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ID0309902200

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    Deutscher Bundestag 99. Sitzung Bonn, den 10. Februar 1960 Inhalt: Glückwünsche zu den Geburtstagen der Abg. Frau Korspeter, Dr. Leiske und Dr. Brecht 5379 A Große Anfrage der Fraktion der FDP betr. die Deutsche Einheit (Drucksache 1383) Dr. Achenbach (FDP) 5380 A Dr. von Brentano, Bundesminister 5388 A Dr. Adenauer, Bundeskanzler . . 5395 A Erler (SPD) . . . . . . . . 5397 B Dr. Gradl (CDU/CSU) . . . . . 5406 B Dr. Becker (Hersfeld) (FDP) . . . 5413 A Dr. Schneider (Lollar) (LW) . . . 5418 B Entwurf eines Ausführungsgesetzes zu Artikel 26 Abs. 2 des Grundgesetzes (Kriegswaffengesetz) (Drucksache 1589) — Erste Beratung — . . . . . . . . 5422 D Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 7. August 1959 mit dem Königreich Norwegen über Leistungen zugunsten norwegischer Staatsangehöriger, die von nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen betroffen worden sind (Drucksache 1591) — Erste Beratung — . . . 5422 D Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 24. August 1959 mit dem Königreich Dänemark über Leistungen zugunsten dänischer Staatsangehöriger, die von nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen betroffen worden sind (Drucksache 1592) — Erste Beratung — . . . 5423 A Sammelübersicht 16 des Petitionsausschusses über Anträge von Ausschüssen zu Petitionen (Drucksache 1579) 5423 C Nächste Sitzung 5423 C Anlage 5425 A Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. Februar 1960 5379 99. Sitzung Bonn, den 10. Februar 1960 Stenographischer Bericht Beginn: 9.04 Uhr
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    Anlage zum Stenographischen Bericht Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich a) Beurlaubungen Frau Albertz 29. 2. Dr. Atzenroth 10.2. Bauereisen 15.2. Frau Bennemann 12. 2. Bergmann 10.2. Dr. Deist 29. 2. Deringer 10. 2. Eberhard 13. 2. Eichelbaum 10.2. Geiger (München) 10.2. Glüsing (Dithmarschen) 12.2. Dr. Greve 12.2. Dr. Gülich 16.4. Horn 12.2. Frau Dr. Hubert 12.2. Illerhaus 12. 2. Jacobi 13. 2. Dr. Jaeger 13.2. Jahn (Frankfurt) 23. 4. Dr. Jordan 12.2. Dr. Kanka 12.2. Frau Klemmert 15.5. Frau Korspeter 10.2. Kramel 10.2. Lenz (Brühl) 10.2. Leukert 16.2. Dr. Leverkuehn 12.2. Dr. Lindenberg 12.2. Lulay 29.2. Maier (Freiburg) 16.4. Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich Müller (Worms) 12.2. Nieberg 12.2. Frau Pitz-Savelsberg 12.2. Rademacher 10.2. Rohde 10.2. Frau Rudoll 12. 2. Dr. Rutschke 13. 2. Scharnowski 15.2. Dr. Schellenberg 10.2. Schneider (Hamburg) 12.2. Schütz (München) 12. 2. Dr. Starke 13. 2. Frau Dr. Steinbiß 17.2. Storch 12. 2. Striebeck 13. 2. Frau Strobel 12.2. Dr. Weber (Koblenz) 12.2. Dr. Willeke 1.3. b) Urlaubsanträge Benda 19. 2. Brüns 2. 7. Dr. Eckhardt 28.2. Even (Köln) 29. 2. Frau Friese-Korn 27. 2. Dr. Höck (Salzgitter) 20. 2. Jacobs 7. 3. Müser 20. 2. Pelster 19. 2. Dr. Pflaumbaum 19. 2. Wehr 23. 4. Frau Welter (Aachen) 27. 2. Werner 24. 2.
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    Rede von Dr. Max Becker


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich darf eine besondere Gelegenheit nicht vorübergehen lassen: die Gelegenheit, daß ich ausnahmsweise dem Herrn Bundeskanzler einmal ein Kompliment machen kann. Es ist allerdings nur ein relatives Kompliment,

    (Heiterkeit)

    nämlich das Kompliment, daß seine Antwort auf unsere Große Anfrage sehr viel wesentlicher und klarer war als die Ausführungen des Herrn Bundesaußenministers, wohingegen und sonst die Gedanken, die der Herr Bundesaußenminister in der Außenpolitik manchmal vorträgt, auch dann, wenn sie von dem Herrn Bundeskanzler desavouiert werden, oft viel besser gefallen.

    (Erneute Heiterkeit.)

    Ich habe ferner dem Hause ein Kompliment auszusprechen, nämlich dafür, daß diese außenpolitische Debatte zum Unterschied von derjenigen am 5. November nicht in stürmische innerpolitische Auseinandersetzungen abgeglitten ist. Ich will hoffen, daß wir in diesem Sinne die Debatte auch zu Ende führen.
    Eins aber habe ich in dieser ganzen Debatte vermißt: Wir haben alles zu sehr nur vom deutschen Standpunkt aus gesehen. Wir machen uns gar nicht klar, daß wir ja in einer Welt leben und daß wir von der Welt her Unterstützung, Verständnis, Verständnisbereitschaft brauchen. Nur wenn wir uns in die Gedankengänge der übrigen Mächte hineinfinden, haben wir eine Chance, auch in unserer Sache weiterzukommen. Deshalb lassen Sie mich mit zwei Zitaten aus der Welt draußen beginnen, zwar sehr kräftigem Tobak, aber es ist immerhin notwendig, daß auch das im deutschen Volk gehört wird.
    Als der Herr Bundeskanzler im November nach London fuhr, wurde er mit einem Artikel der konservativen Zeitschrift „Spectator" begrüßt, und in diesem Artikel hieß es — ich zitiere nach einer Schweizer Zeitung —:
    Die Zukunft Deutschlands werde wahrscheinlich für den ganzen restlichen Teil dieses Jahrhunderts von Außenstehenden bestimmt werden, und die einzigen, die dies noch nicht wüßten, seien die Deutschen. Die Amerikaner seien entschlossen, unter einer das Gesicht wahrenden Formel die DDR de facto anzuerkennen. Ferner seien sie entschlossen, zuzulassen, daß die Oder-Neiße-Linie zur tatsächlichen polnischostdeutschen Grenze und daß Berlin in eine freie Stadt mit UNO-Beobachtern verwandelt werde. Alles, was Dr. Adenauer noch tun könne, sei, die entsprechenden Verhandlungen solange als möglich hinzuziehen, uni der Öffentlichkeit die Möglichkeit zu geben, sich ans Unvermeidliche zu gewöhnen.
    So die englische Zeitung!
    Dann eine Schweizer Stimme aus der „Tat". Der Pariser Berichterstatter dieser Zeitung gab nach der Dezember-Konferenz ein Resümee über das, was sich dort ergeben hatte. Erster Punkt: Der kalte Krieg ist vorbei. Das wird im einzelnen ausgeführt. Zweiter Punkt: Das französische Problem ist damals ausgeklammert worden. Und der dritte Punkt — der Punkt, der uns angeht —:
    Die deutschen Sorgen — Wiedervereinigung und Berlin — sind Leichen im Schrank geworden, die einen üblen Geruch verbreiten. Aus alter Gewohnheit spricht man noch von diesen Dingen. Aber die Partner der Bundesrepublik verbergen nur noch mit Mühe, daß es ihnen lästig wird, durch die deutschen Sorgen und Wünsche an einer ungestörten Installierung der Entspannung verhindert zu werden.
    Diese Stimmen, auch wenn sie kraß sind, muß man kennen, um sich ein Bild darüber zu machen, wie das Ausland in vielen Fällen denkt.

    (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

    Ich glaube, daß auch im deutschen Volk das Unbehagen, die Sorge vor dem, was kommt, darauf zurückzuführen ist, daß das deutsche Volk instinktiv das ahnt, was im Ausland deutlich ausgesprochen wird. Ich halte es für eine Pflicht deutscher Parlamentarier, halte es aber auch für eine Pflicht der Bundesregierung, dem deutschen Volk in aller Aufrichtigkeit ganz klaren Wein einzuschenken.

    (Beifall bei der FDP.)

