Rede von
Hermann
Dürr
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von 1922 hat einen guten Start gehabt. Es fand bei seiner Verabschiedung im Parlament eine breite Mehrheit. Daß es nicht so bald voll wirksam geworden ist, lag nicht am schlechten Willen der Parlamentarier,
sondern es lag an den Auswirkungen und an den Folgen der Inflation.
Auch die Novelle zu 'diesem Gesetz vom Jahre 1953 hatte einen guten Start. Das Protokoll dieses Hohen Hauses verzeichnet keine Gegenstimmen und nur einige Enthaltungen bei der Schlußabstimmung.
Dem vorliegenden Entwurf kann man .das gleiche Glück nicht prophezeien. Das sieht man schon daran, daß der Bundesrat im ersten Durchgang dem Gesetzentwurf nicht weniger als 42 Änderungsvorschläge beigefügt hat. Diese Änderungsvorschläge beruhen zum Teil auf verfassungsrechtlichen Bedenken und sind 'deshalb besonders wichtig zu nehmen.
Es erhebt sich die Frage, ob dieses Gesetz eine brauchbare Übergangslösung bringen kann oder aber ob es ein Sperriegel sein wird, ein Gesetz, das einer organischen weiteren Reform des Jugendwohlfahrtsrechts im Wege steht. Nach diesem Entwurf kann das Gesetz ein Sperriegel sein, wenn schon der Entwurf so viel Sprengstoff enthält, daß sich alle um die Jugendarbeit Bemühten aller politischen Richtungen darüber sehr entzweien, und das ist leider zu befürchten.
Der Entwurf enthält wertvolle Ansätze zu einer Weiterentwicklung: die Erhöhung des Schutzalters der Pflegekinder auf 16 Jahre, das Rechtsinstitut der Erziehungsbeistandschaft, das zumindest erwägenswert ist, die gesetzliche Normierung der freiwilligen Erziehungshilfe und, was uns besonders wichtig ist, die Feststellung des Vorrangs der freiwilligen Erziehungshilfe vor der Fürsorgeerziehung. Aber, meine politischen Freunde können sich des Eindrucks nicht erwehren, daß dieser materiellrechtliche Inhalt nicht viel mehr ist als schmückendes Beiwerk um die politischen Grundsatzfragen, die uns in § 4 und § 4 a dieses Gesetzentwurfs entgegentreten. Hier dreht es sich um die schon öfters erwähnte Subsidiarität. Man kann mir und meinen politischen Freunden von der FDP bestimmt nicht den Vorwurf machen, wir seien für den Vorrang des Staates und gegen die freien Verbände. Das können wir beweisen, ,daß wir es nicht sind und nie waren.
7736 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Dezember 1960
Dürr
— Herr Kollege Even, das tue ich. Ich beweise es mit einem Zitat aus der Rede der damaligen Reichstagsabgeordneten Marie-Elisabeth Lüders aus dem Jahre 1922. Es lautet:
Es wäre nichts törichter und nichts dem Zwecke dieses Gesetzes abträglicher, nichts bewiese eine größere Unkenntnis der tatsächlichen Verhältnisse in der Wohlfahrtspflege als etwa die Erfüllung des hier und da aus schlechten Einzelerfahrungen resultierenden verallgemeinerten Verlangens nach Ausmerzung der Organisationen der freien Liebestätigkeit.
Daran können wir uns nach 38 Jahren immer noch vollinhaltlich halten. So lange bleiben nicht alle politischen Äußerungen in einem Parlament in Kraft!
Was der Regierungsentwurf schaffen will, ist statt einer Gleichbehandlung eine Übermacht der Verbände über die staatlichen Organisationen.
Diese Übermacht der Verbände hat eine Kehrseite: nämlich eine Überlastung der Verbände und einen Zwang für diese Verbände zur Bürokratisierung; verantwortungsbewußten Vertretern vieler freien Verbände graust es davor heute schon.
