Meine Damen und Herren! Meine Freunde möchten anläßlich der Beratung dieses Gesetzentwurfs auch die Frage der Anerkennung und Entschädigung von Berufskrankheiten neu regeln, wie es die Bundesregierung ursprünglich mit ihrer Vorlage auf Drucksache 758 vorgehabt hat. Die CDU-Fraktion ist allerdings in den Ausschußberatungen von dieser Absicht der Regierung abgegangen und hat sich entschlossen, die Regelung bis auf weiteres zurückzustellen.
Lassen Sie mich zunächst zur Sache selbst einige ganz kurze Ausführungen machen, weil ich glaube, daß diese Frage dem Haus nicht sehr geläufig ist. Ursprünglich wurden von der Unfallversicherung nur die eigentlichen Arbeitsunfälle entschädigt, charakterisiert durch eine einmalige, plötzliche, schädigende Einwirkung, die zu einem Körperschaden geführt hat. Im Laufe der Zeit hat sich dann die Erkenntnis Bahn gebrochen, daß der Arbeiter im Betrieb nicht nur durch einmalige, plötzliche Ereignisse, sondern auch durch die ständige, länger dauernde, chronische Einwirkung von gesundheitsschädigenden Substanzen gefährdet ist. Aus diesem Grunde wurde die Reichsregierung unmittelbar vor dem ersten Weltkrieg zum ersten Male ermächtigt, auch für diese Berufsschäden, für Berufserkrankungen, die rechtlichen Voraussetzungen zur Entschädigung zu schaffen. Durch den ersten Weltkrieg hat sich das über viele Jahre verzögert. Erst im Jahre 1925 ist in einer Verordnung der Reichsregierung die versicherungsrechtliche Gleichstellung der Berufskrankheit mit dem Berufsunfall erfolgt. Methodisch ist man dabei so vorgegangen, daß man in dieser Verordnung erstmals eine Liste sogenannter
Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 7. Dezember 1960 7683
Dr. Bärsch
Berufskrankheiten veröffentlicht und die rechtlichen Voraussetzungen zur Anerkennung und Entschädigung der Berufskrankheiten festgelegt hat.
Die Liste, die im Jahre 1925 elf Berufserkrankungen enthielt, ist in den Jahren 1929, 1936, 1943 und 1952 novelliert worden. Die Anzahl der Berufserkrankungen ist wesentlich vergrößert worden, und auch hinsichtlich der Unternehmen ist zum Teil eine Ausweitung erfolgt, wobei neue Branchen einbezogen worden sind. Die gesetzliche Grundlage dieser Regierungsverordnungen ist allerdings bis zum heutigen Tage noch durchaus unzureichend. Es heißt im § 545 RVO:
Die Reichsregierung kann durch Verordnung bestimmte Krankheiten als Berufskrankheiten bezeichnen. Auf solche Krankheiten finden die Vorschriften der Unfallversicherung Anwendung ohne Rücksicht darauf, ob die Krankheit durch einen Unfall oder durch eine schädigende Einwirkung verursacht ist, ,die nicht den Tatbestand des Unfalls erfüllt.
Die Reichsregierung kann die Durchführung der Unfallversicherung bei Berufskrankheiten und Art und Voraussetzung ihrer Entschädigung regeln.
Es steht also nichts darüber drin, was eine Berufskrankheit überhaupt ist. Sicherlich aus diesem Grunde hat sich die Bundesregierung veranlaßt gesehen, in ihrer Regierungsvorlage, Drucksache 758, die gesetzliche Neuordnung im Sinne einer klareren, detaillierteren Regelung vorzuschlagen.