    Um was handelt es sich denn? Wir stehen doch praktisch an einem Wendepunkt unserer Außenpolitik und müssen uns darüber klar sein.
    Die erste Feststellung, die wir zu treffen haben, ist die, daß auch unsere Wünsche auf dem Gebiet der Europapolitik, unsere Wünsche nach einer Integration, nach einer bundesstaatlichen Gestaltung nicht erfüllt sind — ich sage: leider! denn ich habe daran geglaubt und daran mitgearbeitet — und im Augenblick unerfüllbar erscheinen. Warum?
    Die englische Politik wird niemals die englische Finanzmacht, die englische Wirtschaftsmacht, die englische Militärmacht irgendeinem Mehrheitsbeschluß in einem Bundesstaat unterwerfen, dem sie selber nicht zuzustimmen wünscht oder zustimmen kann.
    Die französische Regierung wird dasselbe tun. Diejenigen, die im Winter 1952/53 in Paris versucht haben, eine europäische Verfassung zustande zu bringen, in einem Ausschuß, dem auch der heutige Premier Frankreichs, Herr Debré, angehörte, wissen doch, und auch der Herr Bundesaußenminister weiß es, wie die Herren, die heute in Frankreich an der Macht sind, darüber denken. Sie denken nicht daran, in einen Bundesstaat hineinzugehen. Nach ihrer Auffassung ist die nationale Souveränität unteilbar.



    Dr. Becker
    Wir stehen also mit unserem Wunsch, zu einer bundesstaatlichen Vereinigung in Europa zu kommen, und mit unseren Vorstellungen über den Weg dahin zur Zeit vor einer Wand, in einer Sackgasse. Darüber dürfen wir uns nicht hinwegtäuschen. Europäische Bürokratien und Technokratien schießen zwar wie Pilze aus der Erde nach einem warmen Sommerregen; Pilze, die insbesondere dann, wenn ein fruchtbarer Regen hoher Gehälter über diese Technokratien hinweggeht, noch weiter wachsen möchten. Der Bund der Steuerzahler teilte letzthin mit, daß ungefähr 4200 neue Stellen in diesen Technokratien gewünscht werden und besetzt werden sollen. Wir haben in diesen Technokratien nichts mehr zu sagen, weil wir in der Hoffnung, in einem bundesstaatlichen Europa ein Parlament zu haben, das mitreden könnte, für die nationalen Parlamente, darunter auch für unseres, praktisch die Herrschaft in bezug auf die finanziellen Dinge abgegeben haben.
    Das ist der erste Wendepunkt in der Politik, den wir feststellen müssen.
    Der zweite Punkt ist dieser: Die Politik der Stärke — das heißt, die Politik des Glaubens, die Frage der Wiedervereinigung könne unter dem Druck einer starken Machtballung gegen die Sowjetunion gelöst werden — ist zu Ende, sie ist gescheitert.
    Die dritte Feststellung ist: Der Kalte Krieg ist vorbei.
    In ihrem letzten Briefwechsel haben unser Herr Bundeskanzler und Herr Chruschtschow in einem Punkt mindestens übereinstimmende Gedanken zum Ausdruck gebracht, nämlich die Überzeugung, daß ideologische Unterschiede kein Hindernis für die friedliche Zusammenarbeit von Staaten verschiedener Gesellschaftstruktur sein dürften. Aber, meine Damen und Herren, wie lange hat es gedauert, bis es zu diesen Erkenntnissen kam! Und wie lange werden wir noch warten müssen, bis etwa in der Sowjetzone diese Erkenntnis dämmert! Denn sie darf ja dort nicht dämmern; das, was dort zu denken ist, wird vorgeschrieben.
    Ich sprach also von der langen Dauer, bis diese Erkenntnis reifte. Mir liegt ein Auszug aus dem Stenographischen Protokoll unserer Sitzung vom 5. November 1957 vor. Es war die Sitzung, in der die Regierungserklärung der neuen Bundesregierung besprochen wurde. In dieser Debatte hatte der Kollege Ollenhauer gefragt, wie sich die Regierung die Wiedervereinigung konkret vorstelle. Der Herr Bundeskanzler antwortete darauf. Er verwies darauf, daß auch Herr Ollenhauer bei einer Besprechung mit Herrn Pandit Nehru in Neu-Delhi keine konkreten Wege habe aufzeigen können. Dann fügte er hinzu — ich darf wohl vorlesen —:
    Herr Kollege Ollenhauer hat im Verlauf seiner Ausführungen gesagt, er vermisse, daß in der Regierungserklärung konkrete Wege aufgezeigt seden. Ja, meine Damen und Herren,
    — so sagte der Herr Bundeskanzler —in der heutigen Zeit konkrete Wege aufzuzeigen, dazu gehört mehr Phantasie, als ich sie habe. Das muß ich Ihnen ganz ehrlich sagen.
    Gut, ehrliches Eingeständnis, die Regierung weiß keine Wege. Aber wir haben dann allesamt, mit dem Herrn Bundeskanzler an der Spitze, weiter brav und bieder von der kommenden Wiedervereinigung geredet.
    Ich habe dann — ich war damals Vorsitzender der FDP-Fraktion — an sämtliche Fraktionen, an den Herrn Bundeskanzler und an den Herrn Bundesaußenminister, einen Brief mit dem Vorschlag gerichtet, man solle sich mal in einem locker gebildeten Ausschuß, also in einem Ausschuß, in dem nicht der selige de Hondt alles regiert, sondern der Verstand, zusammensetzen, eventuell unter dem Vorsitz des Herrn Bundestagspräsidenten Gerstenmaier, um gemeinsam nach Wegen zu suchen, und zwar doch nunmehr in Kenntnis all der Unterlagen, über die die Regierung auch verfüge, nämlich in Kenntnis der Botschafterberichte, in Kenntnis des Inhalts all der Verhandlungen und dessen, was in den vielen, vielen Konferenzen zutage getreten ist; dann wollten wir gemeinsam beraten, was zu tun wäre.
    Es ist doch schrecklich — .das füge ich jetzt hinzu —, wenn man so oft von Mitgliedern ausländischer Botschaften nach einem Weg der Wiedervereinigung gefragt wird und erwidern muß: „Fragen Sie unsere Regierung, wir wissen nichts weiteres."
    Das wollte ich zu beseitigen versuchen und mich um die Herbeiführung einer einheitlichen Politik bemühen. Ich bekam von der Fraktion der Deutschen Partei prompt eine zustimmende Antwort; ich bedanke mich noch heute dafür. Ich bekam andere Antworten, die mehr ausweichend lauteten.
    Ich hatte ausdrücklich einen besonderen Ausschuß, nicht den Auswärtigen Ausschuß, vorgeschlagen, weil der Herr Bundeskanzler ja immer einwendet: Der Auswärtige Ausschuß ist kein Ausschuß, der dicht hält, da sind mir zuviel Leute, da kann man nicht alles erzählen. — Darum sagte ich mir: Gut, nehmen wir einen anderen Ausschuß. Der Herr Außenminister antwortete auch, schlug nun aber seinerseits im Gegensatz zu der Auffassung des Herrn Bundeskanzlers wieder den Auswärtigen Ausschuß vor.
    Auch der Herr Bundeskanzler antwortete mir. Er schrieb mir, er habe meinen Vorschlag mit Interesse gelesen, er komme demnächst darauf zurück. — Das war im Dezember 1957. Heute haben wir den 10. Februar 1960. Inzwischen hat so etwas stattgefunden, was nach einem Suchen und Tasten nach gemeinsamer Politik aussah. Es fanden, als der Brief Chruschtschows über Berlin eintraf, vom November 1958 bis, sage und schreibe, Februar 1959 vier Besprechungen mit Fraktionsvorsitzenden statt; an zweien teilzunehmen hatte auch ich die Ehre.
    Unter dem Vorsitz des Herrn Bundesministers Lemmer fanden dann gesamtdeutsche Besprechungen statt, die aber nach dem Februar 1959 ebenfalls sanft entschliefen. Als Herr Eisenhower seinen Besuch hier machte, fand weder vorher noch nachher eine Unterrichtung der Fraktionsvorsitzenden über den Inhalt der Besprechungen des Herrn Bundeskanzlers



    Dr. Becker
    mit Präsident Eisenhower statt, obwohl darum ersucht wurde.
    Das ist der Leidensgang einer gemeinsamen deutschen Außenpolitik. Wenn dann noch — vorausgesetzt, daß der Bericht zutrifft — in einer internen Sitzung ein sehr hochstehender Mann eine gemeinsame Außenpolitik einen „faulen Zauber" nennt, wissen wir Bescheid.
    Aber ich habe nun doch eine Antwort bekommen, und zwar heute. Der Bundeskanzler hat, zwar in anderem Zusammenhang, gesagt, man dürfe die Geduld nicht verlieren. Ich nehme an, daß das die Ergänzung zu dem Brief vom Dezember 1957 ist.

    (Heiterkeit und Zurufe.)

