Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Wir stimmen zunächst über den Änderungsantrag Umdruck 726 ab. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich, Zeichen zu geben. Gegenprobe! Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.
Nunmehr stimmen wir liber den Antrag des Ausschusses ab. Wer dem Antrag des Ausschusses auf Drucksache 2247 in der soeben geänderten Fassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich, ein Zeichen zu geben. — Gegenprobe!— Enthaltungen?
Ebenfalls einstimmig angenommen.
Ich rufe auf Punkt 14 der Tagesordnung:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes .
Ich eröffne die Aussprache. Wird das Wort gewünscht? — Herr Bundesminister!
Dr. Wuermeling, Bundesminister für Familien-
und Jugendfragen: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung hat dem heute zur ersten Lesung anstehenden Gesetzentwurf zur Änderung und Ergänzung des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes in der Drucksache 2226 eine eingehende Begründung beigegeben. Da diese Begründung dem Hohen Hause und der Öffentlichkeit vorliegt, kann es heute gewiß nicht meine Aufgabe sein, die Begründung mündlich mehr oder weniger zu wiederholen.
Ich möchte deshalb nur einen kurzen Überblick geben über die äußere Gestaltung und über Ziel und Zweck des Entwurfs und dabei insbesondere die Grundfragen ansprechen, die mit diesem Entwurf zur Erörterung gestellt und nach § 78 der Geschäftsordnung des Bundestages Gegenstand gerade der ersten Beratung im Plenum sind.
Als vor drei Jahren die Betreuung der Jugendfragen aus dem Bundesministerium des Innern in das nunmehrige Bundesministerium für Familien-und Jugendfragen übergegangen war, wurde ich gleich Anfang Dezember 1957 in der ersten von mir geleiteten Sitzung des Aktionsausschusses für Jugendfragen, in dem bekanntlich alle Bereiche der freien wie der behördlichen Jugendarbeit vertreten sind, von allen Beteiligten geradezu stürmisch gedrängt, nun endlich einen von all diesen Fachkreisen seit langem gewünschten Gesetzentwurf zur Modernisierung des Jugendwohlfahrtsrechts vorzu-
legen, war doch die Lage unserer Jugend eine wesentlich andere geworden als vor 40 Jahren, als das — 1953 ja nicht im ganzen novellierte — Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von 1922 geschaffen wurde.
Es wurde vor allem übereinstimmend auf das familiare und gesellschaftliche Defizit hingewiesen, das heule auf dem Gebiete der Erziehung für unsere Jugend besteht und das in der Begründung der Vorlage ja besonders angesprochen ist. Nach den Vorstellungen aller beteiligten Kreise sollte es das Ziel der Neuordnung sein, den jungen Menschen mehr ais bisher zu befähigen, den an ihn gestellten hohen Anforderungen als einzelner und in der Gemeinschaft zu genügen.
Ich habe damals zu dieser großen Aufgabe meines neuen Aufgabenbereichs gern und freudig ja gesagt und es dankbar begrüßt, daß der Aktionsausschuß für Jugendfragen sogleich aus seiner Mitte eine elfköpfige Sonderkommission bestellte, welche die Vorstellungen der Praktiker der freien wie der behördlichen Jugendarbeit für das neue Gesetz einmal zu Papier bringen sollte. Diese Kommission hat in mehreren Klausurtagungen — wenn auch im späteren Ablauf nicht mehr ganz vollzählig — in enger Zusammenarbeit mit meinem Hause eine ebenso wertvolle wie dankenswerte Vorarbeit geleistet, so daß der Gesetzentwurf nach nunmehr dreijähriger intensiver Vorbereitung und ständigen Erörterungen mit allen beteiligten Kreisen dem Hohen Hause vorgelegt werden kann.
