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ID0309902000

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    Deutscher Bundestag 99. Sitzung Bonn, den 10. Februar 1960 Inhalt: Glückwünsche zu den Geburtstagen der Abg. Frau Korspeter, Dr. Leiske und Dr. Brecht 5379 A Große Anfrage der Fraktion der FDP betr. die Deutsche Einheit (Drucksache 1383) Dr. Achenbach (FDP) 5380 A Dr. von Brentano, Bundesminister 5388 A Dr. Adenauer, Bundeskanzler . . 5395 A Erler (SPD) . . . . . . . . 5397 B Dr. Gradl (CDU/CSU) . . . . . 5406 B Dr. Becker (Hersfeld) (FDP) . . . 5413 A Dr. Schneider (Lollar) (LW) . . . 5418 B Entwurf eines Ausführungsgesetzes zu Artikel 26 Abs. 2 des Grundgesetzes (Kriegswaffengesetz) (Drucksache 1589) — Erste Beratung — . . . . . . . . 5422 D Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 7. August 1959 mit dem Königreich Norwegen über Leistungen zugunsten norwegischer Staatsangehöriger, die von nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen betroffen worden sind (Drucksache 1591) — Erste Beratung — . . . 5422 D Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 24. August 1959 mit dem Königreich Dänemark über Leistungen zugunsten dänischer Staatsangehöriger, die von nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen betroffen worden sind (Drucksache 1592) — Erste Beratung — . . . 5423 A Sammelübersicht 16 des Petitionsausschusses über Anträge von Ausschüssen zu Petitionen (Drucksache 1579) 5423 C Nächste Sitzung 5423 C Anlage 5425 A Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 99. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. Februar 1960 5379 99. Sitzung Bonn, den 10. Februar 1960 Stenographischer Bericht Beginn: 9.04 Uhr
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    Anlage zum Stenographischen Bericht Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich a) Beurlaubungen Frau Albertz 29. 2. Dr. Atzenroth 10.2. Bauereisen 15.2. Frau Bennemann 12. 2. Bergmann 10.2. Dr. Deist 29. 2. Deringer 10. 2. Eberhard 13. 2. Eichelbaum 10.2. Geiger (München) 10.2. Glüsing (Dithmarschen) 12.2. Dr. Greve 12.2. Dr. Gülich 16.4. Horn 12.2. Frau Dr. Hubert 12.2. Illerhaus 12. 2. Jacobi 13. 2. Dr. Jaeger 13.2. Jahn (Frankfurt) 23. 4. Dr. Jordan 12.2. Dr. Kanka 12.2. Frau Klemmert 15.5. Frau Korspeter 10.2. Kramel 10.2. Lenz (Brühl) 10.2. Leukert 16.2. Dr. Leverkuehn 12.2. Dr. Lindenberg 12.2. Lulay 29.2. Maier (Freiburg) 16.4. Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich Müller (Worms) 12.2. Nieberg 12.2. Frau Pitz-Savelsberg 12.2. Rademacher 10.2. Rohde 10.2. Frau Rudoll 12. 2. Dr. Rutschke 13. 2. Scharnowski 15.2. Dr. Schellenberg 10.2. Schneider (Hamburg) 12.2. Schütz (München) 12. 2. Dr. Starke 13. 2. Frau Dr. Steinbiß 17.2. Storch 12. 2. Striebeck 13. 2. Frau Strobel 12.2. Dr. Weber (Koblenz) 12.2. Dr. Willeke 1.3. b) Urlaubsanträge Benda 19. 2. Brüns 2. 7. Dr. Eckhardt 28.2. Even (Köln) 29. 2. Frau Friese-Korn 27. 2. Dr. Höck (Salzgitter) 20. 2. Jacobs 7. 3. Müser 20. 2. Pelster 19. 2. Dr. Pflaumbaum 19. 2. Wehr 23. 4. Frau Welter (Aachen) 27. 2. Werner 24. 2.
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    Rede von Dr. Johann Baptist Gradl


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Kollege Erler, auf die Aggressivität, d. h. auf die Expansionsabsicht, die in dieser Ideologie lebendig ist, nicht auf die Ideologie selbst!

    (Beifall in der Mitte. — Zuruf von der SPD: Damit kann man nichts anfangen!)

    — Ja, da kann ich Ihnen nicht helfen; vielleicht lesen Sie es nachher noch einmal nach, um es zu verstehen.
    In der Erklärung, die die Bundesregierung in der deutschen Frage soeben abgegeben hat, ist besonderes Gewicht auf Berlin gelegt. Der Bundeskanzler hat diese Teile der Erklärung des Außenministers noch einmal unterstrichen. In der Tat — jetzt kann ich Ihnen, Herr Erler, auch mal etwas Freundliches sagen — stimmen wir und die Regierung in der Bewertung des sowjetischen Vorstoßes gegen Berlin völlig mit Ihnen überein. In diesem Vorstoß steckt im Grunde der Versuch, die deutsche Einheit dadurch zu liquidieren, daß jenes künstliche Gebilde, das der zweite deutsche Staat werden soll, konsolidiert werden soll; es soll sich ungestört entwickeln, es soll nach den dortigen Vorstellungen offenbar zu einem kommunistischen Aufmarschgebiet in einem späteren Kampf um ganz Deutschland werden.
    Deshalb soll Berlin isoliert, soll sein realer Schutz in verbale Garantien aufgelöst, soll seine politische, seine gesamtdeutsche Strahlungskraft neutralisiert werden. Berlin ist das Feld, auf das heute der Kampf um Deutschland konzentriert ist. Ein Zurückweichen in Berlin wäre ein Zurückweichen in Deutschland, und das würde nicht nur im deutschen Volk das Vertrauen im Fundament erschüttern. Unsere Verbündeten wissen, wie zahlreiche Äußerungen westlicher Staatsmänner beweisen, um diese fundamentale Bedeutung für die Geltung und Glaubhaftigkeit der westlichen Politik überhaupt. Wir haben — ich möchte das für meine politischen Freunde ausdrücklich feststellen — in dieser Schicksalsfrage keine Zweifel und hegen kein Mißtrauen gegenüber unseren Verbündeten. Wir haben genauso Vertrauen, wie es die Berliner selber zu ihren westlichen Schutzmächten haben.
    Daß wir dieses Vertrauen haben können, verdanken wir insbesondere auch der Bundesregierung. Ihre Politik in den vergangenen zehn Jahren hat das Vertrauen wachsen lassen, das sich jetzt in dem Ringen um Berlin bewährt. Bewährt hat sich auch die Entschlossenheit der Bundesregierung, für die gemeinschaftliche Verteidigung jene eigenen Verteidigungsbeiträge zu leisten, die das Ganze im Interesse des Ganzen für notwendig hält. Die Mahnungen und Warnungen an den Osten hätten gewiß nicht so wirksam gesprochen werden können, wenn sie nicht den Rückhalt der Nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft gehabt hätten.
    Der Kreml versucht, seinem Berlinvorhaben eine harmose Deutung zu geben: Man wolle West-Berlin nicht der Zone einverleiben; es solle eine sogenannte freie Stadt werden; man wolle den Berlinern nicht das kommunistische System aufzwingen. Das hat man übrigens früher auch einigen osteuropäischen Völkern gesagt. Der Status Berlins, ein Okkupationsstatus, sei doch abnorm, sagt man. Wenn man das hört und liest, klingt das alles so einfach und so wohlwollend. Aber es könnte nur verlocken, wenn man nicht die Erfahrungen seit 1945 hätte, wenn man nicht wüßte, welcher Wille und welche wirkliche Absicht dahinterstecken und das Zonenregime bewegen. Die Berliner wissen jedenfalls sehr genau, worum es geht, und lassen sich deshalb ebensowenig wie in der Blockadezeit beirren.
    Der jetzige Status für das besondere Gebiet Berlin, der 1944 und 1945 zwischen den damaligen Alliierten vereinbart worden ist, könnte besser sein, er I wäre sicher für den Westen besser formuliert worden, wenn die westlichen Alliierten damals schon die Erfahrungen gehabt hätten, die sie später gesammelt haben. Aber der Viermächtestatus ist jedenfalls eine klare völkerrechtliche Basis für Berlin, für die Anwesenheit und die Schutzfunktionen der drei westlichen Mächte in Berlin. Er ist originäres Recht, er kann nicht gegen den Willen der Berechtigten aufgekündigt oder einseitig aufgehoben werden. Deshalb sagen die Bundesregierung und auch die. Oppositionsparteien — wie ich glaube, mit vollem Recht —: Würde man diese Basis aufgeben, so könnte Berlin gerade zu dem werden, was es im Interesse des Friedens nicht werden soll und darf: zu dem Objekt eines dauernden Streites.
    Es besteht auch keine sachliche Notwendigkeit, diese Rechtsbasis aufzugeben. Der Status hat seit Jahr und Tag alles in allem befriedigend funktioniert und er kann, wenn nicht bewußt Störungen herbeigeführt werden, weiter funktionieren. Natürlich gibt es Möglichkeiten, den Status zu ergänzen, um die Situation in Berlin zu verbessern. Es gibt viele Dinge in dieser gespaltenen Stadt, die den Menschen das Leben unnötig schwer machen. Die Verbindungen innerhalb Berlins und zwischen Berlin und allen Teilen Deutschlands könnten in mancher Weise enger, sicherer und reibungsloser gestaltet werden. Beispiele dafür aufzuzählen hätte aber nur Sinn, wenn die andere Seite zu solchen Verbesserungen bereit wäre. Leider gibt es nicht eine einzige präzise Erklärung nach der Richtung. Das Ziel der sowjetischen Vorstöße sind eben nicht



    Dr. Gradl
    echte Verbesserungen, sondern profunde Beeinträchtigungen der Existenz Berlins.
    Die Außenminister der drei Westmächte haben am 16. Juni vorigen Jahres in Genf dem sowjetischen Außenminister jene speziellen Berlinvorschläge gemacht, die unter Aufrechterhaltung des Rechtsstatus einige wesentliche Ergänzungen und Präzisierungen vorsahen. Dabei hat sich erneut gezeigt, wie eng der Spielraum für westliche Vorschläge ist, wenn die westliche Position und die freiheitliche Ordnung in Berlin nicht gefährdet werden sollen.