    Zu einer gemeinsamen Außenpolitik gehört zweierlei: erstens muß überhaupt eine Politik vorhanden sein. Zweitens muß man versuchen, die politische Meinung, die sich in dieser Politik manifestiert, zum Gemeingut werden zu lassen. Deshalb haben wir die Regierung auch gefragt, was ihre Politik sei.
    Ich habe vorhin schon gesagt: die Auskunft des Herrn Bundesaußenministers ist zwar etwas polemisch zugespitzt gewesen; die Polemik ist aber mißlungen. Sehr verehrter Herr Außenminister, Sie haben davon gesprochen, daß wir in Ziffer 2 unserer Großen Anfrage hinsichtlich des Zieles der deutschen Außenpolitik — Ziel ist Berlin, Ziel ist die Wiedervereinigung, Ziel sind die Ostgrenzen — eine Alternative von Ihnen hören wollen. Nein! Lesen Sie bitte die Ziffer 2 einmal genau. Es heißt dort:
    Welche politische Alternative ... sieht der Herr Bundeskanzler nach der durch den Herrn Bundesaußenminister getroffenen Feststellung, daß die bisherigen Vorstellungen des Herrn Bundeskanzlers über eine Lösung der Deutschlandfrage am Widerstand der Sowjetunion gescheitert seien?
    Wir haben also gefragt, ob eine Eventuallösung hinsichtlich der Methode des Vorgehens vorliege. Der Herr Bundesaußenminister hat dazu geschwiegen. Ich möchte ihn im Außenpolitischen Ausschuß einmal fragen, ob überhaupt eine solche Eventuallösung vorliegt. Jede Regierung muß für jede Situation, die es gibt, nicht nur eine Lösung im Auge haben, sondern sie muß, wenn sich andere Eventualitäten bieten oder die Geschichte andersherum geht, auch wieder eine Eventualstellungnahme zur Verfügung haben.
    Die richtige Antwort hat der Herr Bundeskanzler gegeben. Der Herr Bundesaußenminister meinte, die Sowjetunion wolle nicht, sie verstecke sich hinter Zuständigkeitsbedenken und dergleichen; deshalb habe es gar keinen Zweck — so klang es wenigstens —, noch weiter vorzugehen. Demgegenüber sagt der Herr Bundeskanzler — was er sagte, rührt vielleicht daher, daß man im Alter, in dem wir beide nicht weit auseinanderliegen, etwas ruhiger denkt —, man solle sich durch ein solches Nein nicht zu sehr beeindrucken lassen, man solle nicht die Geduld verlieren; in diesem Zusammenhang hat er das, was ich vorhin erwähnt habe, hinsichtlich der Geduld gesagt.
    Was er gesagt hat, ist sicherlich richtig. Wenn man mit Orientalen verhandelt, dann dauert die Verhandlung lange und dann darf man die Geduld nicht verlieren. Man muß für alle Wege, die es gibt, gewisse Eventualitäten der Methode — nicht des Zieles — zur Verfügung haben.
    Im einzelnen wären jetzt noch weitere Fragen ,anzuknüpfen. Im Interesse unserer Außenpolitik möchte ich deren Beantwortung heute und hier nicht verlangen. Ich möchte aber dringend bitten, daß der Auswärtige Ausschuß sehr viel mehr aktiviert wird, als es bisher der Fall gewesen ist. Die Verhältnisse sind in den letzten eineinhalb Jahren — das gebe ich dem Herrn Außenminister und dem Vorsitzen- den des Ausschusses zu — besser geworden als vorher, als der Herr Bundeskanzler uns noch öfters besuchte und dann immer, weil Herr Dulles telefonierte oder irgend jemand zu Besuch kam, schleunigst wieder weggehen mußte. Die Verhältnisse sind auch insofern anders geworden, als jetzt von dem, was wir unter dem Siegel „vertraulich und streng geheim" zu hören bekommen, jetzt mindestens 10 % neu sind, während wir das übrige — wie schon früher — längst in der ausländischen Presse gelesen hatten.
    Ferner wäre der Wunsch zu äußern — er klang auch in den Ausführungen des Herrn Kollegen Erler durch —, daß das Auswärtige Amt nicht gleich zu jedem Ereignis in der Außenpolitik Stellung nimmt. Es gibt viele Dinge, die uns zunächst einmal direkt nichts angehen. Dann sollte man schweigen getreu dem alten Grundsatz: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Ich bitte, es nicht als Tadel oder als ungebührlich aufzufassen, wenn ich hinzusetze: und manches Geschwätz ist sogar Blech. Das Auswärtige Amt hat es doch eigentlich furchtbar einfach. Wenn Fragen gestellt werden, deren Beantwortung nicht unbedingt nötig ist, kann der „Sprecher des Auswärtigen Amtes" einfach sagen: Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts. Es kommt nämlich zunächst einmal auf die Stellungnahme der großen Mächte an. Das haben wir ja gelernt: Als England und Frankreich den Krieg am Suezkanal beginnen wollten — sie waren drei bis vier Tage auf dem Weg in den Orlog —, kam, ohne daß eine Verständigung zwischen den USA und der Sowjetunion vorgelegen hätte, aber auf Grund einer inneren Übereinstimmung zwischen beiden, ein Einspruch, der England und Frankreich zur Rückkehr veranlaßte. Es wird nichts in der Politik möglich sein, wenn man nicht die Zustimmung einer der beiden großen Mächte erreichen kann.
    Das große Problem, das vor uns steht, besteht darin: Wird es unserer deutschen Politik möglich sein, sich in die Entspannungspolitik so einzufügen, daß im Rahmen der gesamten Entspannungspolitik die deutsche Frage ungeteilt gelöst werden kann?
    Wir müssen uns darüber klar sein, daß die anderen Mächte auch ihre Sorgen haben: die große Frage der Abrüstung, die Teilung von Korea und Vietnam, die Probleme Formosa und Laos, das neue welt- und machtpolitische Dreieck in Asien: Moskau—Peking—New Delhi, Sowjetunion—ChinaHindustan, dann der Komplex der Politik der ara-



    Dr. Becker
    bischen Staaten, das Erwachen Afrikas, die Frage der Hilfe an die minderentwickelten Völker und die Bekämpfung des Hungers in der Welt. Das sind die großen Probleme. In diesen Rahmen kann dann die deutsche Frage hineingestellt werden.
    Der sowjetische Vorschlag über die Abrüstung wird von uns begrüßt, und wir sind bereit, daran mitzuarbeiten. Wir erinnern uns, daß schon einmal ein Vorschlag auf Abrüstung von russischer Seite kam. Das war 1897. Er führte zwar nicht zur Abrüstung, aber er führte immerhin 1897 zur Haager Schiedsgerichtsordnung, und das war für die damalige Zeit schon ein großer Fortschritt auf dem Weg zum Frieden. Er führte in der zweiten Haager Konferenz von 1907 zur Haager Landkriegsordnung, so daß die Initiative der russischen Seite dann zu diesen wirklich sehr guten, zwar nicht den Frieden garantierenden, aber die Schrecknisse des Krieges vermindernden Vereinbarungen geführt hat.
    Die Teilungen von Staaten — Vietnam, Korea, Deutschland, Europa — sind doch nur Verlegenheitslösungen, wobei das Wort „Verlegenheit" groß und das Wort „Lösung" ganz klein zu schreiben ist. Die, die solche „Lösungen" finden, sind vielleicht Politiker, aber weiß Gott keine Staatsmänner. Ein Staatsmann läßt keine Brandherde bestehen; er stiftet keine neuen Krisenherde. Ein Staatsmann fügt zusammen, was zusammen gehört; dann ist er erst ein Staatsmann.

    (Beifall bei der FDP.)

    Wir begrüßen die neuen Staaten, die sich in Afrika bilden. Wir hoffen, daß wir auch zu den Staaten Osteuropas in gute nachbarliche Beziehungen treten, und ich möchte den Wunsch aussprechen, daß die viel besprochene Hallstein-Doktrin sehr bald von uns aus unauffällig, aber bestimmt im Meer der Vergessenheit versenkt wird.

    (Zustimmung links.)