Wenn dieser Gesetzentwurf schließlich nicht als völlig neues Gesetz, sondern als Novelle zum Reichsjugendwohlfahrtsgesetz formuliert wurde, so hat das seinen Grund nicht — wie gelegentlich angenommen wird — darin, daß weniger modernisiert und ergänzt werden soll, daß wir also etwa mit der Novelle nur eine vorläufige kleine Reform wollten. Der Grund dafür, daß wir seit Frühjahr 1960 statt eines bis dahin vorbereiteten, völlig neu formulierten Gesetzes eine Novelle erarbeitet haben, liegt auf einem ganz anderen Gebiete. Im Laufe der Verhandlungen mit den Ländern hatte sich ergeben, daß mindestens hei der Mehrzahl der Länder zwar keine verfassungsrechtlichen, aber doch wesentliche verfassungspolitische Bedenken dagegen bestehen, daß der Bund heute neue gesetzliche Vorschriften über Fragen der Organisation der Jugendhilfe in den Ländern und Gemeinden — also etwa über die Zusammensetzung des Jugendwohlfahrtsausschusses in den Gemeinden und Kreisen erläßt.
Gleich, ob man diese Bedenken für begründet hält oder nicht, es war uns besonders daran gele- gen, auf dem Gebiet der Jugendhilfe auch einen verfassungspolitischen Streit mit den Ländern zu vermeiden, mit denen wir ia seit Jahr und Tag über alle politischen Meinungen und Grenzen hinweg für unsere Jugend fruchtbare Gemeinschaftsarbeit um des gemeinsamen Anliegens, um unserer Jugend willen, leisten und geleistet haben. Deshalb und nur deshalb haben wir die Organisationsvorschriften der §§ 8 ff. des Gesetzes von 1922 — in der Fassung der Novelle von 1953 — bei der Reform ausgeklammert, unberührt gelassen und uns folge-
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Bundesminister Dr. Wuermeling
richtig für die äußere Form einer Novelle entschieden. Für die praktische Arbeit soll das Gesetz, wie in Art. XII des Entwurfs vorgesehen, nach Verabschiedung der Novelle insgesamt in lückenloser neuer Paragraphenfolge verabschiedet werden.
Um entsprechenden Wünschen der Länder entgegenzukommen, sind auch andere Abstriche an den ursprünglichen Plänen der Bundesregierung gemacht worden, so vor allem der Verzicht auf den Aufgabenkatalog zur Konkretisierung des § 4, des sogenannten Jugendpflegeparagraphen, an der bekanntlich ein breites Interesse für die Praxis besteht. Diese Konkretisierung des Aufgabenkatalogs wurde einer mit Zustimmung des Bundesrates zu erlassenden Rechtsverordnung der Bundesregierung vorbehalten, nachdem die Mehrzahl der Länder einer Aufnahme dieses Katalogs in das Gesetz selbst nicht zustimmen zu können glaubte, sich aber mit diesem Wege einverstanden erklärte.
Im übrigen — und an dieser Feststellung liegt mir sehr — enthält die vorliegende Novelle aber im allgemeinen all das, was wir nach dem Ergebnis der bis zum Frühjahr dieses Jahres unter Beteiligung aller interessierten Kreise — nicht in geheimen Verhandlungen der Ministerien, sondern bewußt vor der gesamten sachlich interessierten Öffentlichkeit — geführten vielfältigen Erörterungen in einem bis dahin beabsichtigt gewesenen völlig neuen Gesetzentwurf geregelt hätten. Die Novelle bringt also im übrigen nicht weniger an Reform, als ein völlig neuer Entwurf des Gesetzes gebracht hätte.
Zur Erörterung stehen damit einerseits die grundsätzlichen Strukturfragen einer modernen Jugendhilfe und ihre Aufgaben nach Abschnitt I und II des Jugendwohlfahrtsgesetzes — mit der bereits begründeten Ausklammerung der Organisationsvorschriften—, andererseits die sachliche Neugestaltung der drei großen Fachgebiete: a) des Schutzes der Pflegekinder, b) der Stellung des Jugendamtes im Vormundschaftswesen und c) der bisherigen Schutzaufsicht und der Fürsorgeerziehung mit der nunmehr neu vorgesehenen freiwilligen Erziehungshilfe und Erziehungsbeistandschaft.