Es ist bereits bedenklich, wenn auch nur die Frage streitig ist, ob die Verbände nach Verabschiedung dieses Entwurfs einen klagbaren Anspruch auf Subventionen hätten. Was Frau Kollegin Keilhack über die Gefährdung der Verbände durch das Subventionssystem gesagt hat, ist für alle Gruppen in diesem Hohen Hause und darüber hinaus des Nachdenkens wert.
Der Herr Minister hat mit seinem Hinweis auf den früheren Minister Koch-Weser durchklingen lassen, daß wir Liberalen seinen Ausführungen über die Subsidiarität eigentlich vollinhaltlich zustimmen müßten. Er hätte recht, wenn sein Entwurf eine Partnerschaft zwischen dem einzelnen oder dem freien Verband einerseits und dem Staat andererseits vorsähe. Aber darum geht es nicht. Herr Minister Wuermeling hat vor dem Bundesrat erklärt, es gehe um den Schutz des Wirkungsbereichs der freien Träger vor der mitunter übermächtigen öffentlichen Hand und damit um den Schutz des Freiheitsraumes des Bürgers. Das ist sogar noch eine Untertreibung seines wirklichen Willens, wie er ihn im Bundesrat formuliert hat. In Wirklichkeit will dieser Enti wurf — das ist aus ihm herauszulesen — die Übermacht der freien Träger über die staatlichen Behörden bei gleichzeitigem Subventionsanspruch. Dieses Übergewicht ist nicht mehr nach unserem Willen. Der Entwurf verlangt nicht nur eine kritische Wachsamkeit gegenüber staatlichen Organen. Aus ihm spricht sehr weitgehend ein offenes Mißtrauen gegenüber staatlichen Organen, genau gesagt: den Jugendämtern. Und da muß man doch sagen: So mißtrauisch soll man nicht sein; denn im demokratischen Staat gilt noch immer der Grundsatz: Der Staat sind wir!
Wie weit das geht, läßt sich erschreckend an ein paar Sätzen deutlich machen, die Ministerialrat Dr. Rothe in den „Blättern der Wohlfahrtspflege" veröffentlicht hat. Dort heißt es:
Das Jugendwohlfahrtsgesetz ist in seinem Kern ein Erziehungsgesetz. In Fragen der Erziehung stellt sich das Grundgesetz aber ganz bewußt auf den Boden religiöser und weltanschaulicher Neutralität.
— Das sind die Prämissen.
Erziehung ist, wie u. a. auch Professor Dr. Trost im Rahmen der Veröffentlichungen des Deutschen Vereins von der pädagogischen Seite her erwiesen hat . . ., stets an sittliche Wertbindungen und an eine Weltanschauung oder Religion gebunden.
Es heißt weiter — und jetzt hören Sie bitte die Folgerung —.
Eine solche konkretisierte Wertbindung kann aber den Organen der öffentlichen Hand nach unserem Grundgesetz vom Gesetzgeber nicht zugewiesen werden. Vom Wesen der Erziehung her kann daher auf dem Gebiete der Erziehung den Organen der öffentlichen Jugendhilfe nur eine subsidiäre Aufgabe zugewiesen werden.
— Dieser Satz ist schlechthin erstaunlich.
— Sie haben recht, Frau Kollegin Lüders. Wenn man von dieser Äußerung nur einen kleinen Schritt weitergeht, ist man in der Lage, zu bestreiten, daß die staatliche Schule als Regelschulform mit unserem Grundgesetz überhaupt noch vereinbar ist.
Ich würde nachher gern erfahren, wie 'der Herr Minister zu ,dieser Äußerung steht, damit wir noch besser wissen, wohin der Hase läuft, damit wir ebenfalls ganz genau wissen, ob 'das Etikett, das diesem Gesetz beigegeben ist, richtig oder falsch ist.