    Bei der Hilfe an die unterentwickelten Völker und auch bei der Bekämpfung des Hungers machen wir Deutsche selbstverständlich mit. Ich darf in dem Zusammenhang die große Öffentlichkeit nur daran erinnern, daß der Herr Bundespräsident Lübke selbst zu wiederholten Malen diesen Gedanken kräftig unterstrichen und die Bereitschaft Deutschlands zur Mitwirkung ausgesprochen hat. Wir schließen uns dem an.
    In dieses ganze Bukett, das die Auslandsmächte interessiert, kommt nun unsere deutsche Frage, und wir haben die Aufgabe, bei dieser Entspannung mitzumachen, absolut, nach jeder Richtung, damit nicht der Verdacht aufkommt, wir wollten uns querlegen. Andernfalls isolieren wir uns nach allen Seiten hin. Nach meiner Ansicht kann die Berliner Frage, die Frage der Wiedervereinigung, die Frage der Ostgrenzen nur einheitlich gelöst werden.
    Zunächst zu Berlin. Ich möchte der Behauptung der DDR entgegentreten, Berlin liege auf dem Terriforlom dieser Ostzonenregierung. Das ist einfach nicht wahr. Berlin, nicht nur West-Berlin, sondern auch der Ostsektor von Berlin bilden ein Territorium für sich, geschaffen durch das Potsdamer Abkommen, bestätigt durch das Abkommen nach dem Abbruch der Blockade Berlins. Daran müssen wir festhalten. Wenn der Osten von dem Rechtsstandpunkt ausgeht, daß West-Berlin allein geändert werden müsse, dann muß er konsequenterweise auch von dem Ostsektor Berlins reden.
    Herr Chruschtschow sagt: Die Situation von Berlin ist anomal. Er hat recht; sie ist anomal. Der Präsident Eisenhower sagt: Die Situation Berlins ist in der Tat anomal. Auch er hat recht; sie ist anomal. Was folgt daraus? — Daraus folgt, daß man eine normale Situation schaffen muß, daß man aber nicht nach Zwischenlösungen suchen darf, die doch immer wieder nur anomal sein werden. Es gibt nur eine normale Lösung für Berlin: Berlin ist die Hauptstadt Deutschlands, und die Hauptstadt muß immer inmitten des Territoriums liegen, zu dem sie gehört.
    Das ist eine Selbstverständlichkeit. Fragen Sie doch einmal einen Sowjetbürger, ob die Sowjetunion noch die Sowjetunion wäre, wenn Moskau nicht mehr die Hauptstadt wäre, wenn sie nicht mehr existierte. Fragen Sie einmal einen Franzosen, ob er zur Zeit der Vichy-Regierung Vichy als seine Hauptstadt angesehen hat oder ob Frankreich nicht vielmehr deshalb Frankreich ist, weil es Paris zur Hauptstadt hat. Denken Sie an Italien! Als 1870 Rom die Hauptstadt wurde, da wurde überhaupt erst Italien. Wenn Sie heute einem Land die Hauptstadt nehmen, dann ist das Land als solches nicht mehr da. Deshalb ist nach unserer Auffassung die Lösung der Berlin-Frage klar und eindeutig mit der Lösung der Wiedervereinigungsfrage verbunden. Wir haben Bedenken, die Berlin-Frage allein zur Debatte zu stellen, weil dadurch die Frage der Wiedervereinigung und die Frage der Ostgrenzen gewissermaßen aufgeschoben, aufgehoben oder in die zweite Linie gesetzt würde.
    In einem nach der Italienreise des Herrn Bundeskanzlers herausgegebenen Kommuniqué ist von einer Abstimmung in Berlin die Rede gewesen. Wir haben heute aus dem Munde des Herrn Bundeskanzlers gehört, was Herr Chruschtschow auf eine direkt von italienischer Seite gestellte Frage geantwortet hat. Mir ist die Antwort des Herrn Chruschtschow vorher noch nicht bekanntgewesen; aber ich möchte dazu folgendes für mich und meine Freunde sagen: An der Stimmung der Berliner haben wir nicht den geringsten Zweifel; sie ist allein schon zur Zeit der Blockade derart klar und eindeutig und für alle Welt vernehmlich zum Ausdruck gekommen, daß darüber nicht debattiert zu werden braucht. Aber ich wehre mich gegen den Gedanken, ein Land wie Deutschland als Ganzes zu zerstückeln und nun innerhalb der einzelnen Stücke abstimmen zu lassen. Das Selbstbestimmungsrecht hat zur Voraussetzung, daß das Volk als Ganzes darüber abstimmt.

    (Beifall bei der FDP und in der Mitte.)

    Noch ein Wort: Es darf nicht der Eindruck entstehen, als ob wir uns — und ich meine damit sowohl die Bundesregierung als auch das Parlament — durch die Einschiebung einer Volksabstimmung von unserer Verantwortung in irgendeinem Punkt drücken wollten.



    Dr. Becker
    Nun zu den Ostgebieten. Schauen Sie bitte einmal auf die Karte. Das Zentrum des alten Preußens, die Provinz Mark Brandenburg, liegt noch mit einem nicht unwesentlichen Teil östlich der Oder. Wissen das die Westmächte? Wissen die Westmächte, daß die großen Gebietsteile im Osten 600, 800 Jahre deutsch gewesen sind? Wissen sie, daß es in Europa Gegenden gibt, die jahrhundertelang deutsch waren, aber 180 Jahre einem anderen Land gehörten und jetzt wegen der Zugehörigkeit von 180 Jahren dem anderen Land gehören? Ich rede vom Elsaß. Wir stellen diese Frage nicht mehr zur Debatte. Aber wir bitten doch, daß unsere französischen Freunde und Nachbarn, wenn sie über die Frage der Ostgebiete sprechen, denselben Maßstab, den sie bei der 180jährigen Zugehörigkeit zu Frankreich mit Zustimmung vieler anderer Staaten angelegt haben, nun auch bei den Ostgebieten, die 600 und 800 Jahre zu Deutschland gehörten, anlegen.

    (Beifall bei der FDP.)

    Im Jahre 1947 hat der Staatsekretär der USA Byrnes in Stuttgart eine Rede gehalten, in der er davon gesprochen hat, daß sich eine Lösung mit einer neuen Grenze zwischen Polen und Deutschland denken ließe, die östlich der Oder-Neiße-Linie verliefe, also etwa so, daß noch Gebiete von Pommern und der Mark Brandenburg sowie Teile von Niederschlesien mit zu Restdeutschland geschlagen würden. Ich nehme an, Herr Staatssekretär Byrnes war damals der Auffassung, daß sich das auch bei aller Anerkennung polnischer Wünsche vertreten lasse mit dem Ziel, ein gutes Verhältnis zwischen dem deutschen und dem polnischen Volk herzustellen. Ich habe deshalb an die USA die Frage zu richten: Stehen die USA heute noch zu dem Wort von 1947? Wenn das damals wahr war, ist es auch heute noch richtig.
    Eine Gipfelkonferenz steht vor uns. Herr Macmillan hat erklärt, daß mehrere Gipfelkonferenzen die Folge sein würden. Das ist mir auch völlig klar. Als die Napoleonische Zeit vorbei war, bedurfte es einer großen Konferenz, des Wiener Kongresses. Ich bin überzeugt, daß, wenn die Lösung der Probleme, die wir soeben aufzuzeigen versucht haben, gelingen soll, eine ganze Reihe von Gipfelkonferenzen und zwischengeschalteten Außenministerkonferenzen nötig werden, so daß die Entwicklung im ganzen, in ihrer weltpolitischen Bedeutung gesehen, auf das hinauslaufen könnte, was einst im Wiener Kongreß geschehen ist.
    Was ist im Wiener Kongreß geschehen? Damals war das Zeitalter der Napoleonischen Weltkriege vorüber. Damals ist niemandem eingefallen, die Franzosen, weil Napoleon sie in den Krieg geführt hatte, zu Militaristen zu erklären und damit eine Zerstückelung Frankreichs zu begründen. Im Gegenteil, man war sehr weitsichtig und weitschauend. Talleyrand, von Napoleons Gnaden Fürst von Benevent, kam als Vertreter Frankreichs zum Wiener Kongreß und wurde zugelassen. Kein Mensch dachte daran, Frankreich zu zerstückeln. Frankreich blieb in seinen alten Grenzen bestehen. Es gelang den Staatsmännern von damals, wenn auch nach manchen verschlungenen Wegen in Verhandlungen, zu einem Ergebnis zu kommen, das immerhin für 100 Jahre, nämlich von 1815 bis 1914, den Weltfrieden erhalten hat. Die kleinen Kriege — deutschfranzösischer Krieg, französisch-österreichischer Krieg, russisch-türkischer Krieg usw. — zählen nicht. Erst 1914 begannen wieder die welterschütternden Kriege.
    Heute behauptet man, wir seien Militaristen. Man soll das mit dem Maßstab messen, mit dem der Wiener Kongreß die damalige Situation weitsichtig und weitschauend gemessen hat. Wenn man das nicht tut, wenn man mit unserem angeblichen Militarismus die Notwendigkeit unserer Zerstückelung begründen will, schlagen sich die Herren im Westen und im Osten selber ins Gesicht; denn beide haben uns bewaffnet, der Osten die Sowjetzone, und der Westen hat unsere Mitwirkung bei seiner Verteidigung gewünscht. Also ist der angebliche Militarismus der Deutschen keine Begründung für die Zerstückelung Deutschlands. Man sollte weitsichtig sein.
    Daß wir als Militaristen besonders kriegslüstern gewesen seien — diese Ansicht darf ich auch einmal erwähnen, um sie zu verneinen. Mit den angelsächsischen Mächten, mit dem Vereinigten Königreich und mit den Vereinigten Staaten von Amerika, hat Deutschland, abgesehen von den beiden letzten Kriegen, überhaupt keinen Krieg geführt. Der erste Weltkrieg von 1914 ist der Krieg, in den nach dem Wort von Lloyd George alle Welt hineingeschlittert ist. Der zweite Weltkrieg ist der, den Hitler verursacht hat und verursachen konnte, weil er die Macht über uns hatte und weil diejenigen, die Schwertträger waren, nicht die Entscheidung fanden, ihm in den Weg zu treten. Aber wenn Sie in die Zeit vor 1914 zurückgehen, so werden Sie finden, daß wir mit den angelsächsischen Mächten niemals Krieg gehabt haben. Und wenn Sie, nach Osten schauend, in die gleiche Zeit zurückgehen, werden Sie finden, daß zurück bis zum Siebenjährigen Krieg wir, d. h. die Preußen und Deutschen mit Rußland keinen Krieg geführt haben. Im Gegenteil, wir entsinnen uns sehr genau — und das dürfte von Interesse sein, wenn etwa die Sowjetunion die Politik verfolgen sollte, ihre Westflanke in besonderer Weise zu schützen daß während des Krimkrieges die Neutralität Preußens und Deutschlands die Westflanke Rußlands gesichert hat. Wir entsinnen uns, daß Bismarck Ende der 80er Jahre durch den Rückversicherungsvertrag mit Rußland dafür gesorgt hatte, daß aus dem deutsch-österreichischen Bündnis in Verbindung mit den Balkanwirren kein Krieg auf dem Balkan entstehen konnte. Wir entsinnen uns, daß im russisch-japanischen Krieg 1903/04 der Westen, Deutschland, die Neutralität gehalten hat.
    Wir erinnern uns auch daran, daß die Weimarer Republik, als sie 1925 durch die Locarnoverträge — ich hätte beinahe gesagt: in der Außenpolitik wieder salonfähig gemacht hat — mit dem Westen und dem Völkerbund eine Verbindung einging, sofort ihrerseits unter Stresemann 1926 in dem Berliner Vertrag die Versicherung an Rußland gab: ein Durchmarsch von Truppen des Völkerbundes durch Deutschland gegen den Osten komme nur dann in Frage, wenn nach dem selbständigen Entscheid der deutschen Regierung eine Angriffsaktion von sei-