Die zu a) bis c) genannten Fachbereiche, also die umfangreichen bisherigen Abschnitte III bis VI des Gesetzes als die drei fachlichen Spezialteile, sind im Entwurf weithin im Einvernehmen mit den Stellen und Persönlichkeiten, denen die spätere Durchführung obliegt, völlig neu gestaltet worden. Ich möchte glauben, daß das weitgehende Einvernehmen, das über diese Abschnitte in Fachkreisen bereits besteht, die Ausschußarbeit im Bundestag wesentlich erleichtert und mir heute den Verzicht auf eine ausführlichere Behandlung dieser Teile erlaubt.
Ich glaube aber, in dieser ersten Lesung die Grundsatzfragen der Teile I und II des Gesetzes noch ansprechen zu sollen.
Zunächst freue ich mich besonders, hierzu feststellen zu können, daß — angesichts der Respektierung wichtiger Länderanliegen im Entwurf — auch der Bundesrat der Grundkonzeption und dem
Aufbau des Entwurfs der Bundesregierung zugestimmt hat.
Der Entwurf fußt auf der Erkenntnis, daß es das Wichtigste ist, die vorrangigen Erziehungsträger, also vor allem die Familie, in ihrer pädagogischen Eigentätigkeit und Eigenverantwortung zu stärken.
Nach Art. 6 GG sind Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und die ihnen zuvörderst obliegende Pflicht. Andererseits spricht § 1 des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes von einem Anspruch des Kindes auf Erziehung, der in erster Linie gegenüber der Familie besteht. Sache der Gemeinden und des Staates ist es, die Ausübung dieser beiderseitigen Rechte zu fördern, indem beide den Eltern helfen, ihre immer schwerer und größer gewordenen Aufgaben zu erfüllen. Dieser Grundsatz zieht sich als Leitgedanke durch das gesamte Gesetz. Er zielt ab auf die Stärkung der elterlichen Verantwortung und eine rege Zusammenarbeit zwischen den Eltern und den Organen der Jugendhilfe, und zwar nach dem neuen § 2 a in der Linie des Elternwillens.
Die öffentliche Gewalt hat nach Art. 6 Abs. 2 GG darüber zu wachen, daß die Eltern ihre Pflichten erfüllen. Deshalb wird der öffentlichen Gewalt zugestanden, daß sie in extremen Fällen bei einem Versagen der Eltern die elterlichen Rechte einschränkt, aber nur, wo dies zum Wohle des Kindes unerläßlich ist.
Soweit der Anspruch des Kindes auf Erziehung von der Familie nicht erfüllt werden kann oder nicht erfüllt wird, enthält schon § 3 des geltenden Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes Aufsichts- und Schutzrechte der öffentlichen Hand, die in ihrer Grundkonzeption im jetzigen Entwurf unangetastet bleiben. Diese Vorschriften sind unter Berücksichtigung der Erfahrungen der Praxis der vergangenen Jahrzehnte auf Grund von Anregungen der Fachwelt ergänzt und verbessert worden. Alle weiteren Aufgaben der öffentlichen Jugendhilfe werden in § 4 des geltenden Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes den Jugendhilfebehörden zwar auch als Pflichtaufgaben, jedoch nur als „gegebenenfalls" von ihr auch selber durchzuführende Pflichtaufgaben — d. h. nur bedingt — zugewiesen. Das bedeutet, daß die öffentliche Hand diese Hilfen nach § 4 nur da selber gewährt, wo sie nicht von geeigneten Kräften der freien Jugendhilfe gewährt werden.
Schon 1922 wollte also der Gesetzgeber dem gesellschaftlichen Defizit auf dem Gebiet der Erziehung vor allem dadurch begegnen, daß geeignete Kräfte im freien Raum in ihrer eigenverantwortlichen Tätigkeit gefördert und zur verantwortlichen Mitarbeit zum Wohl unserer Jugend gewonnen werden.
Dies kommt in der amtlichen Begründung zum Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von 1922 mit sehr klaren Worten zum Ausdruck. Ich möchte einmal
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Bundesminister Dr. Wuermeling
aus der Reichstagsdrucksache Nr. -1666 vorn 15. März 1921 wörtlich folgendes — mit Genehmigung des Herrn Präsidenten — zitieren. Dort heißt es:
Die Fassung des Absatz 1 in Verbindung mit § 7 soll verdeutlichen, daß die eigene Tätigkeit des Jugendamtes gegenüber der privaten Betätigung der freiwilligen Tätigkeit hier als eine subsidiäre gedacht ist.
