um die flagrante Verletzung der Menschenrechte international zu brandmarken. Der Schutz der Menschenrechte ist eine ureigene Aufgabe der Vereinten Nationen. Den Weg vor das Weltforum kann man sich nicht aufheben für den Fall, daß eine Welt zu brennen beginnt.
Es ist schon heute ein Zustand eingetreten, der das Eingreifen internationaler Institutionen notwendig macht, zumal die unmittelbar Betroffenen nicht mehr glauben, die Akte des Rechtsbruchs und der Aggression ohne Gefährdung des Friedens wirksam zurückweisen zu können.
Die Menschen in der von Ulbricht geknebelten und von sowjetischen Panzern in Schach gehaltenen Zone und in dem von Ulbricht besetzten und annektierten Ostberlin sind voll Haß und Verzweiflung. Sie befinden sich in einem Gefühl grenzenloser Verlassenheit.
Sie müssen ihre Empörung unterdrücken. Niemand von uns wird sie der Verzweiflung preisgeben wollen.
Auch aus diesem Grund ist es gut, daß der Deutsche Bundestag zusammengetreten ist, und es ist erfreulich, daß sich in diesen Tagen manche Zeichen der Verbundenheit, der Solidarität gezeigt haben. Wir dürfen jetzt — das ist die Meinung Berlins — mit den Ulbricht-Leuten weder über Ge-
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schäfte reden noch sonst so tun, als sei nichts Besonderes passiert.
Für die Stadt Berlin ist eine neue Lage entstanden. Als Stätte täglicher menschlicher Begegnungen zwischen West und Ost ist sie ausgeschaltet worden. Ausgeschaltet worden ist aber auch das Ventil, durch das bisher der Überdruck aus dem Ulbricht-Staat entweichen konnte.
Meine Damen und Herren, mehr als 9 Millionen Karten für kulturelle Veranstaltungen sind im letzten Jahr an Ostberliner und Bewohner der Zonenrandgebiete ausgegeben warden. 60 000 Bürger meiner Stadt, die ihren Wohnsitz in Ostberlin haben, haben ihre Arbeit in Westberlin gefunden. Ich kenne aus diesen letzten Tagen Fälle, in denen Menschen nachts durch den Stacheldraht gekrochen sind, um sich von ihren Arbeitskollegen zu verabschieden, und mit Tränen in den Augen hinter den Stacheldraht zurückgingen, weil ihre Frauen, ihre Kinder und ihre Eltern drüben sind. Berlin ist nicht mehr der Ort, zu dem die Menschen kommen konnten, um die Luft der Freiheit zu atmen, um sich neue Kraft zu holen, bevor sie in ihren grauen Zonenalltag zurückkehrten.
Der Senat von Berlin — und dieses möchte ich dem Hohen Hause in aller Form zur Kenntnis bringen — hat im Rahmen seiner begrenzten Möglichkeiten getan oder eingeleitet, was die Lage erfordert. Er hat dafür gesorgt, daß die Ordnung tin der Stadt aufrechterhalten wurde und daß dass Wirtschaftsleben nicht in Unordnung geriet.
Ich muß von dieser Stelle aus herzlich darum bitten, daß jetzt erst recht Aufträge nach Berlin gegeben werden.
Das freiheitliche Berlin kann nicht leben ohne sein eigenes und das Vertrauen seiner Freunde in seine Lebensfähigkeit und Lebenskraft. Es wird noch mehr als bisher ausgebaut werden müssen zu einer großen modernen Stadt wirtschaftlichen und kulturellen Schaffens.
Meine Mitbürger haben Vertrauen in die für die Freiheit der Bevölkerung Westberlins, die Anwesenheit der alliierten Truppen in Westberlin und den Zugang von und nach Westberlin gegebenen alliierten Garantien. Ich bin nicht nur überzeugt, ich weiß es — und ich habe es meinen Mitbürgern auf einer großen Kundgebung dieser Tage gesagt —, daß das Überschreiten der dadurch gezogenen Linie mehr als ein Risiko wäre. Diese Garantien sind heute Garantien des Friedens. Sie sind die Basis unserer Existenz in Berlin. Aber das gilt auch für Westdeutschland und für den Westen überhaupt.
