Rede von
Dr.
Konrad
Adenauer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Namens der Bundesregierung gebe ich folgende Erklärung ab:
Die Machthaber in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands haben seit den frühen Morgenstunden des 13. August den Verkehr zwischen dem sowjetischen Sektor und den drei westlichen Sektoren Berlins fast völlig zum Erliegen gebracht. Entlang der Sektorengrenze wurden Stacheldrahtverhaue errichtet; starke Verbände der Volks- und Grenzpolizei bezogen ihre Stellungen an der Sektorengrenze, um die Abriegelung des Verkehrs zwischen Ost- und Westberlin durchzuführen. Gleichzeitig wurden Truppen der Nationalen Volksarmee in Ostberlin eingesetzt.
Diese Abriegelungsmaßnahmen wurden auf Grund eines Beschlusses der Zonenmachthaber vom 12. August ergriffen. Mit ihrer Durchführung hat das Ulbricht-Regime gegenüber der gesamten Welt eine klare und unmißverständliche politische Bankrotterklärung einer 16jährigen Gewaltherrschaft abgegeben.
Mit diesen Maßnahmen hat das Ulbricht-Regime eingestehen müssen, daß es nicht vom freien Willen der in der Zone lebenden Deutschen getragen und gestützt wird. Mit diesen Maßnahmen hat das Ulbricht-Regime bestätigt, daß die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts durch das deutsche Volk zur Erhaltung des Weltfriedens unaufschiebbar geworden ist!
Diese widerrechtlichen Maßnahmen, die die Bundesregierung mit Sorge und mit Abscheu zur Kenntnis genommen hat, stehen in flagrantem Widerspruch zu den Viermächtevereinbarungen über die Bewegungsfreiheit innerhalb Groß-Berlins und denjenigen Viermächtevereinbarungen, die die Regelung des Verkehrs zwischen Berlin und ,der Zone zum Gegenstand haben.
Mit der Abriegelung des Verkehrs zwischen Ost- und Westberlin hat das Zonenregime die bestehenden und von der Regierung der UdSSR bis auf den heutigen Tag anerkannten Viermächtevereinbarungen betreffend Berlin einseitig und mit brutaler Gewalt verletzt.
Die Bundesregierung stellt mit großem Bedauern fest, daß dieser Willkürakt mit Billigung der Regierung der UdSSR als Führungsmacht des Warschauer Paktes erfolgt ist. Mit dieser Billigung hat sich die sowjetische Regierung in Gegensatz zu ihren ständigen Beteuerungen gestellt, die Deutschland- und Berlin-Frage auf dem Verhandlungswege zu lösen. Während der amerikanische Präsident in seiner letzten Pressekonferenz vom 10. August erneut die Bereitschaft der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika zum Ausdruck gebracht hat, über die Deutschland- und Berlin-Frage Verhandlungen zu führen, reagieren die Zonenmachthaber auf diesen westlichen Friedens- und Verhandlungswillen mit militärischen Maßnahmen. Diese Reaktion führt der gesamten Weltöffentlichkeit — mehr als Worte dies zu tun vermögen — vor Augen, daß die gegenwärtige Krise einzig und allein durch die sowjetische Deutschland- und Berlin-Politik ausgelöst wurde.
Die Regierung der Sowjetunion hat am 10. November 1958 durch ihre Erklärungen die Berlin-Krise ausgelöst. Sie hat in der Zwischenzeit in zahllosen Noten und Erklärungen darauf hingewiesen, daß sie, was auch sonst ihr Ziel sei, nicht daran denke, die Freiheit Westberlins anzutasten, die vielmehr von ihr feierlich garantiert werden solle. Wie lassen sich diese Erklärungen mit den Ereignissen der letzten Tage vereinbaren? Die Abmachungen der Sowjetunion mit ,den drei westlichen Mächten wurden zerrissen. Die Panzer der Volksarmee, die Volkspolizei und die Betriebskampfgruppen, die in und um Ostberlin zusammengezogen wurden, um einen rechtswidrigen Angriff gegen den Status der Stadt Berlin militärisch zu unterstützen, geben eine Vor-
9770 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Freitag, den 18. August 1961
Bundeskanzler Dr. Adenauer
ahnung dessen, wie die Garantie einer sogenannten Freien Stadt beschaffen sein würde.
Die drei westlichen Verbündeten, die im Rahmen der Viermächtevereinbarung eine besondere Verpflichtung für Berlin und für Deutschland übernommen halben, haben einen nachdrücklichen Protest und eine ernste Mahnung an die Sowjetunion gerichtet. Sie haben die ergriffenen Maßnahmen als illegal und als einen unverantwortlichen einseitigen Bruch der bestehenden Vereinbarungen bezeichnet. Sie haben mit Recht die verlogene Behauptung zurückgewiesen, die in der sogenannten Empfehlung der Staaten des Warschauer Paktes enthalten ist, daß nämlich diese Maßnahmen im eigenen Interesse des deutschen Volkes liegen; und sie haben betont, daß diese Behauptung nichts anderes darstellt als eine Einmischung in die inneren Verhältnisse des deutschen Volkes.
Wie das deutsche Volk über diese brutalen Maßnahmen denkt, wäre leicht zu ermitteln. Es würde genügen, alle Deutschen in der Bundsrepublik, in der sowjetisch besetzten Zone und in ganz Berlin darüber zu befragen. Die Antwort wäre eine leidenschaftliche Verurteilung durch die überwältigende Mehrheit des deutschen Volkes.