Im Ausschuß ist einer solchen Regelung von den Vertretern der CDU/CSU entgegengehalten worden, daß auf übernationaler Ebene, bei der Montanunion, bei EURATOM, in der Westeuropäischen Union, Verhandlungen im Gange seien mit dem Ziel, ein für alle zusammengeschlossenen Staaten einheitliches Recht der Berufskrankheiten zu entwickeln. Aus ,der Tatsache, daß solche Bestrebungen im Gange sind, kann man aber auch umgekehrt die Folgerung ziehen, daß wir angesichts des unzulänglichen heutigen Standes der Dinge nicht warten sollten, bis auf übernationaler Ebene eine einheitliche Regelung gefunden wird, sondern so schnell wie möglich unsere eigene nationale Regelung auf den bestmöglichen Stand heben sollten,
um sicherzustellen, daß sich die zweifellos erstrebenswerte übernationale Lösung im europäischen Rahmen an einer optimalen Regelung orientieren kann.
Wenn wir das nicht tun, laufen wir Gefahr, daß hier das Gesetz des langsamsten Schiffes, das bekanntlich das Tempo eines Geleitzugs bestimmt, mehr oder weniger zur Geltung kommt.
Zweitens wird gegen eine Regelung im jetzigen Zeitpunkt angeführt, die Sechste Novelle der Berufskrankheitenverordnung sei im Ministerium inzwischen so weit gediehen, daß mit ihrer Zuleitung an den Bundesrat und mit ihrer Verkündung in absehbarer Zeit gerechnet werden könne, und mit dieser Sechsten Novelle werde die Liste der Berufskrankheiten dem neuesten Stand der medizinischen Erkenntnis und der technisch-industriellen Entwicklung angepaßt. Auch dieses Argument reicht nicht aus, um uns von unserer Auffassung abzubringen, daß schon im gegenwärtigen Zeitpunkt eine umfassende Neuordnung vorgenommen werden sollte. Denn die von uns vorgeschlagene rechtliche Neuordnung besteht — in Anlehnung an die Absichten der Regierung — nicht nur darin, den Begriff der Berufskrankheit in der RVO klar zu definieren, sondern vor allem darin, neben der bisher bestehenden Liste, die für die Anerkennung und Entschädigung von Berufskrankheiten der einzige Anhaltspunkt ist, eine Art Generalklausel vorzusehen, die es ermöglichen soll, auch solche Erkrankungen als Berufskrankheit anzuerkennen und zu entschädigen, die nicht oder noch nicht auf der Liste der Berufserkrankungen stehen.
Warum wollen wir zusätzlich zur Liste eine solche Generalklausel in die RVO hineinbringen? Bei einem Vergleich der verschiedenen Novellierungen der Berufskrankheitenverordnung werden Sie feststellen, daß mit jeder Neufassung eine mehr oder weniger großer Anzahl von Erkrankungen neu in die Liste aufgenommen worden ist. Die erste Verordnung aus dem Jahre 1925 enthielt 11 Erkrankungen, die zweite aus dem Jahre 1929 schon 22 Erkrankungen, während die letzte Verordnung aus dem Jahre 1952 gegenüber der von 1943 bei einer Gesamtzahl von 40 Positionen insgesamt 15 neue oder wesentlich veränderte Positionen enthält.
Wir haben es also mit einer stürmischen Entwicklung zu tun. Eine Liste ist aber starr und führt dazu, daß in den vielen Einzelfällen große Härten in Kauf genommen werden müssen, in denen die eine Berufskrankheit nicht anerkannt werden kann, weil sie nicht in der Liste aufgeführt ist.