    Dr. Becker
    ten des Ostens vorliege und ein Vertrag bestehe, der für den Fall eines unprovozierten Angriffs auf den einen oder andern beiderseitige Neutralität vorsehe. Es ist mir aufgefallen, daß, als Herr Mikojan im Frühling 1958 der Bundesrepublik einen Besuch machte, die Sowjetbotschaft in ihrer Zeitschrift einen Artikel gerade über diesen Vertrag veröffentlicht hat.
    Ja, so ändern sich die Zeiten, aber die Grundideen bleiben. Wer die Welt beruhigen will, der muß alle Probleme zu lösen versuchen. Wer die Abrüstung will — und wir wollen sie mit —, der muß gleichzeitig, damit die Abrüstung nicht zu neuem Mißtrauen führt, damit sie nicht mißbraucht oder umgangen wird, dafür sorgen, daß alle Krisenherde in der Welt beseitigt werden.
    Die Welt steht vor der Frage, ob es Staatsmänner gibt, die die Zeichen der Zeit erkennen, ob die Herren Chruschtschow und Eisenhower einmal als Staatsmänner oder nur als Politiker in das Buch der Geschichte eingehen. Sie kennen den Unterschied zwischen dem Politiker und dem Staatsmann. Der Politiker schaut nur bis zu den nächsten Wahlen. Ich will von 1961 nicht sprechen. Aber ich denke z. B. an gewisse Präsidentenwahlen, und ich denke an Sitzungen im Obersten Sowjet. Der Staatsmann schaut über alles das hinaus, sieht die Probleme, wie sie sind, und blickt über die Wahlzeiten hinaus auf die kommende Generationen. Deshalb wird derjenige, der nur Politiker ist, der nur Korea, Vietnam, Deutschland, Europa teilen kann und Verlegenheitslösungen schafft, vielleicht ein paar Schlagzeilen in der Zeitung bekommen, aber in das Buch der Geschichte geht er bestimmt nicht ein.

    (Beifall bei der FDP und bei einzelnen Abgeordneten in der Mitte.)



Rede von Dr. Victor-Emanuel Preusker
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Schneider (Lollar).

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Ludwig Schneider


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (DP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will mich, angesichts der fortgeschrittenen Zeit bemühen, meine Gedanken möglichst zu straffen. Da ich aber nie eine ausgearbeitete Rede habe, kann ich Ihnen nicht sagen, ob ich nur eine halbe Stunde oder eine dreiviertel Stunde sprechen werde. Das ergibt sich aus der Situation.
    Mein Kollege Max Becker hat hier vorhin gesagt, es komme in der Zukunft darauf an, unser deutsches Problem in die sich anbahnende Atmosphäre der Entspannung in der ganzen Welt einzubetten, damit es innerhalb des großen Rahmens nicht vergessen werde. Ich pflichte ihm darin absolut bei. Ich bin aber der Meinung, daß wir darüber nicht allzu besorgt zu sein brauchen. Die Welt weiß, daß es, wenn die deutsche Frage, die Berlin-Frage nicht einer gerechten Lösung zugeführt wird, in der ganzen übrigen Welt eine echte Entspannung einfach nicht geben kann. Die deutsche Frage nimmt in Mitteleuropa eine derartig zentrale Stellung ein, daß man ohne ihre Lösung nicht an eine echte Entspannung und an eine Politik des dauerhaften Friedens zu glauben vermag.
    Deshalb habe ich nicht so viel Sorge wie der Herr( Kollege Becker. In der letzten historischen Betrachtung schweifte er in die Vergangenheit zurück und zeigte Möglichkeiten auf, wie man vielleicht doch miteinander leben könnte. Ja, das ist Vergangenheit, Herr Kollege Becker! Die Leute, die auf der anderen Seite lebten, dachten früher genauso wie die, die hier lebten. Das ist der grundsätzliche Unterschied zwischen damals und heute. Heute steht auf der anderen Seite eine Ideologie. Man sucht dort nicht nur Lösungen für das eigene Volk, sondern die Ideologie dort wird von ihren Verfechtern als eine, wie soll ich sagen, Religion empfunden, die sie verpflichtet, sie als Heil über die ganze Welt zu tragen. Das ist der grundsätzliche Unterschied, den man bei derartigen Betrachtungen berücksichtigen muß.
    Woran liegt es eigentlich, daß wir nicht vorwärtskommen, daß wir auch auf der letzten Genfer Außenministerkonferenz nicht vorwärtsgekommen sind? Nachdem ich alle Unterlagen habe studieren können, glaube ich, daß sich in der Sowjetunion der tiefste Wandel in den Auffassungen vollzogen hat. Bei der ersten Gipfelkonferenz 1955 in Genf konnte man immerhin noch ein gemeinsames Kommuniqué herausgeben, das besagte, alle vier Mächte — also inklusive der Sowjetunion — seien für die Wiedervereinigung Deutschlands verantwortlich. Damals waren sie auch noch zu viert der Überzeugung, das beste Mittel, dieses letzte Ziel zu erreichen, seien freie Wahlen in ganz Deutschland. Das war noch eine Grundlage, auf der man wirklich hätte verhandeln können, auf der man wirklich mit Moskau sprechen konnte. Aber diese Grundlage hat sich leider, leider geändert. Die Sowjetunion lehnt es heute ab, noch für die Wiedervereinigung Deutschlands verantwortlich zu sein. Sie leugnet, daß sie in früheren Verträgen eine derartige Verpflichtung eingegangen sei. Sie sagt schlicht und einfach: Die Frage der Wiedervereinigung ist eine Frage einzig und allein nicht, wie sie jetzt eigentlich sagen müßte, des deutschen Volkes, sondern der inzwischen Realität gewordenen beiden deutschen Staaten.
    Da liegt die Crux, das ist das Hindernis nicht nur für die deutsche Wiedervereinigung, sondern auch für das Teilproblem Berlin. Ich stimme Herrn Gradl zu, wenn er sagt: Berlin ist nicht irgendein Platz, Berlin ist nicht irgendein Problem, sondern Berlin ist heute der Zentralpunkt hier in Deutschland, von dem aus das deutsche Schicksal letzten Endes bestimmt werden wird.
    Es ist sehr interessant, sich einen Augenblick einmal den Verlauf der Konferenz in Genf vor Augen zu führen. Da sehen wir nämlich schon, wie sich die Sowjetunion das Schicksal Berlins nicht nur vorübergehend, sondern endgültig vorstellt.
    Der Vierstufenplan des Westens, der am 14. Mai auf den Verhandlungstisch gelegt wurde, enthielt ebenfalls den Vorschlag für eine Berlin-Lösung, und zwar des Inhalts, daß man zunächst einmal Gesamtberlin durch freie Wahlen zu einem einheitlichen Organismus machen sollte. Die Einzelheiten wurden dann in verschiedenen Bedingungen formuliert. Ich will sie, meine sehr verehrten Damen und Herren,