    (Sehr richtig! in der Mitte.)

    Auch wenn es sich nur um Modifikationen handeln soll, kommt man sehr schnell an die äußerste Grenze des Vertretbaren. Solange Deutschland nicht wiedervereinigt ist, müssen eben für den Bestand Berlins in seiner Insellage auch auf der unangetasteten Basis des Viermächtestatus bestimmte wesentliche Bedingungen unter allen Umständen ganz real erfüllt bleiben.

    (Beifall in der Mitte.)

    Ich meine dabei insbesondere: 1.) die genügende militärische Präsenz der Westmächte, 2.) die Verbundenheit Berlins mit dem Bund und 3.) den Schutz vor Einmischung in Berlin. Ich habe mit Absicht an erster Stelle den Schutz West-Berlins durch die militärische Präsenz der westlichen Schutzmächte genannt. Ich kann dafür keine bessere Begründung geben, als sie der britische Außenminister Selwyn Lloyd am 12. Juni vorigen Jahres in Genf seinem 3) sowjetischen Kollegen gegeben hat. Diese Ausführungen von Selwyn Lloyd scheinen mir in diesem Zusammenhang so bedeutsam, daß ich sie Ihnen im Wortlaut mitteilen möchte:
    In diesem West-Berlin werden die westlichen Truppen nur anwesend sein, um zu symbolisieren, daß die Freiheit der Westberliner bestehenbleibt. Wie in der Vergangenheit wird ihre Anwesenheit auch in Zukunft keinerlei Einmischung in die innere Verwaltung oder in das Leben der Stadt bedeuten. Diese Truppen werden dort sein als ein von den Westberlinern selbst leidenschaftlich gewünschtes Symbol. In diesem West-Berlin wird es Garantien dafür geben, daß seine Bevölkerung die Freiheit besitzt, ihre eigene Lebensform zu bestimmen.
    Ich könnte das noch fortsetzen. Jeder Satz scheint mir gerade in der Auseinandersetzung mit der sowjetischen Agitation zu diesem Punkt bedeutungsvoll. Aber ich glaube, daß diese Bemerkung schon den rechten Eindruck von der Haltung unserer Verbündeten in dieser Frage gegeben hat.
    Der Osten fordert den völligen Abzug oder zunächst einmal die Verminderung auf symbolische Kontingente. Tatsächlich sind die westlichen Truppen heute schon militärisch gar nichts anderes als Symbole und natürlich in keiner Weise eine militärische Bedrohung. Man braucht die paar Regimenter, diese insgesamt 11 000 Mann, nur in Vergleich zu der Zahl und Stärke der sowjetischen 20 und der sowjetzonalen 10 Divisionen rings um Berlin
    zu setzen. Würden die westlichen Truppen noch weiter vermindert, dann allerdings könnte für Berlin unter Umständen eine wirkliche Gefahr entstehen. Das ist keine Schwarzmalerei; denn wir haben die Flaggenzwischenfälle mit kommunistischen Kampfgruppen auf dem Westberliner Eisenbahngelände gehabt, und jedes Jahr zum 1. Mai und bei anderen Gelegenheiten wird uns vorgeführt, welche militärischen und Bürgerkriegsformationen auf der anderen Seite vorhanden sind. Deshalb sagen wir: Der militärische Schutz West-Berlins muß so bleiben, daß auch der verwegenste UlbrichtFunktionär vor der Versuchung eines Fait accompli, vor der Lust zu einem Überraschungsakt bewahrt bleibt.

    (Beifall in der Mitte.)

    Politische und wirtschaftliche Verbundenheit zwischen Berlin und dem deutschen Westen — der zweite Punkt — und ungehinderter Verkehr entsprechen ganz einfach den Existenznotwendigkeiten Berlins; sie entsprechen dem selbstverständlichen Willen der Bevölkerung Berlins, die der Zweiteilung Deutschlands nicht eine weitere hinzufügen lassen will, und sie entsprechen dem Grundgesetz der Bundesrepublik, in die Berlin ausdrücklich und mit Zustimmung unserer westlichen Alliierten einbezogen ist.
    Die Verbundenheit Berlins mit der Bundesrepublik ist allerdings eingeengt durch den Sonderstatus der Stadt und durch die statusbedingten Rechte und Vorbehalte der Alliierten. Daran ist nicht gerührt worden und soll nicht gerührt werden; denn der Status ist die Basis der freien Existenz Berlins. Aber im Rahmen und in den Grenzen dieses Status hat die Bundesrepublik die Pflicht, die Belange der Stadt zu wahren, ihr zu helfen und den deutschen Standpunkt hinsichtlich Berlins vor der Welt zu vertreten. Die Bundesregierung hat genauso wie Berlin und die Berliner selbst das Recht, daß ihre Ansicht repektiert wird.
    Ich möchte bei dieser Gelegenheit auf etwas eingehen, was der Herr Kollege Erler vorhin gesagt hat. Er hat erwähnt, daß sich der Bundeskanzler bei seinem Besuch in Berlin der Auffassung des Herrn Regierenden Bürgermeisters, seinen fünf Thesen, angeschlossen hat. Das ist richtig. Aber ich möchte nicht den Eindruck entstehen lassen, als ob es erst der fünf Thesen bedurft hätte, um eine solche Haltung hinsichtlich der Wahrung der Stellung Berlins einzunehmen. Diese fünf Thesen sind in der Tat eine glückliche, knappe Zusammenfassung des deutschen Standpunktes, aber diesen deutschen Standpunkt haben wir alle von Anfang an in der Auseinandersetzung um Berlin vertreten, insbesondere hat ihn auch die Bundesregierung und der Bundeskanzler eingenommen.

    (Beifall in der Mitte.)

    Nun wird auf eine Stellungnahme hingewiesen, die ein Mitglied der Bundesregierung im vergangenen Jahr zu der Frage der rechtlichen Verbindung Berlins und der Bundesrepublik abgegeben hat. Ich möchte doch darum bitten, nicht zu unterstellen, daß es sich dabei um eine Ablehnung oder um eine Minderung der tatsächlichen Zugehörigkeit Berlins



    Dr. Gradl
    zur Bundesrepublik gehandelt hat. Vielmehr ging es dabei um nichts weiter als um die Frage, ob man in einer konkreten Situation unter Berücksichtigung des Viermächtestatus eine bestimmte Entscheidung so oder so treffen sollte. Ich habe damals die Auffassung dieses Mitglieds der Regierung nicht geteilt. Aber Sie müssen zugeben — genauso wie ich das zugegeben habe —, daß man sowohl für die eine wie für die andere Auffassung sehr ernste Gründe anführen konnte; denn schließlich ist das Problem der Berücksichtigung des Viermächtestatus in der Tat sehr heikel.
    Wenn es im übrigen darauf ankommt, ein Urteil über die Haltung der Bundesrepublik und der Bundesregierung gegenüber Berlin zu fällen, dann soll man sich nach dem tatsächlichen Verhalten und nicht nach einigen gelegentlichen Äußerungen richten. Dieses tatsächliche Verhalten, die unentwegte Unterstützung Berlins in all den vergangenen Jahren und die Führung des Kampfes um Berlin in den jetzigen Auseinandersetzungen mit den Sowjets und auf der Genfer Konferenz, das alles scheint mir ein genügender Beweis für die Haltung der Bundesregierung zu sein.
    Als eine weitere unabdingbare Voraussetzung für die freiheitliche Existenz Berlins nannte ich den Schutz vor Einmischung in das innere Leben West-Berlins. Sicher, es wäre gut, wenn überhitzte und diffamierende Propaganda, wenn Agententum und politische Wühlereien von der ganzen Stadt — ich betone: von der ganzen Stadt — ferngehalten werden könnten. Am besten wäre es, wenn sie über-haupt überall aus dem politischen Kampf verschwänden. Aber — und da liegt die eigentliche Schwierigkeit — zwischen dem Westen und dem Osten sind die Auffassungen über Propaganda und öffentliche Meinung, über Friedenswillen und Kriegshetze, über Informationsrecht und Spionage usw. so verschieden, daß, wenn es nach dem Osten ginge, sehr schnell die Freiheit der Meinungsäußerung auf der Strecke bleiben und als Hetze diffamiert werden könnte. Der diesbezüglich in Genf gemachte Vorschlag der Westmächte könnte deshalb eher das Gegenteil einer Befriedung, nämlich eine Kette unentwegter Einmischungen auslösen.
    Zu den Bedingungen, die im Interesse Berlins und seiner ganzen Bevölkerung erfüllt bleiben müssen, gehört noch anderes, z. B. auch — der Regierende Bürgermeister von Berlin hat darauf in einer seiner Thesen mit Recht besonders hingewiesen — die Möglichkeit der Bewohner beider Teile der Stadt, sich in der ganzen Stadt unbehindert zu bewegen. Es wäre wirklich ein besonders erbärmliches Zeichen der inneren Schwäche Pankows, wenn 15 Jahre nach Kriegsende vielleicht auch noch die Bewegungsmöglichkeit der Einwohner innerhalb der Stadt unterbrochen würde.

