Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Bundeswirtschaftsminister wird nicht erwartet haben, daß auf seinen unfairen Angriff, auch nachdem er nach seinem Auftritt den Saal verlassen hat, nicht mehr geantwortet werden würde.
Lassen Sie mich zunächst drei Feststellungen treffen, die mir für das Auftreten des Herrn Bundeswirtschaftsministers bemerkenswert erscheinen.
Der Herr Bundesernährungsminister hatte am Schluß seiner Rede dem Redner der sozialdemokratischen Fraktion bestätigt, daß er die Große Anfrage in ausgesprochen sachlicher und fairer Weise begründet habe. Diese Worte waren noch nicht ganz verklungen, als der Herr Bundeswirtschaftsminister auf die Bühne trat und uns ein Beispiel an Unfairneß und Maßlosigkeit gab, das in eklatantem Widerspruch zu dieser Feststellung seines Ministerkollegen stand.
Er hat sich nicht gescheut, obwohl er weiß, wie die Preisentwicklung ist, davon zu sprechen, hier werde eine Debatte „inszeniert".
Meine Damen und Herren, eine zweite Feststellung: Der Herr Bundeswirtschaftsminister hat nach dieser Intervention a tempo das Haus verlassen. Das ist eine Mißachtung des Parlaments
und zugleich eine Mißachtung aller derer, die sowohl durch die Preiserhöhungen als auch durch seine Ausführungen sehr betroffen werden.
Und eine dritte Bemerkung. Der Herr Bundeswirtschaftsminister hat wieder versucht, seine einseitigen Angriffe zu tarnen und so zu tun, als handele es sich um wohlmeinende Ratschläge an alle Seiten. Er hat sich selber gleich Lügen gestraft, indem er von der Straße sprach, indem er sagte, die Preiserhöhungen seien keine Gefahr. Damit hat er die Verbraucher, die diese Preiserhöhungen zu bezahlen haben, verhöhnt. Er hat gesagt, die kommenden Löhne seien das kritische Element. Damit diffamierte er jene Arbeitnehmer, die nunmehr versuchen müssen, die Entwertung der Mark durch erhöhte Löhne wieder wettzumachen.
Außerdem muß ich den Herrn Bundeswirtschaftsminister richtigstellen. Er muß wissen, daß die Lohnforderung der ÖTV nicht auf 20 %, sondern auf 15 % geht; er muß wissen, daß die letzte Lohnerhöhung im Jahre 1957 stattfand, also drei Jahre zurückliegt; er muß wissen, daß es sich darum handelte, den Arbeiter am Produktivitätsfortschritt und am Aufschwung der Wirtschaft für diese drei Jahre zu beteiligen. Schließlich weiß der Herr Bundeswirtschaftsminister, daß wir auf dem Arbeitsmarkt Tarifautonomie mit Verhandlungen haben und daß es sich hier um Forderungen handelt. Was würden Sie sagen, wenn ich hier behauptete, die Arbeitgeber wollten keinen Pfennig geben, es drohe also die Auspowerung der Arbeitnehmerschaft. Das wäre die gleiche Methode, die der Herr Bundeswirtschaftsminister hier angewandt hat.
Denn natürlich weiß man aus der Erfahrung, daß das Endergebnis etwa um die Mitte zwischen Angebot und Nachfrage liegen wird. Ein Marktwirtschaftler sollte das verstehen.
5210 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 94. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Dezember 1959
Dr. Deist
Dann möchte ich aber ein Zitat verlesen, das zugleich die Unaufrichtigkeit der Argumentation des Herrn Bundeswirtschaftsministers offenlegt. Wir lesen in den Vorbemerkungen zum Entwurf des Bundeshaushaltsplans 1960 auf Seite 13 unter dem Kapitel Löhne:
Das Tariflohnniveau der Arbeiter und Angestellten nahm in der ersten Jahreshälfte 1959 gegenüber dem Vorjahre um 5 v. H. zu. Obwohl für fast 8 Millionen Beschäftigte neue Tarifverträge abgeschlossen wurden, blieben die Aufbesserungen in ihrem Ausmaß hinter den tariflichen Lohnerhöhungen des Vorjahres von etwa 6 v. H. zurück.