    Dr. Schneider (Lollar)

    damit nicht lange aufhalten. Das würde zu weit führen.
    Dieser Berlin-Plan, der in das ganze Paket der westlichen Vorschläge eingepackt war, wurde dann zu einem späteren Zeitpunkt, nämlich am 26. Mai, von dem amerikanischen Außenminister Herter noch näher präzisiert und erläutert. Da hätte doch die Sowjetunion Gelegenheit gehabt, einen ersten Schritt zu einer wirklichen Entspannung und zu einer Berlin-Lösung zu tun. Sie hätte das nur zu bejahen brauchen. Dann wären wir ein großes Stück weitergekommen. Denn diese Berlin-Lösung sollte bis zur deutschen Wiedervereinigung gelten.
    Aber kaum hatte der Außenminister der USA diesen Plan am 26. Mai näher präzisiert, meldete sich, noch ehe der dort verhandelnde Außenminister Gromyko überhaupt Stellung genommen hatte, Herr Chruschtschow von Tirana aus und sagte, der von Herter unterbreitete, aus sieben Punkten bestehende Entwurf enthalte kein einziges Element für Verhandlungen. Damit war dieser Plan vom Tisch gewischt, damit war er, wenn ich so sagen darf, unter dem Tisch. Der sowjetische Außenminister schloß sich dann selbstverständlich seinem Chef an. Wie hätte er auch anders gekonnt? Er versuchte nun, den ablehnenden russischen Standpunkt darzulegen.
    Da, meine Damen und Herren, ist nun ein Angelpunkt, an dem wir die Russen festhalten müssen, wenn nicht alles, auch völkerrechtlich, zerfließen soll. Gromyko sagte nämlich: Ich bestreite gar nicht, i) daß diese Vier-Mächte-Vereinbarung einmal getroffen wurde und daß wir sie auch nach der Beseitigung der Blockade wieder bestätigt haben; aber ich sage: das ist lange her, die Entwicklung ist vorwärtsgegangen, die Zeiten haben sich geändert. Um dieses auf dem Vier-Mächte-Status ruhende Berlin hat sich die DDR herumgerankt, und sie hat sich vorzüglich entwickelt. Deshalb muß dieser überlebte Zustand der Besatzung in Berlin beseitigt werden. Die einzige wirkliche und sinnvolle Lösung, so sagt er dann weiter — das muß man wissen —, sei, daß man die Souveränität der DDR auch über West-Berlin ausdehne. Nur dann also sei die Westberliner Frage sinnvoll geregelt. Er sagt also: Wir waren zwar einmal verpflichtet, wir hatten einmal einen Status gemeinsamer Art, aber der hat sich durch die Zeit überlebt. — Eine solche Auffassung ist natürlich nicht tragbar, namentlich in internationalen Verträgen und in internationalen Situationen.
    Der geradezu, ich möchte beinahe sagen, arrogant-zynische Sprecher der DDR, der Herr Bolz, ging in Genf bezüglich dieser Frage noch einen Schritt weiter. Er behauptete sogar, auch nach den bestehenden Abmachungen zwischen den Vier Mächten habe das Terrain von Berlin niemals zu irgendeinem anderen Staatsgebiet als dem der sogenannten DDR gehört. Dieser Standpunkt forderte den Außenminister Amerikas dazu heraus — es ist sehr belustigend, das zu lesen —, den Verhandlungsleiter — es war gerade Herr Gromyko — aufzufordern, dem Herrn einmal die aus der Vergangenheit stammenden Unterlagen zugänglich zu machen, damit er sich nicht anmaße, die westlichen Alliierten und auch Rußland über die Rechtslage zu orientieren.
    Das ist doch die entscheidende Wandlung. Warum will denn Herr Churschtschow das so? Weil er von da aus ansetzen will, seine Generallinie vorzuschieben: erst einmal Berlin aus der Vier-Mächte-Verantwortung herauszubrechen, möglichst die Amerikaner und die anderen herauszudrängen; dann wird sich alles folgerichtig ergeben. Ich komme gleich darauf zurück.
    Deshalb machte Herr Gromyko einen anderen Vorschlag bezüglich Berlins. Er sagte: Wir müssen uns — und wir bleiben dabei — darüber klar sein, daß das Besatzungsregime in West-Berlin, das überhaupt die Quelle aller Reibungen, aller Spannungen, aller subversiven Tätigkeiten aus dem Raum West-Berlin gegen alle sozialistischen Länder darstellt, beendigt werden muß, es ist überlebt. Er machte den Vorschlag, eine Interimslösung zu treffen, aber diese müsse viel weniger sein als das, was jetzt sei, und sie müsse, was das Entscheidende sei, zeitlich begrenzt sein. Er machte schließlich den Vorschlag, eine solche Interimslösung unter bestimmten Bedingungen — in gewisser Weise auch noch die sogenannte DDR mit einzuschalten — auf ein Jahr zu begrenzen. Als die Westmächte das ablehnten, befristete er die Lösung auf anderthalb Jahre, aber weiter auch nicht. Dann verband er — das war das Teuflische, das war das Taktisch-Gerissene, so möchte ich einmal sagen — mit diesem Vorschlag einer Interimslösung für Berlin noch den anderen — als Junktim —, daß man zur Regelung der anderen Fragen einen Gesamtdeutschen Ausschuß auf paritätischer Grundlage bilden müsse, dem dann die weitere Herstellung von Kontakten zwischen den beiden Deutschland und die Vorbereitung eines Friedensvertrages — selbstverständlich nicht für ein Deutschland, sondern für zwei Deutschland —übertragen werden sollten. Das war in der Hauptsache das, was diesem gesamtdeutschen Ausschuß übertragen werden sollte. Auch ihm sollte eine Tätigkeitsfrist von anderthalb Jahren gesetzt werden.
    Herr Gromyko folgerte weiter: Wenn der so zusammengesetzte Gesamtdeutsche Ausschuß in der ihm gesetzten Frist von anderthalb Jahren nicht zu dem Ergebnis kommt, daß er die deutsche Wiedervereinigung und den deutschen Friedensvertrag so weit vorbereitet hat, daß man beides nur noch zu vollziehen braucht, dann stellen wir fest — so ungefähr sagte er —, daß die deutsche Wiedervereinigung nicht möglich ist. Da mit der Interimslösung für Berlin ebenfalls mit einer Frist von anderthalb Jahren eine Koppelung besteht, stellen wir gleichzeitig fest, daß auch diese Interimslösung dann abgelaufen ist. Jetzt ist Feierabend, jetzt wird das Besatzungregime in West-Berlin endgültig zu Grabe getragen.
    Meine Damen und Herren, das hätte bedeutet -wenn die Westmächte auf so einen Plan, auf so ein teuflisches Junktim eingegangen wären —, daß die deutsche Wiedervereinigung niemals gekommen wäre. Wenn man die Theorie und die Rechtsauffas-