    (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

    Meine Damen und Herren, ich mache diese Feststellungen nicht, um Erschwerungen zu schaffen, sondern ich wollte damit nur demonstrieren, wie sorgsam alles, was Berlin betrifft, betrachtet werden muß, auch dann, wenn es nur, wie man zu sagen pflegt, um Modalitäten geht. Selbstverständlich wird jeder Gedanke, der von verantwortlicher Seite beigetragen wird, mit allem Ernst zu prüfen sein. Denn schließlich ist in der Auseinandersetzung um Berlin das äußerste Risiko im Spiel: Gefahr für den Frieden. Aber man muß sich in jedem Augenblick und bei jeder Überlegung bewußt bleiben, daß man bei Änderungen ganz scharf achtgeben muß, wenn man nicht ins Minus, in eine Verschlechterung mit unübersehbaren Wirkungen abrutschen will.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Der Bundesregierung wird aus dem Osten der massive Vorwurf gemacht, ihre Haltung in der Berlin-Frage sei störend, starr, feindselig und wie diese Bezeichnungen alle heißen. Diese Kritik paßt in die Sprache des Kalten Krieges, die im ganzen Ostblock gegen Deutschland gebraucht wird.
    Aber auch im befreundeten Ausland gibt es Pressestimmen, die die Formulierung des deutschen Berlin-Standpunktes allzu hart finden. Unsere Freunde — das darf ich in allem Ernst sagen — müssen wir bitten, zu bedenken, daß Berlin für uns Deutsche zu viel bedeutet, daß mit Berlin gar zu viel auf dem Spiel steht.

    (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

    Es kommt nicht allein darauf an, 21/2 Millionen West-Berlinern weiterhin Freiheit, Sicherheit und Arbeit zu erhalten, so wichtig und notwendig das natürlich ist. In Berlin geht es um mehr. Berlin ist das Scharnier gesamtdeutscher Verbundenheit, Berlin ist Blickpunkt der deutschen Hoffnung auf Wiedervereinigung. Diese Hoffnung beruht nicht zuletzt auf der Existenz Berlins mit all seinen Zeichen des Provisoriums. Berlin ist — da darf vielleicht auch ich ein bißchen lyrisch werden — wie das Licht am Ende eines langen, dunklen Weges, den die Nation zu gehen hat. Würde Berlin zu einer Art internationaler Provinz, zu einer dritten Spezies Deutschland, zu einem Siegel des Status quo der deutschen Teilung, dann wäre das eine tiefe, furchtbare Enttäuschung für uns Deutsche, und zwar auf beiden Seiten der Trennungslinie. Daraus könnten sich verhängnisvolle Wirkungen ergeben.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Weil mit Berlin soviel auf dem Spiele steht, ist es um so erfreulicher, daß die Bundesregierung und der Senat von Berlin in der Beurteilung der Lage und der Konsequenzen übereinstimmen. Diese Gemeinsamkeit der Haltung in der Verteidigung der Position Berlins zusammen mit der unbeirrten Haltung der Berliner Bevölkerung ist wohl das Wichtigste, was von deutscher Seite zur Behandlung des Berlinproblems selbst in diesem Augenblick beigetragen werden kann. Man sollte überall in der Welt und vor allem auch im Osten zur Kenntnis nehmen, daß die verantwortlichen politischen Kräfte im freien Teil Deutschlands in der Auseinandersetzung um Berlin geschlossen auftreten und einig sind, so verschieden ansonsten ihre Meinungen sein mögen und so verschieden sie auch heute hier zum Ausdruck kommen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)




    Dr. Gradl
    Die verantwortlichen politischen Kräfte sind einig und geschlossen, weil sie wissen, daß in dieser Auseinandersetzung um Berlin in der Tat — Herr Kollege Erler war es wohl, der das gesagt hat — die Weichen für die Zukunft Deutschlands gestellt werden.
    Meine politischen Freunde bejahen deshalb auch voll und ganz die feste Haltung, die in der Erklärung der Bundesregierung zur Frage Berlin ausgedrückt ist. Sie erwarten von der Bundesregierung, daß sie ihren eindeutigen Standpunkt auch in Zukunft mit der notwendigen Entschiedenheit vertritt. Die feste Haltung in der Berlinfrage ist auch der Ausdruck unserer Überzeugung, daß es keine wirkliche Lösung des Problems Berlin gibt, wenn sie isoliert versucht und die gesamtdeutsche Frage umgangen wird. Man sträubt sich, es auszusprechen, weil es schon so oft gesagt worden ist, muß es aber immer wieder sagen: Wer irgendwo glaubt, nach einer Behelfslösung für Berlin könnten sich die Deutschen doch noch mit einem Status quo des geteilten Deutschland abfinden, der unterliegt einem schrecklichen Irrtum.
    Irgend jemand im Osten hat vor einiger Zeit gesagt, die „Zeitbombe West-Berlin" müsse entschärft werden. Und eine andere östliche Stimme hat Berlin als den „Herd der Unruhen und der Gespanntheit in Europa" bezeichnet. Aber nicht Berlin ist ja die Zeitbombe und der Herd der Gespanntheit in Europa, sondern es ist die deutsche Teilung und das Zonenregime, die die Geduld und die Leidensfähigkeit der Menschen in Mitteldeutschland so maßlos in Anspruch nehmen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Deshalb muß man jeder Politik, die den Status quo für unabsehbare Zeit zur Grundlage machen will, immer wieder entgegenhalten, daß dieser Status ein ungemein zerbrechliches Gebilde ist, daß er kein stabiler, durch eine gerechte Ordnung gefestigter Zustand ist, sondern ein sehr dünnes Geflecht über einer elementaren Unordnung, die durch die unentwegte Verweigerung des Selbstbestimmungsrechtes fü ein großes Volk hervorgerufen ist. — Das ist die wirkliche Situation und das wirkliche Problem.
    Natürlich genügt es nicht, die Zerbrechlichkeit und die Gefahr des Status quo der Welt vor Augen zu stellen. Dadurch allein wird das Problem nicht gelöst. Es ist begreiflich, daß immer wieder nach Alternativen, nach Lösungen und Vorschlägen gefragt wird. Das ist ja auch in der dieser Debatte zugrunde liegenden Anfrage geschehen. Die Bundesregierung hat ihre Meinung dazu gesagt. Aber ich möchte noch eine Bemerkung hinzufügen. In Wirklichkeit fehlt es ja gar nicht an Plänen; deren gibt es mehr als genug. Woran es fehlt, ist die echte Verständigungsbereitschaft der anderen Seite. Solange die Gegenseite Forderungen stellt, die schlechterdings unerfüllbar sind, wie z. B. mit dem sowjetischen Friedensvertragsentwurf für ein geteiltes Deutschland, kann kein Plan helfen, mag er auch noch so gut sein. Pläne können erst dann wirklich helfen, wenn die östliche Seite zu einer auch uns zumutbaren Lösung bereit ist. Vorher laufen wir Gefahr, mit dem Verlangen und Veröffentlichen immer neuer Vorschläge die eigenen Positionen einseitig abzubauen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Das gilt für Wiedervereinigungspläne, das gilt auch für allgemeine deutsche Beiträge. Es gibt beispielsweise die Auffassung — auch heute ist sie hier wieder angeklungen —, daß die Bundesregierung unabhängig von der Wiedervereinigung sozusagen durch einen besonderen deutschen Abrüstungsbeitrag eine Atmosphäre für eine Lösung der deutschen Frage schaffen könnte. Nun, die Bundesregierung ist immer bereit gewesen, eine allgemeine und kontrollierte Abrüstung in der Welt zu unterstützen und zu ihrem Teil mitzumachen. Die Bundesregierung hat auch heute wieder diese Bereitschaft ausgesprochen. Wenn die großen Mächte, die für die Rüstung und den Rüstungswettlauf bestimmend sind, sich auf allgemeine Abrüstungs- und Sicherheitsmaßnahmen einigen, muß und wird die Bundesrepublik jeden adäquaten Beitrag zu leisten bereit sein.
    Herr Kollege Erler, als Sie vorhin zu diesem Thema sprachen, hatte ich das Gefmühl, als ob Sie den Eindruck hätten, daß hier irgend jemand auf den Besitz von Atomwaffen versessen ist. Das ist nun wirklich nicht der Fall. Schließlich hat die Bundesregierung auf die Produktion von A-, B- und C-Waffen verzichtet, und es gibt keinerlei Anlaß anzunehmen, daß sich an diesem Verzicht etwas ändert. Jede atomare Bewaffnung, die in Zukunft vielleicht einmal notwendig werden sollte, wird ganz bestimmt kein Verteidigungsbeitrag sein, der durch deutsche Initiative ausgelöst wird. Die Bundesregierung hat nie einen Zweifel daran gelassen, daß sie nur Beiträge leisten wird, die, wie ich es vorhin schon ausgedrückt habe, im Interesse des Ganzen vielleicht für notwendig erachtet werden.

    (Abg. Schmidt [Hamburg]: Bei denen weiß die Linke nicht, was die Rechte tut!)