Die Berliner haben seit mehr als zwölf Jahren bewiesen, daß sie lieber Entbehrungen auf sich nehmen, als ihren Nacken unter das Joch einer neuen Diktatur zu beugen.
Heute kommt es dort und anderswo trotz bitterer
Enttäuschungen mehr denn je darauf an, daß wir
fest und entschlossen an der Seite unserer Freunde stehen.
Gestern habe ich in einer Korrespondenz gelesen, was sich am Sonntag ereignet habe, sei „eine Maßnahme der Kommunisten in ihrem Machtbereich, nicht eine Maßnahme gegen die Freiheit im Bereich des Westens" gewesen. Ich halte diese Einschätzung für falsch.
Erstens werden die Interessen des freiheitlichen Berlin unmittelbar berührt, wie ich noch darlegen werde. Zweitens wird das Leben unseres gespaltenen Volkes tief berührt. Vor allem ,aber dürfte es keine Äußerung mehr geben, die indirekt den Akt der unrechtmäßigen Besetzung ides Ostsektors entschuldigt.
In diesen Tagen vollziehen sich nicht nur unzählige Einzelschicksale. In diesen Tagen geschieht etwas mit unserem Volk, und zwar in beiden Teilen unseres Landes. Die einen fragen die anderen, ob sie abgeschrieben werden. Die einen fragen die anderen, wie hoch wir, die wir frei sind, Rechtlichkeit und Solidarität achten.
Es ist schon einmal namenloses Unglück über unser Volk und über die Menschheit gekommen, weil wir Gesetz und Moral gering geachtet haben, weil wir geglaubt haben, daß das Schicksal anderer uns wenig angehe, solange es uns nur gut gehe.
Der Regierende Bürgermeister von Berlin hat in diesen Tagen aus allen Teilen der Bevölkerung unzählige Beweise dafür erhalten, daß es falsch ist, zu glauben, die Menschen in der Bundesrepublik würden nicht verstehen, was seit idem Sonntag in Berlin und in der Zone passiert ist. Unser Volk ist nicht der Kühlschrank-Ideologie zum Opfer gefallen. Unser Volk hat sich den Sinn für die gemeinsame Verantwortung bewahrt. Und das ist für unsere Landsleute drüben in der Zone wichtig zu wissen.
Was in Ostberlin geschehen ist, das ist ,der Einmarsch einer Armee in ein Territorium, in dem sie nichts zu suchen hat.
Die sogenannte Volksarmee mit ihren Nebenorganisationen hat Ostberlin annektiert. Sie hat den Viermächtestatus unter ihren Panzerketten zermahlen.
Die Anordnungen, die dazu geführt haben, stammen vom sogenannten „Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik". Die Anordnungen, die den S- und U-Bahnverkehr unterbrochen haben, sind vom sogenannten „Minister für Verkehrswesen der Deutschen Demokratischen Republik" unterzeichnet. Die Anordnungen, die den Bewohnern
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Ostberlins das Betreten Westberlins verboten haben, sind vom „Minister des Innern der Deutschen Demokratischen Republik" unterzeichnet. Die Erlaubnis für „friedliche Westberliner", den Ostsektor der Stadt zu betreten, stammt vom Innenminister der sogenannten „Deutschen Demokratischen Republik". Das gleiche gilt für die Anordnungen, die die Einwohner Westdeutschlands betreffen. Der Minister des Innern der sogenannten DDR hat den ausländischen Staatsangehörigen einschließlich der Angehörigen des Diplomatischen Corps und der Angehörigen der westlichen Besatzungsstreitkräfte gestattet, zunächst 13, im Augenblick 12 — ich weiß nicht, wie viele in Zukunft — Übergangsstellen in den Ostsektor zu benutzen. Für den Oberbürgermeister Ostberlins blieb die klägliche Aufforderung übrig, seinen Bürgern zu sagen, daß sie nicht mehr in Westberlin arbeiten dürfen, und sie aufzufordern, sich eine neue Arbeit zu suchen.