    Dr. Schneider (Lollar)

    sung der Sowjets in diesem Punkte akzeptierte, würde Berlin ohne weiteres, wie es Herr Gromyko einmal formuliert hat, die beste Lösung finden, nämlich die Eingliederung in das Territorium der DDR. Dann wäre Berlin verloren, dann wäre das Licht der Freiheit dort ausgegangen, und die deutsche Wiedervereinigung wäre auf Ewigkeit vertagt; denn das hätte ja bedeutet den Abschluß eines Friedensvertrages mit den beiden bestehenden Deutschland und damit die Anerkennung der sogenannten DDR nicht nur von uns, sondern schließlich auch von der Welt und damit die Verewigung der deutschen Spaltung.
    Daß die Westmächte sich darauf nicht einlassen konnten, ist ganz selbstverständlich. Die Westmächte sind dann noch weitergegangen. Sie wollten, wenn es irgend möglich war, um ihren Willen zur Entspannung auch durch die Tat zu beweisen, versuchen, noch ein irgendwie geartetes Abkommen über Berlin zu bekommen. Sie machten dann den berühmten letzten Vorschlag und verlangten fünf Jahre Frist. Sie gestanden zu, daß man, wenn diese Fünfjahresfrist abgelaufen sei, erneut verhandeln könne.
    Nun kommt etwas sehr Interessantes. Das muß man ja alles wissen, um zu sehen, wie sich die Sowjetunion verhält. Herr Gromyko wurde gefragt: Wie ist es, wenn wir nach den fünf Jahren wieder neu verhandeln? Wollt Ihr dann noch bei dem bis dahin vereinbarten Interimsstatus bleiben? Darauf hat Herr Gromyko geantwortet: Jawohl, solange wir verhandeln. Man hat ihn dann gefragt: Und wenn diese Verhandlungen nicht zum Ziel führen, was ist dann? Wollt ihr dann sagen, daß unser alter, unser originärer Rechtszustand, wie wir es wünschen, wieder auflebt? Oder wollen Sie, Herr Gromyko, dann sagen: Diese Abmachung war eine Novation, und damit ist auch euer alter Rechtszustand dahin? Auf diese entscheidend wichtige Frage hat Herr Gromyko ausweichend geantwortet. Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, hat er gesagt: Lassen Sie uns nicht darüber sprechen, warten wir ab!, oder so ähnlich. Sie sehen, meine Damen und Herren, was das bedeutet. Das bedeutet doch, daß man über den Trick einer teuflischen, schlechten Interimslösung dann auch rechtlich eine Handhabe bekommt, indem man nunmehr behauptet: es gilt nicht mehr die clausula rebus sic stantibus, wenn ich mich juristisch so ausdrücken darf, sondern die freiwillig vereinbarte Novation, und die habt ihr ja zu Ende gehen lassen, also seid ihr jetzt endgültig aus Berlin heraus.
    Das war das Schicksal der Berlinfrage auf der Genfer Konferenz, und das muß man vor sich sehen, wenn man darüber spricht: ist denn mit dem Osten überhaupt noch zu reden, besteht denn noch eine Möglichkeit, ihn vielleicht doch zu irgendeinem Übereinkommen zu bewegen? Ich sehe die Aussichten nicht sehr rosig. Für mich war auch die intransigente Haltung der Sowjets in Genf eigentlich keine Überraschung. Denn Herr Chruschtschow hat ja schon all die Jahre hindurch geredet und Erklärungen abgegeben. Das eine kann man ihm nicht nachsagen, daß er die Welt darüber im Dunkel gelassen habe, welches die Ziele seiner Politik sind.
    Er verkündet sie ganz offen, und längst schon, ehe sein Außenminister nach Genf an den Verhandlungstisch ging, hat er es gesagt. Darf ich mit Genehmigung des Herrn Präsidenten zwei ganz kurze Zitate verlesen.
    Das erste Zitat stammt aus Chruschtschows Rede in Leipzig am 7. März 1959. Dort sprach er ja vor deutschen Arbeitern, vor, wie er sagte, „klassenbewußten Proletariern". Dort zog er auch die deutsche Frage an und sagte dazu ungefähr: Für euch ist die deutsche Frage natürlich wichtig. Aber bedenkt einmal, Genossen: Auf der Welt leben 2,5 Milliarden Menschen, davon seid ihr im ganzen 80 Millionen. Ist da diese Frage der deutschen Wiedervereinigung erstrangig? Nein, sie ist nicht erstrangig, sie ist zweitrangig. Wichtig ist, daß der Kommunismus marschiert —, und dann folgte ein großes Loblied auf die Aufgaben des Kommunismus, daß er in unaufhaltsamem Vordringen über die ganze Welt hin sei. Aber — so sagte er dann — wir sind wiederum nicht der Meinung, Genossen, daß die deutsche Frage so unwichtig wäre, daß man sie nicht behandeln sollte. Dann fuhr er fort — und jetzt zitiere ich wörtlich —:
    Wie aber? Auf welcher Grundlage soll die Wiedervereinigung Deutschlands verwirklicht werden? Wir sind nicht für irgendeine Wiedervereinigung, und Sie stimmen, wie ich denke, dem zu, daß man an die Frage der Wiedervereinigung vor allem vom Klassenstandpunkt herangehen muß.
    Und an anderer Stelle:
    Was ist die Wiedervereinigung Deutschlands unter den gegenwärtigen Bedingungen des Bestehens von zwei deutschen Staaten? Auf welcher Grundlage kann sie verwirklicht werden? Diejenigen, die die Interessen der Arbeiterklasse zum Ausdruck bringen, können nicht einmal den Gedanken daran zulassen, daß durch eine Wiedervereinigung Deutschlands die Arbeiter und Bauern der Deutschen Demokratischen Republik, die einen Arbeiter- und Bauernstaat geschaffen haben und erfolgreich den Sozialismus aufbauen, alle ihre Errungenschaften verlieren und sich damit einverstanden erklären, wie früher unter den Bedingungen des kapitalistischen Jochs zu leben.
    Diese Erklärung Chruschtschows damals in Leipzig ist eindeutig. — Und was sagte er später in Stettin? Dort sagte er:
    Die Westgrenze der sozialistischen Länder verläuft dort, wo die Grenze zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland verläuft. Wir betrachten die Grenze der Deutschen Demokratischen Republik als unsere gemeinsame Grenze, als die Linie, welche die Welt des Sozialismus von der Welt des Kapitalismus trennt.
    Und dann sagt er noch: „Diese Linie ist heilig."
    Das waren nur einige Äußerungen Chruschtschows vor der Genfer Konferenz. Da braucht man sich doch nicht darüber zu wundern, daß sein Außenminister



    Dr. Schneider (Lollar)

    mit dieser Instruktion und in dieser Haltung nach Genf kommt und sie dort zeigt. Berlin war doch nur künstlich heraufbeschworen — mit der Note vom 27. November 1958 —, im mittels Drucks usw. diese Frage zugunsten der Sowjetunion, zugunsten der sogenannten DDR zu lösen, zweierlei auf einen Schlag zu erreichen: Berlin einzuverleiben und die DDR auf ewig zu etablieren und damit die deutsche Wiedervereinigung für immer zu torpedieren.
    Das kann natürlich nicht die Aufgabe sein, die w i r zu erfüllen haben, meine sehr verehrten Damen und Herren. Wir können es natürlich allein auch nicht zwingen, mögen wir noch so guten Willens sein. Wir können es nicht. Wir sind selbstverständlich auf die Hilfe unserer westlichen Verbündeten angewiesen. Diese werden auch vor schwere Entscheidungen gestellt werden. Sie haben ja schon die größten Anstrengungen gemacht, zu einer irgendwie gearteten Lösung auch der Berlin-Frage zu kommen. Die Konferenz kommt ja wieder.
    Über die Abrüstung will ich mich hier heute nicht verbreiten. Wir haben dazu schon genug gesagt. Wir sind selbstverständlich mit ihr einverstanden, und wir wären froh, wenn eine wirklich weitgehende Abrüstungsvereinbarung für die ganze Welt erreicht werden könnte; wir werden uns ihr dann anschließen. Aber eines möchte ich doch zu Ihren Ausführungen, Herr Kollege Erler, sagen; seien Sie mir bitte nicht böse. Sie haben eine meines Erachtens gefährliche Idee hier heraufbeschworen. Sie haben nämlich gesagt: Langsam, langsam kommt in der Welt so die Vorstellung hoch — ich habe Sie doch wohl richtig verstanden? ich bitte, mich zu berichtigen, wenn ich es jetzt falsch formuliere —, daß an die Stelle der westlichen Besatzungsmächte die deutsche Bundeswehr treten könnte. Sehen Sie, Herr Erler, das ist meines Erachtens gefährlich.

    (Abg. Erler: Ich würde es ja nicht begrüßen; aber die Gefahr ist leider da!)

    Denn damit liefert man denen da drüben immer wieder neue Argumente.

    (Abg. Erler: Das müssen Sie aber Admiral White sagen!)