    Eine andere Frage ist es, ob es zweckmäßig ist, daß die Bundesrepublik sich zu besonderen Beschränkungen ihrer Verteidigung in einem im wesentlichen auf Zentraleuropa beschränkten Raum bereit findet, und zwar ohne eine Hand in Hand damit gehende politische Entspannung in diesem Raum durch eine positive Lösung der deutschen Frage. Eine beschränkte Abrüstung in unserem Raume, sei es in der Stärke der eigenen und der verbündeten Truppen, sei es in der Art der Bewaffnung, würde praktisch einseitig die Bundesrepublik und die westliche Verteidigungsgemeinschaft treffen. In der westlichen Verteidigungsgemeinschaft ist die Bundesrepublik in Europa zwangsläufig ein sehr wesentliches Glied. Die wirkliche militärische Potenz und Gefahr auf der anderen Seite ist nicht das Zonenregime oder Polen oder die Tschechoslowakei, sondern die sowjetische Militärmacht. Diese Macht bliebe bei einer isolierten militärischen Veränderung in diesem gespannten Raum in jedem Falle militärisch und politisch präsent. Eine solche Art der Abrüstung und Verteidigungsbeschränkung liefe in der Wirkung — davon bin ich jedenfalls überzeugt — nicht auf eine Befriedung



    Dr. Gradl
    dieses Raumes hinaus, sondern auf eine Verfestigung und Garantie des Unrechts der deutschen Teilung.
    In dem Gedanken einer militärischen oder, wenn Sie wollen, demilitarisierenden Sonderbehandlung unseres engeren Raumes kommen die vertrauten Überlegungen ,eines nur militärischen Disengagement zum Ausdruck. Solche Gedanken könnten einen guten Sinn haben, wenn der Westen es bei den Sowjets mit einem politischen Gegner zu tun hätte, mit idem über das politische Ziel der Aktion Einigkeit bestünde und dem man nicht mehr zu mißtrauen brauchte. Aber ich brauche nicht zu beweisen, daß das eben nicht der Fall ist.
    Unsere pessimistische Haltung hinsichtlich eines militärischen Disengagement ohne politische Entspannung wird kritisiert als eine Politik des Junktims zwischen Abrüstung und Wiedervereinigung. Nun sehe ich einmal davon ab, daß dieses Junktim einer 'allgemeinen Abrüstung in keiner Weise im Wege steht. Ich sehe auch davon ab, daß das Junktim im Grunde ja von der anderen Seite nichts verlangt als die Einräumung des Selbstbestimmungsrechts. Was die andere Seite an politischen Veränderungen als Konsequenz befürchtet, ist richtig. Aber das ist nun einmal Selbstbestimmungsrecht.
    Sowohl der Deutsche Bundestag als auch die Bundesregierung als auch unsere westlichen Verbündeten haben wiederholt die Bereitschaft ausgesprochen, die politischen und militärischen Probleme in Mitteleuropa gemeinsam so zu lösen, daß die Lösung allen Beteiligten gerecht wird. Es ist selbstverständlich, daß die Wiederherstellung eines Staates von 70 Millionen Deutschen auf der Basis des Selbstbestimmungsrechtes bei den anderen Völkern Europas manche Erinnerungen und manche Fragen unter dem Gesichtspunkt der Sicherheit auslöst. Das ist eine der Folgen dessen, was der Nationalsozialismus angerichtet hat. In diesem Sinne sind Wiederverednigung, Frieden, Sicherheit und Abrüstung eine Problemeinheit, die als Ganzes gesehen und in Stufen einer verbundenen Lösung zugeführt werden muß.
    Tatsächlich berücksichtigt der Friedensplan, den die Westmächte in Genf vorgelegt haben, alle diese Faktoren. Mit diesem konkreten Plan ist nach unserer Überzeugung ein Weg des guten Willens zur Entspannung in Europa gewiesen. Die eigentliche Bedeutung dieses Planes, der — unvermeidlich —kompliziert ist, liegt in den Grundsätzen, die in ihm zum Ausdruck kommen.
    Natürlich hält der Plan daran fest, daß im Zuge seiner Entwicklung dem deutschen Volk das Selbstbestimmungsrecht zurückgegeben werden muß und daß die Position Berlins bis dahin nicht Schaden leiden darf. Würde von diesen Voraussetzungen abgegangen, wäre es ja Kapitulation vor der sowjetischen Teilungspolitik. Aber unter diesen Voraussetzungen enthält der westliche Plan in Verbindung nit seiner Erläuterung durch den amerikanischen Außenminister alle konstruktiven Elemente einer allen Beteiligten zumutbaren Lösung der deutschen Frage.
    Der Plan sieht eine gestufte Entwicklung für die Wiedervereinigung vor. Er verlangt von der Sowjetunion nicht, wie, glaube ich, heute morgen auch hier gesagt worden ist, Kapitulation. Er verlangt nicht die Zustimmung zu einer abrupten, quasi-revolutionären politischen Veränderung in ihrem mitteldeutschen Besatzungsbereich. Die freien Wahlen zur gesetzgebenden Versammlung folgen einer Übergangszeit in einem gesicherten Ablauf des Wiedervereinigungsprozesses. Und für diesen Plan ist auch das Anpassungsproblem, das sich aus der verschiedenen Entwicklung der ökonomischen und sozialen Struktur in beiden Teilen Deutschlands ergibt, als politisches Problem anerkannt. Der amerikanische Außenminister hat das ausdrücklich in seiner Genfer Erläuterung des Planes festgestellt.
    In diesem Plan ist auch vorgesehen, daß im Rahmen der Vier-Mächte-Verantwortung beide Teile Deutschlands bei der Vorbereitung der Wiedervereinigung mitwirken. Schließlich sind eine Fülle von konkreten Maßnahmen zur militärischen Entspannung vorgeschlagen, die die politische Entspannung begleiten und zu einem europäischen Sicherheitssystem führen sollen. Das geht vom Austausch militärischer Informationen über Inspektionen und sich überschneidende Radarsysteme bis zu einer Zone beschränkter Rüstung, zum Truppenabzug und zu einem gemeinsamen Garantiesystem.
    Meine Damen und Herren, alles das — dies insbesondere zu der Kritik des Kollegen Achenbach! — liegt in dem westlichen Plan, und zwar nicht versteckt, sondern es ist offen ausgesprochen. Wenn Sie beanstanden, daß dieser Plan als ein unauflösbares Ganzes hingestellt worden ist, muß ich dazu sagen: natürlich ist er in dem Sinne unauflösbar, daß die Tatsachen selber so miteinander verschlungen sind. Aber es ist nie ein Zweifel darüber gelassen worden, daß dieser Plan nicht als ein Diktat verstanden sein will, sondern als Grundlage für Verhandlungen; vorausgesetzt werden natürlich ernsthafte Verhandlungen.
    Der Plan ist seinerzeit mit Zustimmung der Bundesregierung in Genf vorgelegt worden. Die Bundesregierung hat sich auch heute wieder zu ihm bekannt. Er wäre eine faire Verhandlungsgrundlage, wenn, ja wenn es der Sowjetunion auf Sicherheit und Entspannung in Europa wirklich ankäme.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    In diesem Zusammenhang ein kurzes Wort zu der Formel, die Wiedervereinigung sei eine Sache der Deutschen untereinander. Daß das nur eine Ausweichformel der Sowjets ist, hinter der sie ihren derzeitigen Willen verstecken, Deutschland geteilt zu halten, ist offenbar. Die furchtbaren Äußerungen des sowjetischen Ministerpräsidenten zu seinen italienischen Besuchern waren in dieser Hinsicht besonders deutlich, bedrückend deutlich. Wer eigentlich soll denn in Deutschland unter diesen Umständen noch glauben — Herr Kollege Achenbach, denken Sie einmal über diese Frage nach! —, daß die deutsche Einheit, gelöst von der Vier-MächteVerantwortung, in einem Gremium, in dem die Vier Mächte nur noch Beobachter sein sollen, noch zu-



    Dr. Gradl
    Wege gebracht werden kann? Wer soll es auch glauben angesichts des tatsächlichen Verhaltens des Zonenregimes?
    Seitdem der sowjetische Regierungschef die Parolen der Entspannungspolitik und der Beendigung des Kalten Krieges proklamiert hat, bedient sich auch die Zonenpropaganda dieser Parolen. Alle diese Entspannungsparolen hindern das Zonensystem in keiner Weise — leider! —, den Stacheldraht noch dichter, die Sperrzone noch lückenloser, den Kirchenkampf noch raffinierter, die Atheisierung des gesellschaftlichen Lebens noch schärfer, die Sowjetisierung des Wirtschaftslebens noch intensiver, die Drangsal der Bauern und Handwerker noch quälender, kurz: die Spaltung noch tiefer und härter zu machen. Die Spalterflagge ist ja nur ein Symbol dafür.
    Bei uns in Deutschland besteht der Kalte Krieg noch immer. Hier besteht er nicht aus Worten, sondern aus Realitäten. Diese Realitäten sind es, die für uns der Prüfstein des wirklichen Willens auf östlicher Seite, die für uns die realen Maßstäbe der sowjetischen Politik auch im Zeitalter atmosphärischer Entspannung sind. Das alles steht in einem so schreienden Widerspruch zu dem von Chruschtschow verkündeten sowjetischen Entspannungs-
    und Friedenswillen! Ich will jetzt nicht frag en, ob er es mit diesem Willen ernst meint. Wir können nur wünschen, daß es so ist. Aber der Geist von Camp David 1959 wird genauso verfliegen wie der Geist von Genf 1955, wenn die Wirklichkeit nicht folgt. Die sowjetische Politik, so wie sie gegenwär) tig betrieben wird, macht — ich sage das nicht gern — die Schaffung eines guten Verhältnisses zwischen dem deutschen Volk und der östlichen Weltmacht unmöglich. Unser Volk wünscht ein gutes Verhältnis nach allen Seiten. Wir müssen das um so dringlicher wünschen nach allem, was im Zeichen des Nationalsozialismus in Deutschland geschehen ist, auch nach allem, was 1941 bis 1945 im deutschen Namen gerade der Sowjetunion angetan worden ist. Aber eben weil wir endlich zu einem Verhältnis echten Friedens kommen wollen, müssen wir immer wieder sagen, daß die bisherige sowjetische Deutschlandpolitik nichts mit Frieden zu tun hat, weder der Vertragsentwurf für einen Frieden mit zwei Staaten noch die Drohung mit dem Separatfriedensvertrag, noch die Drohungen Ulbrichts.
    Aber vielleicht kann statt langatmiger Ausführungen ein Beispiel viel deutlicher, als Worte es vermögen, zeigen, was für eine Ungeheuerlichkeit es in Wirklichkeit ist, die die sowjetische Politik mit Hilfe Ulbrichts dem deutschen Volk zumutet. Man möge sich in Moskau nur einen Augenblick einmal vorstellen, Hitler hätte den Krieg gegen die Sowjetunion gewonnen, der Westen der Sowjetunion, darunter die Herrn Chruschtschow besonders nahestehende Ukraine, wäre am Kriegsende zum Besatzungsgebiet gemacht worden, es wäre eine westrussische nationalsozialistische Republik geschaffen worden, General Wlassow wäre als Staats-und Parteichef eingesetzt worden, und dann hätte der Nationalsozialismus von Moskau die Anerkennung dieses Gebietes als zweiten russischen Staat verlangt. Genau das, mit umgekehrten Vorzeichen, verlangt die Sowjetregierung mit der Anerkennung des Zonenstaates.
    Nun frage ich: Muß man, auch in Erinnerung an die unerhörte Kraftanstrengung ihres vaterländischen Krieges, noch fragen, was die Sowjetrussen bei einer solchen Zumutung empfunden hätten, wie sie auf die Dauer reagieren würden? Ich meine, wir fühlen uns als Nation durch die Teilung Deutschlands nicht weniger verletzt, als sich Sowjetrußland in entsprechender Situation verletzt fühlen würde.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Der sowjetische Ministerpräsident spricht gerne von „Überbleibseln" des Krieges und von „Steinchen" auf dem Friedensweg, die weggeräumt werden müßten. Was hier in der Mitte Europas liegt — der Bundeskanzler hat in einem seiner Briefe an Chruschtschow darauf sehr deutlich hingewiesen —, das sind nicht nebensächliche Überbleibsel und Steinchen, das sind große Trümmer, dieses gespaltene Deutschland.
    Vor dem Obersten Sowjet hat Chruschtschow erklärt, das Prinzip der friedlichen Koexistenz bedeute Nichteinmischung in innere Angelegenheiten. Die ungeregelten internationalen Fragen sollten nicht durch Gewalt, sondern mit friedlichen Mitteln, durch Verhandlungen gelöst werden. Er hat auch gesagt, daß die Völker in jedem Staat — wörtlich! — selbst wählen mögen, welche Gesellschaftsordnung sie unterstützen wollen.