Das Jugendamt hat nach dem Entwurf — Frau Kollegin Keilhack hat schon darauf hingewiesen — nur noch zwei Aufgaben: 1. die Aufgabe der Zahlmeisterei, id. h. die Finanzierung der Vorhaben anderer, und 2. muß sich das Jugendamt — gestatten Sie mir, daß ich es etwas überspitzt ausdrücke — in Richtung auf ein Jugendverfolgungsamt zurückentwickeln, weil es nämlich Aufgaben in alleiniger Zuständigkeit nur noch da hat, wo es um Gerichtsbeschlüsse und um staatlichen Zwang geht.
Das ist doch gerade das, was insbesondere die Reform des Jugendwohlfahrtsrechts vom Jahr 1953 vermeiden wollte. Ziel dieser Reform war das lebendige Jugendamt. Es sollte dahin kommen, daß die Vertreter des Jugendamtes, insbesondere die Jugendwohlfahrtspfleger, sich von der Amtsperson immer mehr zur Vertrauensperson für die Jugend weiterentwickeln. Wir bitten dringend und von ganzem Herzen, diese Entwicklung nicht zu stoppen.
Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Dezember 1960 7737
Dürr
Vertrauen entwickelt sich — das wissen wir alle — wie ,ein zartes Pflänzlein. Es wäre schade, wenn wir auf diesem Gebiet sagen müßten: Und der wilde Knabe brach's Röslein ,auf der Heiden.
Nicht nur im Bundesrat hat sich die Frage der Verfassungswidrigkeit erhoben, und zwar wegen der Einschränkung des Gesetzgebungsrechts der Länder und wegen der Einschränkung des Selbstverwaltungsrechts ,der Gemeinden. Wir müssen ,diese verfassungsrechtliche Frage sehr ernst nehmen. Meine politischen Freunde unterstützen deshalb voll den Antrag der sozialdemokratischen Fraktion, auch den Rechtsausschuß als mitberatenden Ausschuß zu bestimmen.
Ich will die verfassungsrechtliche Frage unerörtert lassen. Juristische Erörterungen am Beginn des Freitagnachmittag sind in diesem Bundestag unbeliebt. Aber aus verfassungspolitischen Gründen sind wir alle genötigt, zu sagen: Die kommunale Selbstverwaltung muß gehütet und gepflegt werden, sosehr wir es vermögen.
Den Damen und Herren von der Mehrheitsfraktion dieses Hauses möchte ich die Lektüre des Entwurfs dringend empfehlen. Ich darf die Anwesenden bitten, es ihren Fraktionskolleginnen und -kollegen, die jetzt nicht mehr da sind, weiterzuerzählen. Die Lektüre dieses Entwurfs möchte ich ganz dringend denen in der CDU/CSU empfehlen, die sonst so oft erklären, die Türen für Liberale weit offenhalten zu wollen, und außerdem denen, die die Gegebenheiten der Kommunalpolitik gut kennen. Sie werden nach dem Lesen vermutlich nicht mehr vollinhaltlich mit dem Herrn Minister Wuermeling der gleichen Meinung sein.
Meine Damen und Herren, man mag mir vorwerfen, ich hätte die Steckenpferde des Herrn Ministers Wuermeling in den §§ 4 und 4 a dieses Gesetzentwurfs vielleicht etwas karikaturenhaft überzeichnet. Das kann zur Verdeutlichung geschehen sein. Der Entwurf wirft aber Grundsatzprobleme auf, die nicht unbedingt heute und hier gelöst werden müssen. Unnötige Verquickung mit Grundsatzfragen bringt die Gefahr, daß die organische Weiterentwicklung eines Rechtsgebietes gehemmt wird. Wenn Sie auch dafür wieder den Beweis wollen, —ich kann ihn erbringen, und ich erbringe ihn mit Begeisterung. Die Verquickung der Frage des Kindergeldes mit der grundsätzlichen Forderung nach Aufbringung der Mittel für das Kindergeld über die Familienausgleichskassen hat uns in der Kindergeldfrage jahrelang in eine Sackgasse geführt, und wir sehen erst jetzt einen Silberstreifen am Horizont, seit die Bundesregierung in Aussicht gestellt hat, ihr jahrelang benutztes Steckenpferd in den Stall zu stellen.