Die Bundesregierung hat das Recht und hat die Pflicht, für das ganze deutsche Volk zu sprechen, also auch für diejenigen Deutschen, die durch die Gewaltmaßnahmen in der sowjetischen Besatzungszone zum Schweigen verurteilt sind. Sie appelliert eindringlich an die Sowjetunion, in diesem kritischen Augenblick zu einer realistischen Betrachtung der Dinge zurückzufinden. Es sollte unter der Würde eines großen Volkes sein, Kreaturen zu schützen, die vom eigenen Volke verachtet werden.
Die russische Regierung und das russische Volk sollten sich nicht dazu hergeben, daran mitzuwirken, daß ein Teil eines großen ihnen benachbarten Landes gegen den Willen der Bewohner in ein Konzentrationslager umgewandelt wird.
Man sollte in Moskau erkennen, daß alle Menschen der Welt, die sich zu dem mit der Charta der Vereinten Nationen anerkannten Selbstbestimmungsrecht der Völker. bekennen, nur eine tiefe Verachtung für ein Regime haben können, das dieses Selbstbestimmungsrecht mit Füßen tritt. Eine Neuordnung der 'Beziehungen zwischen dem rassischen Volk und dem deutschen Volk ist auf dem von den Behörden der Sowjetzone beschrittenen Wege nicht denkbar.
Die Deutschen in der Zone empfinden Haß und Verachtung gegenüber denen, die sie in unmenschlicher Weise vergewaltigen. Und sie müssen ähnliche Gefühle denen gegenüber tragen, die dieses System unterstützen. Die Schließung der Grenzen ist eine beispiellose 'Bankrotterklärung; sie zeigt, daß die Menschen, die in diesem Teil Deutschlands zu leben gezwungen sind, nur unter Anwendung physischen Zwanges daran gehindert werden können, dieses Paradies der Arbeiter und Bauern zu verlassen.
Es gibt nur eine Möglichkeit, die Beziehungen zwischen dem russischen und dem deutschen Volk auf eine neue Grundlage zu stellen: Dem deutschen Volk muß das Recht zurückgegeben werden, das man keinem Volk der Welt verweigert, durch freie und unbeeinflußte Willensentscheidung eine Regierung zu bilden, die dann den legitimen Auftrag besitzt, für das ganze deutsche Volk zu sprechen, zu handeln und zu entscheiden.
Die Bundesregierung appelliert aber auch an die Regierungen aller Nationen der Welt, die die Charta der Vereinten Nationen unterzeichnet oder anerkannt haben. Die Maßnahmen, die von den sowjetzonalen Behörden durchgeführt werden und angekündigt wurden, sind nichts anderes als ein flagranter Verstoß gegen dieses Grundgesetz, das für die innere Ordnung der Völker der Welt ebenso gültig sein soll wie für die Beziehungen zwischen den Nationen.
Mit tiefer Bewegung gedenkt die Bundesregierung aber auch der persönlichen Schicksale von vielen Millionen, die ein Opfer dieser unmenschlichen Maßnahmen geworden sind. Nahezu dreieinhalb Millionen sind in den zurückliegenden Jahren aus der Zone und dem Ostsektor von Berlin geflohen, weil ihnen keine andere Möglichkeit blieb, ein Leben in Freiheit zu führen. Unter Aufgabe ihres Berufes, unter Zurücklassung von Hab und Gut haben sie sogar die menschlichen Beziehungen abgebrochen, die sie mit 'ihrer Familie, mit ihren Verwandten, mit ihren Freunden verbanden. Für un-
Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Freitag, den 18. August 1961 9773
Bundeskanzler Dr. Adenauer
zählige Menschen, die den gleichen Weg gehen wollten, ist nun die Tür 'zugeschlagen worden. Die Bundesregierung gibt der Hoffnung, aber auch der Überzeugung Ausdruck, daß am Beginn der auch von ihr gewünschten Verhandlungen die Aufhebung dieser Maßnahmenstehen wird.
Nichts könnte das deutsche Volk besser davon überzeugen, daß solche Verhandlungen der Aufrechterhaltung des Friedens in der Welt und einer dauerhaften Neuordnung der Beziehungen zwischen den Völkern dienen, als eine solche Maßnahme.
Es genügt nicht, meine Damen und Herren, von Frieden zu sprechen; dem mündlichen Bekenntnis müssen Taten folgen,
die erkennen lassen, daß der Friede nicht nur zwischen, sondern erst recht und ganz besonders in den Völkern bestehen muß.
Jeder einzelne hat ein Recht darauf, in Frieden zu leben. Die Unfreiheit ist die schauerlichste Form der Friedlosigkeit.
Lassen Sie mich zum Schluß einige Sätze an die Bewohner des Ostsektors von Berlin und der Zone richten. Ihr Leid und Ihre Sorge ist unser Leid und unsere Sorge.
In Ihrer so besonders schweren Lage fanden Sie wenigstens in ,dem Gedanken Trost, daß Sie, wenn Ihr Los nicht mehr tragbar sei, ihm durch die Flucht entgehen könnten. Es sieht jetzt so aus, als wenn Ihnen auch dieser Trost genommen ist. Ich bitte unsere Brüder und Schwestern im Ostsektor von Berlin und in der Zone von Herzen: Geben Sie die Hoffnung auf eine bessere Zukunft für Sie und Ihre Kinder nicht auf.
Wir sind überzeugt, daß es den Anstrengungen der freien Welt und insbesondere auch unseren Anstrengungen doch eines Tages gelingen wird, Ihnen die Freiheit wieder zu verschaffen.
Das Selbstbestimmungsrecht wird seinen Siegeszug durch die Welt fortsetzen und wird auch vor den Grenzen der Zone nicht haltmachen. Sie werden eines Tages — glauben Sie es mir — mit uns in Freiheit vereint sein. Wir stehen nicht allein in der Welt, das Recht steht auf unserer Seite, und auf unserer Seite stehen die Völker der Welt, die die Freiheit lieben.