Ich stelle fest, daß das Wort „subsidiär" hier nicht von mir hineingebracht wurde, sondern unterzeichnet ist die Begründung von dem damaligen Reichsminister Koch-Weser, der bekanntlich der Demokratischen Partei angehörte. Es heißt dann weiter:
Das Jugendamt hat dafür zu sorgen, daß auf den einzelnen Gebieten der Jugendhilfe die erforderlichen Einrichtungen und Veranstaltungen getroffen werden,
— und nun kommt das Entscheidende —
indem es Nichtvorhandenes durch seine Anregungen ins Leben zu rufen sucht, Vorhandenes fördert, und zwar tunlichst auch durch Unterstützung mit Geldmitteln, und erst angesichts der Unmöglichkeit, daß ohne sein eigenes Eingreifen das Erforderliche ins Leben gerufen werde, selbst die nöligen Einrichtungen und Veranstaltungen schafft.
Meine Damen und Herren, klarer hätte dieser Wille des Gesetzgebers von 1922 wohl kaum zum Ausdruck gebracht werden können.
Der Deutsche Bundestag hat sich ,den eben verlesenen Wortlaut !der amtlichen Begründung von 1922 bei der Verabschiedung der Novelle von 1953 in einer Entschließung eindeutig zu eigen gemacht. In dieser Bundestagsentschließung vom 18. Juni 1953 heißt es nämlich, nachdem auf die eben zitierte Begründung zum Gesetz von 1922 ausdrücklich Bezug genommen ist, wörtlich:
Das Jugendamt hat auf den einzelnen Gebieten der Jugendhilfe zunächst vorhandene Einrichtungen freier Träger zu fördern, sodann die freie Jugendhilfe anzuregen, notwendige neue Einrichtungen zu errichten, die aus öffentlichen Mitteln zu fördern sind, und schließlich eigene behördliche Einrichtungen zu schaffen, wenn der Weg der Anregung und Förderung erfolglos geblieben ist.
Der Entwurf will diese für Struktur unid Aufbau unserer freiheitlichen Gesellschafts- und Staatsordnung gerade auf dem Gebiete der Erziehung so wichtige Grundlinie so deutlich im Gesetz zum Ausdruck bringen, ,daß ihre Beachtung im Rahmen des Möglichen eindeutig gesichert ist.
Die Formulierung hierfür in § 4 Abs. 3 ides Ihnen vorliegenden Entwurfs scheint gelegentlich dahin mißverstanden worden zu sein, als sollte ein absoluter Vorrang der Träger der freien Jugendhilfe vor 'der öffentlichen Hand Gesetz werden. Der Entwurf sagt aber — ganz in der Linie der eben gegebenen Zitate zum geltenden Gesetz — lediglich, daß überall da, wo freie Jugendhilfe mit geeigneten
Trägern, ich wiederhole, mit geeigneten Trägern zur Verfügung steht, kein Raum für Maßnahmen der öffentlichen Hand ist.
Meine Damen und Herren, es kann unid darf in einer freiheitlichen Ordnung nicht Aufgabe ides Staates sein, seinen Staatsbürgern oder ,den mitbürgerlichen Gemeinschaften der Staatsbürger Aufgaben abzunehmen, ,die sie selbst zu tun gewillt unid fähig sind. Bevormundung durch einen Staat, der sich unbegrenzte Macht oder gar Totalität unter Ausschaltung der Selbsthilfe ,der Staatsbürger anmaßt, also solche Bevormundung statt Förderung der Selbsthilfe, verstößt gegen die Grundsätze einer freiheitlichen Ordnung. Es gibt keinen gesunderen Grundsatz für eine freiheitliche Staatsordnung als den, unseren bewährten freien gesellschaftlichen Einrichtungen in unserer freiheitlichen Demokratie ihren Raum zu geben und sie zu erhalten und der öffentlichen Hand nur die Aufgaben zuzuweisen, die mangels geeigneter freier Träger nur von ihr befriedigend erfüllt werden können. Gerade !das geschieht im Entwurf, der damit in seinem Bereich der Freiheit nicht nur eine Gasse, sondern die ihr zustehende breite Straße sichert.