    (Abg. Frau Dr. Dr. h. c. Weber [Essen] : Siehe Ungarn!)

    Es bedarf nichts weiter, als daß die sowjetische Politik gegenüber dem deutschen Volk in dieser Weise realisiert wird. Dann ließe sich vieles, was heute zwischen West und Ost liegt, sehr gut regeln. Auch dann, auch bei gutem Willen, würde die solide Neuordnung in Mitteleuropa natürlich schwierige und geduldige Verhandlungen, mehr Zeit, mehr Einzelarbeit erfordern, mehr Vertiefung, als auf einer Gipfelkonferenz im Rampenlicht der Weltöffentlichkeit möglich ist.
    Das war einer der Gründe, weshalb der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung wiederholt die Bildung eines ständigen Vier-Mächte-Gremiums mit deutschen Mitarbeitern vorgeschlagen haben. Aber, Herr Kollege Achenbach, ein Vier-Mächte-Gremium mit deutschen Mitarbeitern oder Arbeitsgruppen, nicht aber ein Gremium, bei dem die Vier Mächte nur Beobachter sind und die Deutschen sich selbst überlassen sind, nicht ein Gremium, in dem die Vier-Mächte-Verantwortung tatsächlich aufgelöst ist!
    Meine Damen und Herren, meine politischen Freunde sind gewillt, im Rahmen unserer Möglichkeiten einen redlichen deutschen Beitrag zur Lösung aller Fragen zu leisten, die die Welt bewegen und die kommende Gipfelkonferenz beherrschen. Wir sind nicht skeptisch hinsichtlich der Möglichkeiten einer Entspannung. Wir wollen nur, daß man zu einer realen Entspannung kommt. Das sowjetische Verhalten in der Frage Berlin und Deutschland ist, für uns jedenfalls, die Probe darauf, ob die Entspannungspolitik, wie sie die Sowjetregierung so wortgewaltig verkündet, nicht der Einschläferung



    Dr. Gradl
    und Zersetzung der freien Welt dienen soll, sondern wirklich zu einer Befriedung der ganzen Welt. führt.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)



Rede von Dr. Victor-Emanuel Preusker
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Becker (Hersfeld).

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Max Becker


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich darf eine besondere Gelegenheit nicht vorübergehen lassen: die Gelegenheit, daß ich ausnahmsweise dem Herrn Bundeskanzler einmal ein Kompliment machen kann. Es ist allerdings nur ein relatives Kompliment,

    (Heiterkeit)

    nämlich das Kompliment, daß seine Antwort auf unsere Große Anfrage sehr viel wesentlicher und klarer war als die Ausführungen des Herrn Bundesaußenministers, wohingegen und sonst die Gedanken, die der Herr Bundesaußenminister in der Außenpolitik manchmal vorträgt, auch dann, wenn sie von dem Herrn Bundeskanzler desavouiert werden, oft viel besser gefallen.

    (Erneute Heiterkeit.)

    Ich habe ferner dem Hause ein Kompliment auszusprechen, nämlich dafür, daß diese außenpolitische Debatte zum Unterschied von derjenigen am 5. November nicht in stürmische innerpolitische Auseinandersetzungen abgeglitten ist. Ich will hoffen, daß wir in diesem Sinne die Debatte auch zu Ende führen.
    Eins aber habe ich in dieser ganzen Debatte vermißt: Wir haben alles zu sehr nur vom deutschen Standpunkt aus gesehen. Wir machen uns gar nicht klar, daß wir ja in einer Welt leben und daß wir von der Welt her Unterstützung, Verständnis, Verständnisbereitschaft brauchen. Nur wenn wir uns in die Gedankengänge der übrigen Mächte hineinfinden, haben wir eine Chance, auch in unserer Sache weiterzukommen. Deshalb lassen Sie mich mit zwei Zitaten aus der Welt draußen beginnen, zwar sehr kräftigem Tobak, aber es ist immerhin notwendig, daß auch das im deutschen Volk gehört wird.
    Als der Herr Bundeskanzler im November nach London fuhr, wurde er mit einem Artikel der konservativen Zeitschrift „Spectator" begrüßt, und in diesem Artikel hieß es — ich zitiere nach einer Schweizer Zeitung —:
    Die Zukunft Deutschlands werde wahrscheinlich für den ganzen restlichen Teil dieses Jahrhunderts von Außenstehenden bestimmt werden, und die einzigen, die dies noch nicht wüßten, seien die Deutschen. Die Amerikaner seien entschlossen, unter einer das Gesicht wahrenden Formel die DDR de facto anzuerkennen. Ferner seien sie entschlossen, zuzulassen, daß die Oder-Neiße-Linie zur tatsächlichen polnischostdeutschen Grenze und daß Berlin in eine freie Stadt mit UNO-Beobachtern verwandelt werde. Alles, was Dr. Adenauer noch tun könne, sei, die entsprechenden Verhandlungen solange als möglich hinzuziehen, uni der Öffentlichkeit die Möglichkeit zu geben, sich ans Unvermeidliche zu gewöhnen.
    So die englische Zeitung!
    Dann eine Schweizer Stimme aus der „Tat". Der Pariser Berichterstatter dieser Zeitung gab nach der Dezember-Konferenz ein Resümee über das, was sich dort ergeben hatte. Erster Punkt: Der kalte Krieg ist vorbei. Das wird im einzelnen ausgeführt. Zweiter Punkt: Das französische Problem ist damals ausgeklammert worden. Und der dritte Punkt — der Punkt, der uns angeht —:
    Die deutschen Sorgen — Wiedervereinigung und Berlin — sind Leichen im Schrank geworden, die einen üblen Geruch verbreiten. Aus alter Gewohnheit spricht man noch von diesen Dingen. Aber die Partner der Bundesrepublik verbergen nur noch mit Mühe, daß es ihnen lästig wird, durch die deutschen Sorgen und Wünsche an einer ungestörten Installierung der Entspannung verhindert zu werden.
    Diese Stimmen, auch wenn sie kraß sind, muß man kennen, um sich ein Bild darüber zu machen, wie das Ausland in vielen Fällen denkt.

    (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

    Ich glaube, daß auch im deutschen Volk das Unbehagen, die Sorge vor dem, was kommt, darauf zurückzuführen ist, daß das deutsche Volk instinktiv das ahnt, was im Ausland deutlich ausgesprochen wird. Ich halte es für eine Pflicht deutscher Parlamentarier, halte es aber auch für eine Pflicht der Bundesregierung, dem deutschen Volk in aller Aufrichtigkeit ganz klaren Wein einzuschenken.

    (Beifall bei der FDP.)

    Um was handelt es sich denn? Wir stehen doch praktisch an einem Wendepunkt unserer Außenpolitik und müssen uns darüber klar sein.
    Die erste Feststellung, die wir zu treffen haben, ist die, daß auch unsere Wünsche auf dem Gebiet der Europapolitik, unsere Wünsche nach einer Integration, nach einer bundesstaatlichen Gestaltung nicht erfüllt sind — ich sage: leider! denn ich habe daran geglaubt und daran mitgearbeitet — und im Augenblick unerfüllbar erscheinen. Warum?
    Die englische Politik wird niemals die englische Finanzmacht, die englische Wirtschaftsmacht, die englische Militärmacht irgendeinem Mehrheitsbeschluß in einem Bundesstaat unterwerfen, dem sie selber nicht zuzustimmen wünscht oder zustimmen kann.
    Die französische Regierung wird dasselbe tun. Diejenigen, die im Winter 1952/53 in Paris versucht haben, eine europäische Verfassung zustande zu bringen, in einem Ausschuß, dem auch der heutige Premier Frankreichs, Herr Debré, angehörte, wissen doch, und auch der Herr Bundesaußenminister weiß es, wie die Herren, die heute in Frankreich an der Macht sind, darüber denken. Sie denken nicht daran, in einen Bundesstaat hineinzugehen. Nach ihrer Auffassung ist die nationale Souveränität unteilbar.