Aus den gleichen Gründen bitten wir, die Entscheidung über diese notwendigerweise zu regelnden Sachfragen nicht mehr als nötig mit der Entscheidung politischer Grundsatzfragen verkoppeln zu wollen. Einige Paragraphen dieses Entwurfs sind nämlich mehr als ein Steckenpferd. Sie enthalten parteipolitischen Sprengstoff, und zwar — ich sage es mit aller Deutlichkeit — unnötigerweise.
Wird dieses Gesetz eigentlich noch in dieser Legislaturperiode fertig werden? Das ist eine Frage, die wir uns vorlegen müssen,
wenn wir ein Dreivierteljahr vor ihrem Ende stehen. — Ich weiß, Herr Kollege Memmel und Herr Kollege Rollmann, Sie haben die Forderungen Ihres Parteivorsitzenden, mit Ihrer Mehrheit in diesem Punkte nicht gar so „pingelig" zu sein, zu erfüllen und sind bereit, dieses Gesetz beschleunigt durch die Ausschüsse zu bringen.
Aber selbst Sie werden vor der Tatsache stehen, daß Art. IX dieses Entwurfs erst beschlossen werden kann, wenn das Bundessozialhilfegesetz verabschiedet sein wird; denn in diesem Art. IX wird hinsichtlich der Kostentragung in jedem Paragraphen auf das Bundessozialhilfegesetz verwiesen. Da aber der Regierungsentwurf des Bundessozialhilfegesetzes eine solche Spitzenleistung wohlfahrtsstaatlicher Perfektion ist, daß — man höre und staune! — sogar die SPD-Vertreter im Ausschuß auf die sozialpolitische Bremse drücken, dürfte es noch einige Zeit dauern, bis dieser Entwurf in die zweite und in die dritte Lesung kommt. Und ob er ungestreift den Bundesrat passiert, ist wieder eine andere Frage. Solange wir aber dieses Bundessozialhilfegesetz nicht im Bundesgesetzblatt gelesen haben, können wir diesen Entwurf nicht fertigberaten, das ist klar.
Es ist auch kein besonderer Schade, wenn dieser Entwurf etwas liegenbleibt und im nächsten Bundestag verbessert und entschärft wiederkommt.
— Herr Kollege Memmel, ich möchte Ihnen — unter uns Juristen — sagen, ,daß unser Antrag auf Verweisung an den Rechtsausschuß auf den verfassungsrechtlichen Schwierigkeiten beruht und nicht Taktik ist, wie wir überhaupt der Meinung sind, daß das Recht kein ideologischer Überbau zur Erreichung taktischer Ziele ist. Hier geht es uns um das Recht und nicht um die Taktik. Lassen Sie sich das bitte gesagt sein!
Der Herr Minister selbst hat erklärt, ihm habe daran gelegen, daß sich im Bereich der Jugendarbeit kein Streit wie der Fernsehstreit entwickele. In diesem Punkt sind wir uns alle einig. Aber dieser Entwurf ist geeignet, Streit zu entfachen, und nicht geeignet, Streit zu schlichten. Herr Kollege Memmel, vorhin haben Sie selber den Zwischenruf gemacht, man könne nicht ganz auf Gegensätze verzichten. Darin bin ich mit Ihnen einig. Aber man sollte Entwürfe bringen, die jeden Streit möglichst ausschließen, die also nicht nach dem Grundsatz „Nur keinen Streit vermeiden" gebaut sind und zu grundsätzlichen Kontroversen führen, sollte also Entwürfe bringen, in denen es um die Regelung konkreter Sachfragen geht.
7738 Deutscher Bundestag 3. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Dezember 1960
Dürr
Wir wünschen keinen parteipolitischen Streit in Fragen der Jugendarbeit. Deshalb wünschen wir im nächsten Bundestag einen anderen, einen besseren Entwurf. Wir wünschen dem Herrn Minister für die Verfertigung des neuen Entwurfs eine glücklichere Hand, als er sie bei diesem Entwurf bewiesen hat.