Daneben bleibt nach dem Entwurf — wieder wie im geltenden Reichsjugendwohlfahrtsgesetz — überall da, wo es in der Jugendhilfe an geeigneten freien Trägern fehlt, die Verpflichtung der öffentlichen Hand, Jugendhilfe auch selbst ,durchzuführen. Der Entwurf will aber für die Zukunft sicherstellen, daß § 4 nicht mehr entgegen seinem Sinn und der zitierten amtlichen Begründung im Sinne eines Vorrangs der Träger der öffentlichen Jugendhilfe gehandhabt wind.
Die grundsätzlich wichtige Formulierung des § 4 a sichert — vorbehaltlich der Eigenleistung —die Gleichberechtigung der freien Träger mit der öffentlichen Hand bei ,der finanziellen Förderung.
Ein weiteres wichtiges Anliegen des Entwurfs ist es, die Verpflichtung der öffentlichen Hand, die Jugendverbände und die Jugendgemeinschaften in ihrer eigenverantwortlichen Tätigkeit zu fördern, in § 4 Abs. 2 klarer zum Ausdruck zu bringen, als dies im geltenden § 4, dem Jugendpflegeparagraphen, geschehen ,ist. Aus wiederholten Beratungen über den Bundesjugendplan ist dem Hohen Hause bekannt, welche große Bedeutung dem vielseitigen Wirken der Jugendverbände zukommt. Gerade diese Gemeinschaften ergänzen in höchst begrüßenswerter Weise die Bildungsarbeit der Familie.
In diesem Zusammenhang ist es darüber hinaus ein weiteres Anliegen des Entwurfs, die Verpflichtungen aller öffentlichen Stellen, die für die Jugendwohlfahrt Verantwortung tragen, ausdrücklich anzusprechen. Das sind nicht nur die Jugendämter und die Landesjugendämter, das sind nach den Erfahrungen des letzten Jahrzehnts heute besonders auch die obersten Landesbehörden und die Bundesregierung.
Es gibt auf dem Gebiete der Jugendwohlfahrt Förderungsaufgaben, die ihrer Natur nach einer Bundesbehörde zufallen, z. B. Förderung von zentralen Institutionen, die auf Bundesebene bestehen.
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Bundesminister Dr. Wuermeling
Sie sind in § 16 des Entwurfs um den Ländern
auch hier entgegenzukommen — als ,,Kann"-Leistung, nicht als „Pflicht"-Leistung, aufgeführt.
Da die Durchführung dieses Gesetzes von allgemeiner politischer Bedeutung ist, fordert § 16 Abs. 2 innerhalb jeder Wahlperiode des Bundestages einen Bericht an Bundestag und Bundesrat über die Lage der Jugend und über die Bestrebungen auf dem Gebiet der Jugendhilfe. Von dieser periodischen öffentlichen Berichterstattung und Prüfung der jeweiligen Situation und der sich aus ihr ergebenden Bedürfnisse versprechen wir uns eine Intensivierung der Jugendhilfe auch auf Landes- und Gemeindeebene, die durch jeden dieser Lageberichte neue Antriebe bekommen soll.
Wenn dieser § 16 des Entwurfs und auch § 14 a, der eine der bereits bestehenden tatsächlichen Lage Rechnung tragende „Soll"-Verpflichtung der Länder enthält, im ersten Durchgang nicht die Zustimmung des Bundesrates gefunden haben, so hoffe ich doch, daß hierüber im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens eine Verständigung mit dem Bundesrat möglich ist. Denn es besteht gewiß Einigkeit darüber, daß nicht nur Gemeinden, Kreise und Landesjugendämter, sondern auch die Landesregierungen und die Bundesregierung die ihnen nach Lage der Dinge jeweils zufallenden Aufgaben zur Jugendförderung erfüllen sollen. Ich brauche hier nur an die Stichworte „Landesjugendplan" und „Bundesjugendplan" zu erinnern.