    Dr. Becker
    Wir stehen also mit unserem Wunsch, zu einer bundesstaatlichen Vereinigung in Europa zu kommen, und mit unseren Vorstellungen über den Weg dahin zur Zeit vor einer Wand, in einer Sackgasse. Darüber dürfen wir uns nicht hinwegtäuschen. Europäische Bürokratien und Technokratien schießen zwar wie Pilze aus der Erde nach einem warmen Sommerregen; Pilze, die insbesondere dann, wenn ein fruchtbarer Regen hoher Gehälter über diese Technokratien hinweggeht, noch weiter wachsen möchten. Der Bund der Steuerzahler teilte letzthin mit, daß ungefähr 4200 neue Stellen in diesen Technokratien gewünscht werden und besetzt werden sollen. Wir haben in diesen Technokratien nichts mehr zu sagen, weil wir in der Hoffnung, in einem bundesstaatlichen Europa ein Parlament zu haben, das mitreden könnte, für die nationalen Parlamente, darunter auch für unseres, praktisch die Herrschaft in bezug auf die finanziellen Dinge abgegeben haben.
    Das ist der erste Wendepunkt in der Politik, den wir feststellen müssen.
    Der zweite Punkt ist dieser: Die Politik der Stärke — das heißt, die Politik des Glaubens, die Frage der Wiedervereinigung könne unter dem Druck einer starken Machtballung gegen die Sowjetunion gelöst werden — ist zu Ende, sie ist gescheitert.
    Die dritte Feststellung ist: Der Kalte Krieg ist vorbei.
    In ihrem letzten Briefwechsel haben unser Herr Bundeskanzler und Herr Chruschtschow in einem Punkt mindestens übereinstimmende Gedanken zum Ausdruck gebracht, nämlich die Überzeugung, daß ideologische Unterschiede kein Hindernis für die friedliche Zusammenarbeit von Staaten verschiedener Gesellschaftstruktur sein dürften. Aber, meine Damen und Herren, wie lange hat es gedauert, bis es zu diesen Erkenntnissen kam! Und wie lange werden wir noch warten müssen, bis etwa in der Sowjetzone diese Erkenntnis dämmert! Denn sie darf ja dort nicht dämmern; das, was dort zu denken ist, wird vorgeschrieben.
    Ich sprach also von der langen Dauer, bis diese Erkenntnis reifte. Mir liegt ein Auszug aus dem Stenographischen Protokoll unserer Sitzung vom 5. November 1957 vor. Es war die Sitzung, in der die Regierungserklärung der neuen Bundesregierung besprochen wurde. In dieser Debatte hatte der Kollege Ollenhauer gefragt, wie sich die Regierung die Wiedervereinigung konkret vorstelle. Der Herr Bundeskanzler antwortete darauf. Er verwies darauf, daß auch Herr Ollenhauer bei einer Besprechung mit Herrn Pandit Nehru in Neu-Delhi keine konkreten Wege habe aufzeigen können. Dann fügte er hinzu — ich darf wohl vorlesen —:
    Herr Kollege Ollenhauer hat im Verlauf seiner Ausführungen gesagt, er vermisse, daß in der Regierungserklärung konkrete Wege aufgezeigt seden. Ja, meine Damen und Herren,
    — so sagte der Herr Bundeskanzler —in der heutigen Zeit konkrete Wege aufzuzeigen, dazu gehört mehr Phantasie, als ich sie habe. Das muß ich Ihnen ganz ehrlich sagen.
    Gut, ehrliches Eingeständnis, die Regierung weiß keine Wege. Aber wir haben dann allesamt, mit dem Herrn Bundeskanzler an der Spitze, weiter brav und bieder von der kommenden Wiedervereinigung geredet.
    Ich habe dann — ich war damals Vorsitzender der FDP-Fraktion — an sämtliche Fraktionen, an den Herrn Bundeskanzler und an den Herrn Bundesaußenminister, einen Brief mit dem Vorschlag gerichtet, man solle sich mal in einem locker gebildeten Ausschuß, also in einem Ausschuß, in dem nicht der selige de Hondt alles regiert, sondern der Verstand, zusammensetzen, eventuell unter dem Vorsitz des Herrn Bundestagspräsidenten Gerstenmaier, um gemeinsam nach Wegen zu suchen, und zwar doch nunmehr in Kenntnis all der Unterlagen, über die die Regierung auch verfüge, nämlich in Kenntnis der Botschafterberichte, in Kenntnis des Inhalts all der Verhandlungen und dessen, was in den vielen, vielen Konferenzen zutage getreten ist; dann wollten wir gemeinsam beraten, was zu tun wäre.
    Es ist doch schrecklich — .das füge ich jetzt hinzu —, wenn man so oft von Mitgliedern ausländischer Botschaften nach einem Weg der Wiedervereinigung gefragt wird und erwidern muß: „Fragen Sie unsere Regierung, wir wissen nichts weiteres."
    Das wollte ich zu beseitigen versuchen und mich um die Herbeiführung einer einheitlichen Politik bemühen. Ich bekam von der Fraktion der Deutschen Partei prompt eine zustimmende Antwort; ich bedanke mich noch heute dafür. Ich bekam andere Antworten, die mehr ausweichend lauteten.
    Ich hatte ausdrücklich einen besonderen Ausschuß, nicht den Auswärtigen Ausschuß, vorgeschlagen, weil der Herr Bundeskanzler ja immer einwendet: Der Auswärtige Ausschuß ist kein Ausschuß, der dicht hält, da sind mir zuviel Leute, da kann man nicht alles erzählen. — Darum sagte ich mir: Gut, nehmen wir einen anderen Ausschuß. Der Herr Außenminister antwortete auch, schlug nun aber seinerseits im Gegensatz zu der Auffassung des Herrn Bundeskanzlers wieder den Auswärtigen Ausschuß vor.
    Auch der Herr Bundeskanzler antwortete mir. Er schrieb mir, er habe meinen Vorschlag mit Interesse gelesen, er komme demnächst darauf zurück. — Das war im Dezember 1957. Heute haben wir den 10. Februar 1960. Inzwischen hat so etwas stattgefunden, was nach einem Suchen und Tasten nach gemeinsamer Politik aussah. Es fanden, als der Brief Chruschtschows über Berlin eintraf, vom November 1958 bis, sage und schreibe, Februar 1959 vier Besprechungen mit Fraktionsvorsitzenden statt; an zweien teilzunehmen hatte auch ich die Ehre.
    Unter dem Vorsitz des Herrn Bundesministers Lemmer fanden dann gesamtdeutsche Besprechungen statt, die aber nach dem Februar 1959 ebenfalls sanft entschliefen. Als Herr Eisenhower seinen Besuch hier machte, fand weder vorher noch nachher eine Unterrichtung der Fraktionsvorsitzenden über den Inhalt der Besprechungen des Herrn Bundeskanzlers



    Dr. Becker
    mit Präsident Eisenhower statt, obwohl darum ersucht wurde.
    Das ist der Leidensgang einer gemeinsamen deutschen Außenpolitik. Wenn dann noch — vorausgesetzt, daß der Bericht zutrifft — in einer internen Sitzung ein sehr hochstehender Mann eine gemeinsame Außenpolitik einen „faulen Zauber" nennt, wissen wir Bescheid.
    Aber ich habe nun doch eine Antwort bekommen, und zwar heute. Der Bundeskanzler hat, zwar in anderem Zusammenhang, gesagt, man dürfe die Geduld nicht verlieren. Ich nehme an, daß das die Ergänzung zu dem Brief vom Dezember 1957 ist.

    (Heiterkeit und Zurufe.)