Die Zonenregierung hat ihre quasi Souveränität voll auf Ostberlin ausgedehnt. Sie hat Ostberlin annektiert, und sie hat diese Souveränität ausgeübt über alle — ich wiederhole: über alle —, die in Frage kommen könnten, Ostberlin zu betreten.
Das sind die nackten Tatsachen, an denen es nichts zu beschönigen gibt, über die man nicht hinweggehen kann, wenn man sich nicht selbst betrügen will.
Die Anerkennung der Tatsachen, die durch eine bewaffnete Macht geschaffen sind, ist eine denkbar starke Form der Anerkennung einer staatlichen Organisation. Wer in den letzten Tagen das Organ des Zentralkommitees der kommunistischen Einheitspartei, wer das „Neue Deutschland" gelesen hat, der weiß, welche Töne des Triumphes, der Genugtuung, ,des Stolzes und des Hohnes auf den Westen dort zu vernehmen sind. In den letzten Anordnungen der Zonenbehörden ist sogar die Sektorengrenze amtlich als — ich zitiere — die „Grenze der Deutschen Demokratischen Republik" bezeichnet worden.
Das, was man dort bisher als Staatsgrenze bezeichnet hat — die Schlagbäume am Ostrand des Ostsektors — ist an den Potsdamer Platz und an das Brandenburger Tor vorverlegt worden.
Und dann kommt — wenn ich es richtig gelesen habe — der sowjetische Botschafter rund erklärt, daß Ministerpräsident Chruschtschow die Lage in Berlin nicht weiter verschärfen wolle.
Solche Töne hat man früher schon von anderen ,gehört.
Man nimmt und sagt, im Augenblick sei es genug.
Selbstverständlich kann das Verhältnis zur Regierung der Sowjetunion — so haben es die Berliner dieser Tage vor dem Abgeordnetenhaus und an anderer Stelle gesagt, und so sage ich es auch hier — nicht unbeeinflußt bleiben durch den empörenden Rechtsbruch vom 13. August.
Selbstverständlich können wir nicht so tun und werden wir nicht so tun, als ließe sich das Vorgefallene isolieren und ausklammern. Selbstverständlich können wir angesichts der flagranten Verletzung der Menschenrechte nicht über ein Kulturabkommen verhandeln, als ob nichts geschehen wäre.
Es ist eine Selbstverständlichkeit, daß die, die Verantwortung tragen in Deutschland — die Bundesregierung und auf unserer bescheideneren Ebene der Senat von Berlin —, nichts zu tun beabsichtigen, was die internationale Lage verschlechtert. Es kann keine Stadt geben und es kann kein Volk geben, die die Sicherung des Friedens mehr wünschten als Berlin und als das .deutsche Volk; und ich bin überzeugt, ,es wird dabei bleiben. Aber die Regierung der Sowjetunion darf nicht glauben, uns ins Gesicht schlagen zu können, und wir lächelten noch dazu.
Die über eine Viertelmillion Menschen, die vorgestern in Berlin freiwillig vor dem Rathaus zusammengekommen sind und empört und erbittert die Schande der letzten Tage in alle Welt gerufen haben, diese Menschen haben gemeinsam mit meinem Kollegen Amrehn und mir bekundet, daß sie kein Verständnis hätten für eine Haltung — irgendwo in der Bundesrepublik oder irgendwo in der westlichen Welt —, der die primitivste Selbstachtung fehlt. Ein Wurm krümmt sich noch, wenn er getreten wird.