Zu den drei eingangs erwähnten speziellen Fachgebieten des Entwurfs nur einige wenige Bemerkungen:
Im Abschnitt III soll das Schutzalter des Pflegekindes von 14 auf 16 Jahre erweitert werden.
Die durch das Grundgesetz geforderten gleichen Bedingungen für die gesellschaftliche Stellung der ehelichen und unehelichen Kinder waren Anlaß dafür, in den Pflegekindervorschriften Ausnahmebestimmungen für uneheliche Kinder zu beseitigen. Der in Fachkreisen dennoch für erforderlich gehaltene besondere Schutz unehelicher Kinder soll durch eine Intensivierung der amtsvormundschaftlichen Betreuung und eine Stärkung des Jugendamtes in seiner Stellung als Gemeindewaisenrat erreicht werden.
Neu ist auch die Vorschrift, daß Minderjährige im Alter von 14 bis 16 Jahren, die sich in häuslicher Gemeinschaft mit dem Arbeitgeber bzw. ihrem Lehrherrn befinden, ohne Pflegekinder im Sinne des Entwurfs zu sein, unter die Aufsicht des Jugendamtes gestellt werden können, wenn ihr Wohl es erfordert.
Die Vorschriften über die Mitwirkung des Jugendamtes im Vormundschaftswesen — Abschnitt IV des Gesetzes — sind an die zur Zeit geltenden familienrechtlichen Bestimmungen angeglichen worden.
Eine neue Vorschrift, die Mißbräuche bei der Adoption von Kindern verhindern soll, möchte ich hier besonders ansprechen. Neben dem Jugendamt soll nunmehr auch das Landesjugendamt bei Verträgen über Adoption von Kindern durch fremde l4 Staatsangehörige oder im Ausland wohnende Adoptiveltern gehört werden müssen. Das Landesjugendamt hat den größeren Überblick über die im Bundesgebiet vorhandenen Adoptivmöglichkeiten. Seine Anhörung ist, weil es in seiner Sicht nicht ortsgebunden ist, eine wertvolle Ergänzung der Anhörung des Jugendamtes und bedeutet einen stärkeren Schutz für die Kinder.
Die Neufassung des Abschnitts VI, der die Erziehungsbeistandschaft, Freiwillige Erziehungshilfe und Fürsorgeerziehung regelt, bezweckt in erster Linie eine engere Zusammenarbeit zwischen den Eltern und der Jugendbehörde. An die Stelle der bisherigen „Schutzaufsicht" soll die „Erziehungsbeistandschaft" treten, die weniger die Beaufsichtigung der Lebensführung des Minderjährigen als vielmehr die Unterstützung der Eltern bei der Erziehung der Kinder zum Inhalt hat.
Schließlich ist hier auch die Freiwillige Erziehungsbeihilfe nunmehr gesetzlich geregelt worden. Auch diesen Abschnitt beherrscht in der Neufassung der Grundgedanke, daß Maßnahmen im Einvernehmen mit den Eltern den Vorrang haben vor etwa notwendig werdenden Maßnahmen des Gerichts. So ist die Bestellung eines Erziehungsbeistandes durch das Vormundschaftsgericht nur anzuordnen, wenn der Erziehungsbeistand nicht durch das Jugendamt im Einvernehmen mit den Personensorgeberechtigten bestellt wird. Fürsorgeerziehung darf nicht angeordnet werden, wenn sie durch eine ausreichende andere Maßnahme, insbesondere die Freiwillige Erziehungshilfe, vermieden werden kann.
Die Voraussetzungen für die einzelnen Erziehungsmaßnahmen wurden neu gefaßt. Nur bei drohender oder bereits eingetretener Verwahrlosung ist die Anordnung der Fürsorgeerziehung zulässig. Alle anderen Maßnahmen hingegen können vorbeugend und helfend auch schon getroffen werden, wenn zwar eine Gefährdung der leiblichen, geistigen oder seelischen Entwicklung des Kindes vorliegt, aber noch keine Verwahrlosung droht. Für die Freiwillige Erziehungshilfe und die Fürsorgeerziehung soll das Schutzalter generell von 18 auf 20 Jahre erhöht werden.