    Zu einer gemeinsamen Außenpolitik gehört zweierlei: erstens muß überhaupt eine Politik vorhanden sein. Zweitens muß man versuchen, die politische Meinung, die sich in dieser Politik manifestiert, zum Gemeingut werden zu lassen. Deshalb haben wir die Regierung auch gefragt, was ihre Politik sei.
    Ich habe vorhin schon gesagt: die Auskunft des Herrn Bundesaußenministers ist zwar etwas polemisch zugespitzt gewesen; die Polemik ist aber mißlungen. Sehr verehrter Herr Außenminister, Sie haben davon gesprochen, daß wir in Ziffer 2 unserer Großen Anfrage hinsichtlich des Zieles der deutschen Außenpolitik — Ziel ist Berlin, Ziel ist die Wiedervereinigung, Ziel sind die Ostgrenzen — eine Alternative von Ihnen hören wollen. Nein! Lesen Sie bitte die Ziffer 2 einmal genau. Es heißt dort:
    Welche politische Alternative ... sieht der Herr Bundeskanzler nach der durch den Herrn Bundesaußenminister getroffenen Feststellung, daß die bisherigen Vorstellungen des Herrn Bundeskanzlers über eine Lösung der Deutschlandfrage am Widerstand der Sowjetunion gescheitert seien?
    Wir haben also gefragt, ob eine Eventuallösung hinsichtlich der Methode des Vorgehens vorliege. Der Herr Bundesaußenminister hat dazu geschwiegen. Ich möchte ihn im Außenpolitischen Ausschuß einmal fragen, ob überhaupt eine solche Eventuallösung vorliegt. Jede Regierung muß für jede Situation, die es gibt, nicht nur eine Lösung im Auge haben, sondern sie muß, wenn sich andere Eventualitäten bieten oder die Geschichte andersherum geht, auch wieder eine Eventualstellungnahme zur Verfügung haben.
    Die richtige Antwort hat der Herr Bundeskanzler gegeben. Der Herr Bundesaußenminister meinte, die Sowjetunion wolle nicht, sie verstecke sich hinter Zuständigkeitsbedenken und dergleichen; deshalb habe es gar keinen Zweck — so klang es wenigstens —, noch weiter vorzugehen. Demgegenüber sagt der Herr Bundeskanzler — was er sagte, rührt vielleicht daher, daß man im Alter, in dem wir beide nicht weit auseinanderliegen, etwas ruhiger denkt —, man solle sich durch ein solches Nein nicht zu sehr beeindrucken lassen, man solle nicht die Geduld verlieren; in diesem Zusammenhang hat er das, was ich vorhin erwähnt habe, hinsichtlich der Geduld gesagt.
    Was er gesagt hat, ist sicherlich richtig. Wenn man mit Orientalen verhandelt, dann dauert die Verhandlung lange und dann darf man die Geduld nicht verlieren. Man muß für alle Wege, die es gibt, gewisse Eventualitäten der Methode — nicht des Zieles — zur Verfügung haben.
    Im einzelnen wären jetzt noch weitere Fragen ,anzuknüpfen. Im Interesse unserer Außenpolitik möchte ich deren Beantwortung heute und hier nicht verlangen. Ich möchte aber dringend bitten, daß der Auswärtige Ausschuß sehr viel mehr aktiviert wird, als es bisher der Fall gewesen ist. Die Verhältnisse sind in den letzten eineinhalb Jahren — das gebe ich dem Herrn Außenminister und dem Vorsitzen- den des Ausschusses zu — besser geworden als vorher, als der Herr Bundeskanzler uns noch öfters besuchte und dann immer, weil Herr Dulles telefonierte oder irgend jemand zu Besuch kam, schleunigst wieder weggehen mußte. Die Verhältnisse sind auch insofern anders geworden, als jetzt von dem, was wir unter dem Siegel „vertraulich und streng geheim" zu hören bekommen, jetzt mindestens 10 % neu sind, während wir das übrige — wie schon früher — längst in der ausländischen Presse gelesen hatten.
    Ferner wäre der Wunsch zu äußern — er klang auch in den Ausführungen des Herrn Kollegen Erler durch —, daß das Auswärtige Amt nicht gleich zu jedem Ereignis in der Außenpolitik Stellung nimmt. Es gibt viele Dinge, die uns zunächst einmal direkt nichts angehen. Dann sollte man schweigen getreu dem alten Grundsatz: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Ich bitte, es nicht als Tadel oder als ungebührlich aufzufassen, wenn ich hinzusetze: und manches Geschwätz ist sogar Blech. Das Auswärtige Amt hat es doch eigentlich furchtbar einfach. Wenn Fragen gestellt werden, deren Beantwortung nicht unbedingt nötig ist, kann der „Sprecher des Auswärtigen Amtes" einfach sagen: Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts. Es kommt nämlich zunächst einmal auf die Stellungnahme der großen Mächte an. Das haben wir ja gelernt: Als England und Frankreich den Krieg am Suezkanal beginnen wollten — sie waren drei bis vier Tage auf dem Weg in den Orlog —, kam, ohne daß eine Verständigung zwischen den USA und der Sowjetunion vorgelegen hätte, aber auf Grund einer inneren Übereinstimmung zwischen beiden, ein Einspruch, der England und Frankreich zur Rückkehr veranlaßte. Es wird nichts in der Politik möglich sein, wenn man nicht die Zustimmung einer der beiden großen Mächte erreichen kann.
    Das große Problem, das vor uns steht, besteht darin: Wird es unserer deutschen Politik möglich sein, sich in die Entspannungspolitik so einzufügen, daß im Rahmen der gesamten Entspannungspolitik die deutsche Frage ungeteilt gelöst werden kann?
    Wir müssen uns darüber klar sein, daß die anderen Mächte auch ihre Sorgen haben: die große Frage der Abrüstung, die Teilung von Korea und Vietnam, die Probleme Formosa und Laos, das neue welt- und machtpolitische Dreieck in Asien: Moskau—Peking—New Delhi, Sowjetunion—ChinaHindustan, dann der Komplex der Politik der ara-



    Dr. Becker
    bischen Staaten, das Erwachen Afrikas, die Frage der Hilfe an die minderentwickelten Völker und die Bekämpfung des Hungers in der Welt. Das sind die großen Probleme. In diesen Rahmen kann dann die deutsche Frage hineingestellt werden.
    Der sowjetische Vorschlag über die Abrüstung wird von uns begrüßt, und wir sind bereit, daran mitzuarbeiten. Wir erinnern uns, daß schon einmal ein Vorschlag auf Abrüstung von russischer Seite kam. Das war 1897. Er führte zwar nicht zur Abrüstung, aber er führte immerhin 1897 zur Haager Schiedsgerichtsordnung, und das war für die damalige Zeit schon ein großer Fortschritt auf dem Weg zum Frieden. Er führte in der zweiten Haager Konferenz von 1907 zur Haager Landkriegsordnung, so daß die Initiative der russischen Seite dann zu diesen wirklich sehr guten, zwar nicht den Frieden garantierenden, aber die Schrecknisse des Krieges vermindernden Vereinbarungen geführt hat.
    Die Teilungen von Staaten — Vietnam, Korea, Deutschland, Europa — sind doch nur Verlegenheitslösungen, wobei das Wort „Verlegenheit" groß und das Wort „Lösung" ganz klein zu schreiben ist. Die, die solche „Lösungen" finden, sind vielleicht Politiker, aber weiß Gott keine Staatsmänner. Ein Staatsmann läßt keine Brandherde bestehen; er stiftet keine neuen Krisenherde. Ein Staatsmann fügt zusammen, was zusammen gehört; dann ist er erst ein Staatsmann.

    (Beifall bei der FDP.)

    Wir begrüßen die neuen Staaten, die sich in Afrika bilden. Wir hoffen, daß wir auch zu den Staaten Osteuropas in gute nachbarliche Beziehungen treten, und ich möchte den Wunsch aussprechen, daß die viel besprochene Hallstein-Doktrin sehr bald von uns aus unauffällig, aber bestimmt im Meer der Vergessenheit versenkt wird.

    (Zustimmung links.)

    Bei der Hilfe an die unterentwickelten Völker und auch bei der Bekämpfung des Hungers machen wir Deutsche selbstverständlich mit. Ich darf in dem Zusammenhang die große Öffentlichkeit nur daran erinnern, daß der Herr Bundespräsident Lübke selbst zu wiederholten Malen diesen Gedanken kräftig unterstrichen und die Bereitschaft Deutschlands zur Mitwirkung ausgesprochen hat. Wir schließen uns dem an.
    In dieses ganze Bukett, das die Auslandsmächte interessiert, kommt nun unsere deutsche Frage, und wir haben die Aufgabe, bei dieser Entspannung mitzumachen, absolut, nach jeder Richtung, damit nicht der Verdacht aufkommt, wir wollten uns querlegen. Andernfalls isolieren wir uns nach allen Seiten hin. Nach meiner Ansicht kann die Berliner Frage, die Frage der Wiedervereinigung, die Frage der Ostgrenzen nur einheitlich gelöst werden.
    Zunächst zu Berlin. Ich möchte der Behauptung der DDR entgegentreten, Berlin liege auf dem Terriforlom dieser Ostzonenregierung. Das ist einfach nicht wahr. Berlin, nicht nur West-Berlin, sondern auch der Ostsektor von Berlin bilden ein Territorium für sich, geschaffen durch das Potsdamer Abkommen, bestätigt durch das Abkommen nach dem Abbruch der Blockade Berlins. Daran müssen wir festhalten. Wenn der Osten von dem Rechtsstandpunkt ausgeht, daß West-Berlin allein geändert werden müsse, dann muß er konsequenterweise auch von dem Ostsektor Berlins reden.
    Herr Chruschtschow sagt: Die Situation von Berlin ist anomal. Er hat recht; sie ist anomal. Der Präsident Eisenhower sagt: Die Situation Berlins ist in der Tat anomal. Auch er hat recht; sie ist anomal. Was folgt daraus? — Daraus folgt, daß man eine normale Situation schaffen muß, daß man aber nicht nach Zwischenlösungen suchen darf, die doch immer wieder nur anomal sein werden. Es gibt nur eine normale Lösung für Berlin: Berlin ist die Hauptstadt Deutschlands, und die Hauptstadt muß immer inmitten des Territoriums liegen, zu dem sie gehört.
    Das ist eine Selbstverständlichkeit. Fragen Sie doch einmal einen Sowjetbürger, ob die Sowjetunion noch die Sowjetunion wäre, wenn Moskau nicht mehr die Hauptstadt wäre, wenn sie nicht mehr existierte. Fragen Sie einmal einen Franzosen, ob er zur Zeit der Vichy-Regierung Vichy als seine Hauptstadt angesehen hat oder ob Frankreich nicht vielmehr deshalb Frankreich ist, weil es Paris zur Hauptstadt hat. Denken Sie an Italien! Als 1870 Rom die Hauptstadt wurde, da wurde überhaupt erst Italien. Wenn Sie heute einem Land die Hauptstadt nehmen, dann ist das Land als solches nicht mehr da. Deshalb ist nach unserer Auffassung die Lösung der Berlin-Frage klar und eindeutig mit der Lösung der Wiedervereinigungsfrage verbunden. Wir haben Bedenken, die Berlin-Frage allein zur Debatte zu stellen, weil dadurch die Frage der Wiedervereinigung und die Frage der Ostgrenzen gewissermaßen aufgeschoben, aufgehoben oder in die zweite Linie gesetzt würde.
    In einem nach der Italienreise des Herrn Bundeskanzlers herausgegebenen Kommuniqué ist von einer Abstimmung in Berlin die Rede gewesen. Wir haben heute aus dem Munde des Herrn Bundeskanzlers gehört, was Herr Chruschtschow auf eine direkt von italienischer Seite gestellte Frage geantwortet hat. Mir ist die Antwort des Herrn Chruschtschow vorher noch nicht bekanntgewesen; aber ich möchte dazu folgendes für mich und meine Freunde sagen: An der Stimmung der Berliner haben wir nicht den geringsten Zweifel; sie ist allein schon zur Zeit der Blockade derart klar und eindeutig und für alle Welt vernehmlich zum Ausdruck gekommen, daß darüber nicht debattiert zu werden braucht. Aber ich wehre mich gegen den Gedanken, ein Land wie Deutschland als Ganzes zu zerstückeln und nun innerhalb der einzelnen Stücke abstimmen zu lassen. Das Selbstbestimmungsrecht hat zur Voraussetzung, daß das Volk als Ganzes darüber abstimmt.