Für die westlichen Schutzmächte bedeutet der vergangene Sonntag, daß sie aus jenen Viermächtevereinbarungen herausgedrängt worden sind, die sich auf Berlin als Ganzes beziehen. Die Erklärung der Warschauer-Pakt-Staaten und das, was die Zonenregierung, darauf gestützt, verkündet hat, bedeutet in Wirklichkeit auch, daß den Westmächten die Mitverantwortung für Deutschland als Ganzes streitig gemacht wird, und zwar noch vor dem vielerörterten separaten Friedensvertrag.
Unsere westlichen Schutzmächte haben in allem Ernst gestern auch in Moskau protestiert. Sie haben in voller Übereinstimmung mit uns die Verantwortung der Sowjetunion festgestellt. Sie haben diesen Einmarsch als illegal bezeichnet und die Rücknahme der damit verbundenen Maßnahmen verlangt. Das deckt sich auch mit der Meinung des Senats von Berlin und der Berliner Bevölkerung. Darüber hinaus haben die Westmächte in ihren Noten auf die Tatsache aufmerksam gemacht, „daß diese einseitige Abänderung des Vier-Mächte-Status von Berlin die Spannung und die bestehenden Gefahren nur vergrößern kann". Diese Vergrößerung der Spannung ist eingetreten. Sie liegt in der einseitigen Schuld der Regierung der Sowjetunion,
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die nicht davon ablassen will, das aus Brutalität und Unfähigkeit zusammengesetzte Ulbricht-Regime zu stützen.
Die Regierung der Sowjetunion muß nachdrücklich darauf hingewiesen werden, wie gefährlich es ist, wenn sie auf dem Bruch der Vier-Mächte-Vereinbarungen beharrt. Aber die von der Sowjetunion zerfetzten Vier-Mächte-Vereinbarungen dürfen, ehe sie nicht wiederhergestellt sind, nicht zu einem Selbsthindernis des Westens werden, wenn es sich darum handelt, das zu tun, was im Interesse des freiheitlichen Berlin als Teil des freien Deutschland erforderlich ist. Dis Verbindungen zwischen der Bundesrepublik und Westberlin dürfen nicht gelockert, sie müßten eher gestrafft werden.
Die Bundesrepublik, die die völkerrechtliche Vertretung des Landes Berlin übernommen hat, darf auch keine internationalen Verträge schließen, ohne daß die Interessen Berlins gesichert sind.
Der Senat von Berlin würde es für gut halten, wenn sichtbare Zeichen der alliierten Präsenz und der alliierten Rechte erfolgten und wenn alle möglichen politischen Initiativen ergriffen würden. Der Senat erwartet außerdem, daß eine weltweite Aufklärung dieses neuen Unrechts unternommen wird, und er ist selbstverständlich bereit, dabei mitzuwirken.
Der Senat von Berlin hat vor dem Abgeordnetenhaus, vor der Berliner Bevölkerung und gegenüber der Bundesregierung betont, daß überzeugende, nichtmilitärische Maßnahmen ergriffen werden sollten. Er verbindet damit keine Vorwürfe an die Adresse der westlichen Verbündeten. Er hält nur nichts von sogenannten Gegenmaßnahmen, die ein schallendes Gelächter vom Potsdamer Platz bis Wladiwostok auslösen würden.
Er hält nichts von Ankündigungen, denen nichts folgt.
Er hält mehr davon, daß unserem ganzen Volk ein möglichst klares Bild vermittelt wird von den tatsächlichen Gegebenheiten und von der veränderten Wirklichkeit, mit ,der wir es zu tun haben, wenn es nicht gelingt, den Rechtsbruch rückgängig zu machen. Alle Beteiligten müssen sich völlig darüber im klaren sein, daß die Maßnahmen des letzten Sonntags nur ein Auftakt gewesen sind. Sie waren der erste Akt eines Dramas, dessen zweiter Akt bereits angekündigt ist.
Der sowjetische Ministerpräsident hat die Hälfte seiner Forderungen für das, was er eine „Freie Stadt Westberlin" nennt, verwirklicht. Er hat sich, was er gefordert hat, selbst genommen. Durch derartige Teilerfolge ist der Appetit noch jeder Diktatur größer geworden.