In einem neuen Abschnitt VII ist neu geregelt die von allen beteiligten Kreisen dringend geforderte Heimaufsicht des Landesjugendamtes über Heime, in denen Minderjährige dauernd oder für einen Teil des Tages betreut werden oder Unterkunft erhalten. Es geht dabei vor allem um entsprechende Informationsrechte des Landesjugendamtes und darum, daß künftig bei Feststellung von Mißständen der Betrieb von Heimen untersagt werden kann. Darüber hinaus genießen alle Minderjährigen unter 16 Jahren in Heimen wie bisher den besonderen Pflegekinderschutz.
Auf intensives Drängen der Praxis ist ein besonderer Abschnitt IX über die Kostentragung bei Hilfen zur Erziehung für einzelne Minderjährige vorgesehen. Die einschlägigen Bestimmungen hierüber befinden sich bislang in der Verordnung über die Fürsorgepflicht und den hierzu ergangenen Reichs-
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Bundesminister Dr. Wuermeling
grundsätzen, an deren Stelle demnächt das zur Zeit im Hause beratene Bundessozialhilfegesetz treten soll. Die Vorschriften der Ihnen vorliegenden Novelle zum Jugendwohlfahrtsgesetz machen die Träger der öffentlichen Jugendhilfe — anders als bisher — zuständig für die Übernahme von Kosten, die mit Hilfen für den einzelnen Minderjährigen verbunden sind. Sie erstrecken sich auf alle in Ausführung der Aufgaben des Jugendwohlfahrtsgesetzes möglichen Hilfen zur Erziehung in Einzelfällen, soweit der Minderjährige dieser Hilfe bedarf. Die Bestimmungen sind an die Vorschriften des Entwurfs eines Bundessozialhilfegesetzes angelehnt. Die Verpflichtung zur Gewährung von Einzelhilfen ist im allgemeinen Teil des Entwurfs in § 4 Abs. 1 Satz 2 verankert, womit einem dringenden Anliegen der Praxis Rechnung getragen wurde.
Meine Damen und Herren! Damit darf ich meine Ausführungen zur Begründung des Gesetzentwurfes abschließen, die nur einige mir besonders wichtig scheinende Punkte berühren konnten und sollten. Namens der Bundesregierung bitte ich das Hohe Haus, ,den Entwurf 'im wohlverstandenen Interesse unserer Jugend noch in dieser Wahlperiode zu verabschieden.
Gern benutze ich diese Gelegenheit, allen denen aufrichtig zu danken, die an der dreijährigen Vorbereitung des Gesetzentwurfs — neben ihrer hauptund ehrenamtlichen Berufsarbeit — im freien und behördlichen Bereich mit reicher praktischer Erfahrung und mit Rat und Tat mitgearbeitet haben mit dem Ziel, unseren Familien und unserer Jugend in unserer gerade für sie gewiß nicht leichten Zeit die heute notwendigen Hilfen zur Selbsthilfe zu geben. Ich hoffe aufrichtig, daß die vielfach bewährte menschliche und persönliche Verbundenheit, die zwischen allen denen besteht, die in unserer Jugend, mit unserer Jugend und für unsere Jugend wirken, auch hier im Hohen Hause als gemeinsame Grundlage unserer Arbeit an diesem Gesetz wirksam werde, wie ich es in meiner nun dreijährigen Tätigkeit als Bundesminister für Jugendfragen stets und überall dankbar erfahren durfte.
Über allen Meinungsverschiedenheiten in Grundsatz- wie in Einzelfragen möge der gemeinsame Wille stehen, Familie und Jugend nach besten Kräften zu fördern und in diesem Tun zugleich die Freiheit unserer Eltern und Kinder vor vermeidbarem staatlichem Zwang und behördlicher Bevormundung zu schützen. Je mehr unsere Jugendhilfe unter dem Vorzeichen recht verstandener und gewährter Freiheit steht, um so mehr wird unsere junge Generation die Freiheit auch in unserer gesamten staatlichen Ordnung werten und lieben lernen. Und das ist nicht das letzte Ziel der nun zur Beratung stehenden Vorlage.