    (Beifall bei der FDP und in der Mitte.)

    Noch ein Wort: Es darf nicht der Eindruck entstehen, als ob wir uns — und ich meine damit sowohl die Bundesregierung als auch das Parlament — durch die Einschiebung einer Volksabstimmung von unserer Verantwortung in irgendeinem Punkt drücken wollten.



    Dr. Becker
    Nun zu den Ostgebieten. Schauen Sie bitte einmal auf die Karte. Das Zentrum des alten Preußens, die Provinz Mark Brandenburg, liegt noch mit einem nicht unwesentlichen Teil östlich der Oder. Wissen das die Westmächte? Wissen die Westmächte, daß die großen Gebietsteile im Osten 600, 800 Jahre deutsch gewesen sind? Wissen sie, daß es in Europa Gegenden gibt, die jahrhundertelang deutsch waren, aber 180 Jahre einem anderen Land gehörten und jetzt wegen der Zugehörigkeit von 180 Jahren dem anderen Land gehören? Ich rede vom Elsaß. Wir stellen diese Frage nicht mehr zur Debatte. Aber wir bitten doch, daß unsere französischen Freunde und Nachbarn, wenn sie über die Frage der Ostgebiete sprechen, denselben Maßstab, den sie bei der 180jährigen Zugehörigkeit zu Frankreich mit Zustimmung vieler anderer Staaten angelegt haben, nun auch bei den Ostgebieten, die 600 und 800 Jahre zu Deutschland gehörten, anlegen.

    (Beifall bei der FDP.)

    Im Jahre 1947 hat der Staatsekretär der USA Byrnes in Stuttgart eine Rede gehalten, in der er davon gesprochen hat, daß sich eine Lösung mit einer neuen Grenze zwischen Polen und Deutschland denken ließe, die östlich der Oder-Neiße-Linie verliefe, also etwa so, daß noch Gebiete von Pommern und der Mark Brandenburg sowie Teile von Niederschlesien mit zu Restdeutschland geschlagen würden. Ich nehme an, Herr Staatssekretär Byrnes war damals der Auffassung, daß sich das auch bei aller Anerkennung polnischer Wünsche vertreten lasse mit dem Ziel, ein gutes Verhältnis zwischen dem deutschen und dem polnischen Volk herzustellen. Ich habe deshalb an die USA die Frage zu richten: Stehen die USA heute noch zu dem Wort von 1947? Wenn das damals wahr war, ist es auch heute noch richtig.
    Eine Gipfelkonferenz steht vor uns. Herr Macmillan hat erklärt, daß mehrere Gipfelkonferenzen die Folge sein würden. Das ist mir auch völlig klar. Als die Napoleonische Zeit vorbei war, bedurfte es einer großen Konferenz, des Wiener Kongresses. Ich bin überzeugt, daß, wenn die Lösung der Probleme, die wir soeben aufzuzeigen versucht haben, gelingen soll, eine ganze Reihe von Gipfelkonferenzen und zwischengeschalteten Außenministerkonferenzen nötig werden, so daß die Entwicklung im ganzen, in ihrer weltpolitischen Bedeutung gesehen, auf das hinauslaufen könnte, was einst im Wiener Kongreß geschehen ist.
    Was ist im Wiener Kongreß geschehen? Damals war das Zeitalter der Napoleonischen Weltkriege vorüber. Damals ist niemandem eingefallen, die Franzosen, weil Napoleon sie in den Krieg geführt hatte, zu Militaristen zu erklären und damit eine Zerstückelung Frankreichs zu begründen. Im Gegenteil, man war sehr weitsichtig und weitschauend. Talleyrand, von Napoleons Gnaden Fürst von Benevent, kam als Vertreter Frankreichs zum Wiener Kongreß und wurde zugelassen. Kein Mensch dachte daran, Frankreich zu zerstückeln. Frankreich blieb in seinen alten Grenzen bestehen. Es gelang den Staatsmännern von damals, wenn auch nach manchen verschlungenen Wegen in Verhandlungen, zu einem Ergebnis zu kommen, das immerhin für 100 Jahre, nämlich von 1815 bis 1914, den Weltfrieden erhalten hat. Die kleinen Kriege — deutschfranzösischer Krieg, französisch-österreichischer Krieg, russisch-türkischer Krieg usw. — zählen nicht. Erst 1914 begannen wieder die welterschütternden Kriege.
    Heute behauptet man, wir seien Militaristen. Man soll das mit dem Maßstab messen, mit dem der Wiener Kongreß die damalige Situation weitsichtig und weitschauend gemessen hat. Wenn man das nicht tut, wenn man mit unserem angeblichen Militarismus die Notwendigkeit unserer Zerstückelung begründen will, schlagen sich die Herren im Westen und im Osten selber ins Gesicht; denn beide haben uns bewaffnet, der Osten die Sowjetzone, und der Westen hat unsere Mitwirkung bei seiner Verteidigung gewünscht. Also ist der angebliche Militarismus der Deutschen keine Begründung für die Zerstückelung Deutschlands. Man sollte weitsichtig sein.
    Daß wir als Militaristen besonders kriegslüstern gewesen seien — diese Ansicht darf ich auch einmal erwähnen, um sie zu verneinen. Mit den angelsächsischen Mächten, mit dem Vereinigten Königreich und mit den Vereinigten Staaten von Amerika, hat Deutschland, abgesehen von den beiden letzten Kriegen, überhaupt keinen Krieg geführt. Der erste Weltkrieg von 1914 ist der Krieg, in den nach dem Wort von Lloyd George alle Welt hineingeschlittert ist. Der zweite Weltkrieg ist der, den Hitler verursacht hat und verursachen konnte, weil er die Macht über uns hatte und weil diejenigen, die Schwertträger waren, nicht die Entscheidung fanden, ihm in den Weg zu treten. Aber wenn Sie in die Zeit vor 1914 zurückgehen, so werden Sie finden, daß wir mit den angelsächsischen Mächten niemals Krieg gehabt haben. Und wenn Sie, nach Osten schauend, in die gleiche Zeit zurückgehen, werden Sie finden, daß zurück bis zum Siebenjährigen Krieg wir, d. h. die Preußen und Deutschen mit Rußland keinen Krieg geführt haben. Im Gegenteil, wir entsinnen uns sehr genau — und das dürfte von Interesse sein, wenn etwa die Sowjetunion die Politik verfolgen sollte, ihre Westflanke in besonderer Weise zu schützen daß während des Krimkrieges die Neutralität Preußens und Deutschlands die Westflanke Rußlands gesichert hat. Wir entsinnen uns, daß Bismarck Ende der 80er Jahre durch den Rückversicherungsvertrag mit Rußland dafür gesorgt hatte, daß aus dem deutsch-österreichischen Bündnis in Verbindung mit den Balkanwirren kein Krieg auf dem Balkan entstehen konnte. Wir entsinnen uns, daß im russisch-japanischen Krieg 1903/04 der Westen, Deutschland, die Neutralität gehalten hat.
    Wir erinnern uns auch daran, daß die Weimarer Republik, als sie 1925 durch die Locarnoverträge — ich hätte beinahe gesagt: in der Außenpolitik wieder salonfähig gemacht hat — mit dem Westen und dem Völkerbund eine Verbindung einging, sofort ihrerseits unter Stresemann 1926 in dem Berliner Vertrag die Versicherung an Rußland gab: ein Durchmarsch von Truppen des Völkerbundes durch Deutschland gegen den Osten komme nur dann in Frage, wenn nach dem selbständigen Entscheid der deutschen Regierung eine Angriffsaktion von sei-



    Dr. Becker
    ten des Ostens vorliege und ein Vertrag bestehe, der für den Fall eines unprovozierten Angriffs auf den einen oder andern beiderseitige Neutralität vorsehe. Es ist mir aufgefallen, daß, als Herr Mikojan im Frühling 1958 der Bundesrepublik einen Besuch machte, die Sowjetbotschaft in ihrer Zeitschrift einen Artikel gerade über diesen Vertrag veröffentlicht hat.
    Ja, so ändern sich die Zeiten, aber die Grundideen bleiben. Wer die Welt beruhigen will, der muß alle Probleme zu lösen versuchen. Wer die Abrüstung will — und wir wollen sie mit —, der muß gleichzeitig, damit die Abrüstung nicht zu neuem Mißtrauen führt, damit sie nicht mißbraucht oder umgangen wird, dafür sorgen, daß alle Krisenherde in der Welt beseitigt werden.
    Die Welt steht vor der Frage, ob es Staatsmänner gibt, die die Zeichen der Zeit erkennen, ob die Herren Chruschtschow und Eisenhower einmal als Staatsmänner oder nur als Politiker in das Buch der Geschichte eingehen. Sie kennen den Unterschied zwischen dem Politiker und dem Staatsmann. Der Politiker schaut nur bis zu den nächsten Wahlen. Ich will von 1961 nicht sprechen. Aber ich denke z. B. an gewisse Präsidentenwahlen, und ich denke an Sitzungen im Obersten Sowjet. Der Staatsmann schaut über alles das hinaus, sieht die Probleme, wie sie sind, und blickt über die Wahlzeiten hinaus auf die kommende Generationen. Deshalb wird derjenige, der nur Politiker ist, der nur Korea, Vietnam, Deutschland, Europa teilen kann und Verlegenheitslösungen schafft, vielleicht ein paar Schlagzeilen in der Zeitung bekommen, aber in das Buch der Geschichte geht er bestimmt nicht ein.

    (Beifall bei der FDP und bei einzelnen Abgeordneten in der Mitte.)