Das ist das eigentliche Gefährliche der Lage.
Der Regierende Bürgermeister von Berlin kann nur vor einer Haltung warnen, die eine Prämie für Vertragsbruch, eine Belohnung für Gewalt sein würde. Sie wäre eine Einladung für Ulbricht, die Politik der vollendeten Tatsachen fortzusetzen. Die Spannung wird nicht verschärft, indem man die Wahrheit sagt, sondern die Spannung wird verschärft, indem einseitige Akte des Unrechts begangen werden.
Wir haben in der Zeit vor diesen Ereignissen oft und wiederholt gehört, daß Verhandlungen nicht unter Drohungen stattfinden dürfen. So hieß es seinerzeit, das Ultimatum müsse weg, bevor man verhandeln könne. Der Westen wird unserer Meinung nach zu sichern haben, daß er nun nicht bei kommenden Verhandlungen den Zustand der vollendeten Erpressung akzeptiert.
Wir haben gehört, daß bei der Pariser Konferenz auch über eine westliche Verhandlungsinitiative gesprochen worden ist. Es müßte absolut klar sein, daß Verhandlungen nur auf einer eindeutigen Rechtsbasis stattfinden können, es sei denn — was keiner von uns glauben darf —, man wäre bereit, in Anerkennung vollendeter Tatsachen über einen verschlechterten Status für Westberlin zu verhandeln.
Was am Sonntag geschehen ist — ich sage es noch einmal —, das ist keine unmittelbare Bedrohung Westberlins. Aber es ist ein tiefer Einschnitt im Leben unseres Volkes, und es ist auch ein Anschlag auf die westliche Gemeinschaft. Ich meine, daß es um die Glaubwürdigkeit geht, um die Glaubwürdigkeit der westlichen Politik.
Der zweite Akt der Erpressung, der separate Friedensvertrag, den ich nur Teilungsdiktat nennen kann, wird in aller Offenheit angedroht. Ein Teilungsdiktat bringt uns mehr als das Problem der Agententheorie. Es geht dabei nicht um Stempelfragen, sondern um das Ansinnen, daß die Bundesrepublik meineidig werden soll an den Landsleuten in der Zone.
Die Berliner stehen ganz gewiß nicht allein, wenn sie sagen: Die Bundesrepublik wird sich mit einem Teilungsdiktat nicht abfinden können.
Sie wird es niemals anerkennen können, nicht nur, weil sie ihre eigene Verfassung nicht brechen darf, die uns verbindlich auffordert, stellvertretend für alle Deutschen zu handeln. Das Grundgesetz verpflichtet die Bundesrepublik — wie es auch hier erneut gesagt worden ist —, sich um die Menschen in der sowjetisch besetzten Zone zu kümmern. Die Bundesrepublik kann und darf ein Teilungsdiktat nicht anerkennen, ohne die Verfassung zu brechen.
Wir sind uns mit den Verbündeten einig, die ebenfalls die Wiedervereinigung vertraglich zum Ziele ihrer Politik gemacht haben. Auch sie könnten sich nicht mit einem Vertrag abfinden, der das Gegenteil der gemeinsamen Politik bedeutet.
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Die Preisgabe unserer Landsleute wird nicht stattfinden. Wir sind ein Volk — das haben die Berliner angesichts der Drohungen dieser Tage auf ihre Weise noch einmal zu zeigen gehabt —, ein Volk, das auch eine Selbstachtung hat. Recht und Moral verpflichten uns zu diesem Standpunkt. Diese Haltung ergibt sich aber auch aus unserer demokratischen Überzeugung; denn ohne diese integre und unerschütterliche Haltung würden wir selbst, aus Schwäche oder Opportunismus, Wegbereiter eines neuen Nationalismus werden. Und niemand, dem der Friede etwas wert ist, in Ost oder West, kann das wünschen.
Der Regierende Bürgermeister von Berlin weiß mit seinen Mitbürgern, daß wir vor schweren Monaten stehen. Hoffentlich werden wir uns darin bewähren.