Um das zu demonstrieren, darf ich Ihnen noch einige andere Zahlen anführen. 1926, also kurz nach dem Erlaß der ersten Verordnung über Berufskrankheiten, machten die erstmaligen Fälle der Entschädigung für Bleischäden 90 % sämtlicher erstmalig entschädigten Fälle aus. 1929, drei Jahre später, war der Prozentsatz der Bleierkrankungen auf 21,4 % zurückgegangen. Hingegen betrug 1929 der Prozentsatz der erstmaligen Entschädigungen für die neu in die Liste der Berufskrankheiten aufgenommene Silikose 61 %. Was beweisen diese Zahlen? Sie beweisen, daß wir es auf diesem Gebiet mit außerordentlich starken beständigen und unvermeidlichen Veränderungen zu tun haben. Hierin spiegelt sich das ungeheure Tempo unserer technisch-industriellen Entwicklung. Ganz neue Berufszweige entstehen, alte Berufszweige gehen unter. Mit den alten Berufszweigen verschwinden auch die alten Gefahren — Sie sehen das am Beispiel der früher vorkommenden Bleischäden —, und mit den neuen Berufszweigen ent-
7684 Deutscher Bundestag -- 3. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Dezember 1960
Dr. Bärsch
stehen neue Gefahren, neue Berufskrankheiten, die naturgemäß in einer Liste nicht enthalten sind, die vor 5 oder 10 Jahren erstellt worden ist.
Wir meinen also, um es kurz zu machen: die Methode, die Anerkennung und Entschädigung von Berufskrankheiten ausschließlich davon abhängig zu machen, ob die Berufskrankheit auf der jeweiligen Liste steht, ist unzulänglich.
Denn sehr häufig — um nicht zu sagen, praktisch immer — ist die neueste Liste schon im Augenblick ihrer Veröffentlichung von der Entwicklung überholt. Das ist unvermeidlich, weil in der Natur der Sache begründet. Man kann auf eine solche Liste nur diejenigen Erkrankungen setzen, für die wissenschaftlich der uneingeschränkte Nachweis geführt wird, daß sie in jedem Falle eine Berufserkrankung sei. Man kann also nicht Erkrankungen draufsetzen, die in dem einen Fall wohl als Berufserkrankung angesehen werden müssen, im anderen Fall aber keine Berufserkrankung darstellen. Wenn Sie vermeiden wollen, daß jedes Jahr eine, wie ich glaube — und das bestätigen auch die Berufsgenossenschaften , ganze erhebliche Anzahl von Berufserkrankungen nicht anerkannt werden kann, müssen Sie eine solche elastische Generalklausel in die RVO einbauen. Dann müssen Sie sagen: Es besteht die Möglichkeit, auch dann einen Fall als Berufserkrankung anzuerkennen und zu entschädigen, wenn die Erkrankung nicht expressis verbis auf der Liste steht, aber unter Berücksichtigung aller Umstände an der beruflichen Schädigung und ihrer zentralen Bedeutung für die Entwicklung des Krankheitsbildes kein Zweifel besteht.
Daß wir hier nicht eine Entwicklung heraufbeschwören wollen, die völlig unkontrollierbar ist, beweist wohl am besten die Tatsache, daß sich auch die Regierung in ihrer Vorlage veranlaßt gesehen hat, eine solche Generalklausel für den Einbau in die RVO vorzuschlagen. Die Regierung begründet den Vorschlag für eine solche Generalklausel mit fast denselben Worten, wenn auch etwas kürzer, mit denen ich hier unseren Antrag begründet habe.
Wenn Sie sich das einmal näher überlegen, werden Sie unserem Antrag zustimmen können. Denn — das darf ich zum Schluß noch sagen — es ist auch nicht sehr befriedigend, daß die Berufsgenossenschaften heute in ihrer Praxis die Unzulänglichkeit der derzeitigen gesetzlichen Regelung durch einen mühsamen Umweg überwinden müssen. Die Berufsgenossenschaften versuchen heute, einen Teil derjenigen Berufserkrankungen, die nicht in der Liste stehen, dadurch anzuerkennen, daß sie die Berufskrankheit als letztes Glied einer Ursachenkette auffassen und als Unfall zur Anerkennung bringen. Ich glaube, es ist nicht gut, wenn wir als Gesetzgeber die Berufsgenossenschaften zu solchen Umwegen veranlassen.
Ich bitte Sie, unserem Antrag zuzustimmen.