    Ich wollte es nur einmal ganz am Rande hier berührt haben.
    Sie sagten, Herr Kollege Erler: Es muß über einen Friedensvertrag verhandelt werden. — Jawohl! Hundertprozentig mit Ihnen einverstanden. Aber konnten denn in Genf unsere Freunde über den von der Sowjetunion vorgelegten Friedensvertrag ernsthaft verhandeln? Das konnten sie doch gar nicht, wenn sie nicht von vornherein zugeben wollten, die These, die Herr Chruschtschow aufgestellt hat, sei richtig: „Es bestehen zwei deutsche Staaten. Mit diesen beiden deutschen Staaten ist ein Friedensvertrag abzuschließen. Damit ist auch die Berlin-Frage gelöst; Berlin ist dann die Hauptstadt der DDR. Diese ist ein selbständiger, souveräner Staat. Und damit ist das ganze Problem gelöst, dieser Unruheherd Deutschland in Mitteleuropa beseitigt." Meine sehr verehrten Damen und Herren, über einen solchen Friedensvertrag konnten doch unsere westlichen Freunde gar nicht verhandeln. Man braucht ihn sich nur anzusehen, man braucht nur zu lesen, was darin steht, dann weiß man schon: Wenn man Deutschland vernichten will, müßte man einen solchen Vertrag unterschreiben, — und ein anderer lag ja nicht vor.
    Die primäre Voraussetzung dafür, überhaupt ernsthaft über einen Friedensvertrag verhandeln zu können, wäre doch die Klärung der Frage gewesen: Wie bekommt man denn überhaupt das Völkerrechtssubjekt, das berechtigt ist, einen deutschen Friedensvertrag abzuschließen? Diesen Weg hätte man doch vorher beschreiten müssen. Denn — Herr Chruschtschow mag behaupten, was er will — weder die Bundesrepublik Deutschland noch die sogenannte DDR ist dieses Völkerrechtssubjekt. Auch wenn sie gewisse Züge von Staatsbildungen aufweisen — was wir ja für da drüben verneinen; wir sagen, das ist gar keine echte Regierung, weil sie der Legitimation durch freie Wahlen entbehrt; aber lassen wir das im Augenblick einmal dahingestellt, ich spreche jetzt juristisch, theoretisch —: keiner dieser Einzelstaaten könnte mit verbindlicher Wirkung für Deutschland, für das Völkerrechtssubjekt Deutschland, das auch durch die Kapitulation nicht untergegangen ist, sondern, wie die vier Siegermächte damals erklärt haben, nach wie vor besteht, und zwar hi den Grenzen von 1937, einen Friedensvertrag schließen.
    Dieses einzig und allein legitimierte Völkerrechtssubjekt Deutschland — ganz Deutschland — müßte erst einmal hergestellt werden, wenn man I überhaupt ernsthaft an das Aushandeln und den Abschluß eines Friedensvertrages denken will. Es ist nicht da; es ist durch die Russen bis jetzt verhindert worden. Nach den Äußerungen von Herrn Chruschtschow in der letzten Zeit habe ich wenig Hoffnung darauf, daß sich dort sehr viel ändert. Seine Haltung zu den Problemen hat sich sogar versteift. Er spricht jetzt schon nicht mehr eine sachliche, eine darstellende Sprache. Er ändert seinen Ton. Er droht schon. Er ist unermeßlich stolz, wenn er formuliert: Die Deutschen standen einmal vor Moskau, sie waren auch in Stalingrad, aber wir sind nach Berlin gekommen, die Zeiten haben sich geändert, ein Friedensvertrag mit den beiden Deutschland ist nach meiner Auffassung die richtige Lösung; natürlich ist der Herr Adenauer dagegen; aber wer ist denn der Herr Adenauer? Hören Sie die Überheblichkeit aus einer solchen Formulierung? Unsere westlichen Freunde hören diese Sprache auch und wissen, was ihnen blühen wird, wenn sie jetzt wieder, wenn auch auf anderer Ebene und nicht in Genf, aber in Paris, am gleichen Konferenztisch sitzen. Da werden ja die gleichen Probleme Berlin und Deutschland auf den Tisch gelegt werden.
    Was wird Sowjetrußland machen? Der Bundeskanzler hat ganz recht mit dem, was er heute morgen hier gesagt hat: Das Verhalten Sowjetrußlands auf der Gipfelkonferenz schon in der Frage Berlin ist ein Test dafür, ob es die Entspannung, den Frieden auch in Europa ernstlich will. Die Drohung
    5422 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10, Februar 1960
    Dr. Schneider (Lollar)

    mit einem separaten Frieden, wenn man auf der Gipfelkonferenz nicht einig werde, hat er ja auch schon wieder ausgesprochen. Er hat gesagt: Dann werden wir einen separaten Frieden mit der souveränen DDR abschließen.
    Meine sehr verehrten Damen und Herren, nehmen Sie die Restthesen hinzu, die Herr Gromyko in Genf so eindeutig dargelegt hat: Das Besatzungsstatut West-Berlins habe sich überlebt, das müsse abgelöst werden, die einzig richtige Lösung sei die Ausdehnung der Souveränität der DDR auf WestBerlin. Unsere westlichen Freunde werden sich überlegen müssen, was sie tun wollen, wenn eine derartige Situation wieder auf sie zukommt.
    Chruschtschow will mit seiner Drohung jetzt schon vorbeugen. Der Abschuß von Raketen mitten in das amerikanische Meer ist ja nichts anderes als ein dreistes taktisches Manöver, nichts anderes als der Versuch, unsere westlichen Freunde weich zu machen. Chruschtschow möchte ihnen damit zu verstehen geben: Ich könnte diese Raketen ja auch noch etwas weiter fliegen lassen, und ihr wißt ja Bescheid, was dann wäre, also, Freunde, einigt euch mit uns, das ist das beste. Was ist das Deutschland da inmitten? Das sind 80 Millionen von 21/2 Milliarden Menschen, und die können ja geteilt leben, sie können — so hat er sich in Leipzig selbst geantwortet — sogar geteilt gut leben. Damit wäre das deutsche Schicksal verspielt.
    Ich bin sehr froh, daß wir diese Debatte heute so sachlich führen konnten und daß wir jedenfalls über eine Berlinlösung alle einer Meinung sind. Eine Sonderregelung lehne ich ab. Das Problem kann nur im Rahmen einer Gesamtlösung bereinigt werden. Wenn man schon über Berlin spricht, dann kann man es nur im Rahmen der Mindestforderungen tun, die heute von Herrn Kollegen Erler in fünf Punkten niedergelegt worden sind und zu denen wir alle ja sagen können.
    Ich wäre allerdings noch froher gewesen, wenn wir uns in dieser Debatte auch über die andere große Linie hätten einigen können und wenn sich diese Einigung in einer gemeinsamen Entschließung manifestiert hätte. Dann würde der Kremlherr endlich wissen: da ist nicht nur der Adenauer, der den Friedensvertrag mit den beiden Deutschland nicht will, sondern da ist das ganze deutsche Volk, das diesen Friedensvertrag mit den beiden Deutschland nicht will. Ich hoffe doch, daß wir hinsichtlich des Zieles alle einer Meinung sind.
    Wir werden in schwierige Situationen hineinkommen. Wir werden manchmal unser Herz in die Hand nehmen müssen. Wir wollen uns aber bemühen — ich wünschte das jedenfalls, und wir haben es vor zwei Jahren schon angeregt —, eine wirklich gemeinsame deutsche Außenpolitik zu erarbeiten. Nur dadurch bleiben wir draußen so glaubhaft, wie das notwendig ist, damit unsere Interessen auch wirklich vertreten werden können. Ich hoffe, daß die heutige Debatte dazu beiträgt. Dann wird auch Herr Chruschtschow erkennen, daß der Glaube, er könne durch eine Zementierung des Zustandes des zweigeteilten Deutschlands und durch den Untergang der freien Stadt West-Berlin die Verhältnisse in Mitteleuropa konsolidieren oder gar die Lage entspannen, ein Irrglaube ist. Nur wenn er das einzig Vernünftige tut — diese Frage hat auch mein Kollege Becker angeschnitten —, nur wenn er das tut, was Gottes Recht und Völkerrecht fordern und was auch der Grundsatz der Charta der Vereinten Nationen ist, nur wenn er jedem Volk die Selbstbestimmung über sein eigenes Schicksal, über seine soziologischen und sozialen Verhältnisse gewährt, nur dann ist er ein Staatsmann und nur dann trägt er dazu bei, die Lage in Mitteldeutschland zu entspannen. Andernfalls muß er die Verantwortung dafür übernehmen, daß hier ewig ein Unruheherd, ein Herd der Spannungen bestehenbleibt; die Welt wird nämlich niemals zur Ruhe kommen, solange diese Spannungen da sind.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)