Und der Herr Bundesarbeitsminister hat in seinem Bericht zur Lohnsituation zum 30. Oktober — wenn ich nicht irre; ich bitte, mich auf das Datum nicht festzulegen, entweder September oder Oktober — gesagt:
Insgesamt ist hiernach anzunehmen, daß die
Steigerung der Löhne durch neue Tarifverträge im Jahre 1959 geringer sein wird als in
den Vorjahren, und die geringste seit 1954.
Meine Damen und Herren, wenn das Lohnklima so ruhig ist, d. h. wenn die Lohnentwicklung im laufenden Jahre hinter der wirtschaftlichen Entwicklung zurückgeblieben ist, wie kann der Bundeswirtschaftsminister es wagen, solche diffamierenden Worte gegen diese selbe Arbeiterschaft zu richten?
Die Unaufrichtigkeit — und ich kann das nicht
anders nennen — ergibt sich auch aus Ausführungen des Herrn Bundeswirtschaftsministers in der Kurzfassung seines Wirtschaftsberichts vom 28. November 1959. Die Druckerschwärze ist noch keine drei Wochen trocken. Dieser Bericht spricht davon, daß man eine lebhaftere Tendenz in der Verbrauchsentwicklung feststelle, und er stellt fest, „die Verbrauchsentwicklung sei nicht etwa die Folge einer stärkeren Aufwärtsentwicklung der Masseneinkommen, die im Gegenteil hinter der im Vorjahr zurückgeblieben ist", sie sei vielmehr überwiegend eine Folge der Preissteigerungen. Meine Damen und Herren, ,das stellt der Herr Bundeswirtschaftsminister fest: Wir haben Verbrauchssteigerungen nicht wegen der Entwicklung der Löhne, die zurückgeblieben sind, sondern wegen der Preissteigerungen, um die es hier heute geht.
In demselben Monatsbericht sagt der Herr Bundeswirtschaftsminister auf Seite 6:
Im dritten Quartal lag das Produktionsergebnis der Industrie je Arbeiterstunde um 7,7 %, im Vorquartal allerdings um 10,4 % über den jeweils entsprechenden Vorjahresziffern.
Also eine ungeheure Steigerung der Produktivität.
Und weiter heißt es:
Die Zuwachsraten für den Lohn je Arbeiter-
stunde lauten für die gleichen Zeiträume 5,5 % — das ist etwa die Hälfte der Produktivitätssteigerung —
und 3,8 %,
— das ist etwas weniger als die Hälfte —
was einen wichtigen Hinweis für die Beurteilung der Preisentwicklung in der Industrie liefert.
Meinen Sie, meine Damen und Herren, daß ein Bundeswirtschaftsminister, der das sachlich feststellen muß, berechtigt ist, so unfaire Angriffe gegen die Lohnpolitik der Gewerkschaften zu führen?
Um die Ausführungen des Herrn Bundeswirtschaftsministers zutreffend zu charakterisieren, eine weitere Ausführung aus seinem eigenen Monatsbericht. Er weiß ganz genau, daß wir nicht nur Preissteigerungen im Ernährungssektor haben, sondern daß leider auch im industriellen Sektor Preissteigerungstendenzen vorhanden sind;
er weiß auch — vielleicht lesen Sie einmal den Bericht des Herrn Bundeswirtschaftsministers —, daß z. B. in der Textilindustrie oder Verbrauchsgüterindustrie innerhalb von sechs bis sieben Monaten eine Preissteigerung zwischen 1 1/2 und 2 % stattgefunden hat.
Sie können doch nicht fragen, „Wo?", wenn das in allen statistischen Darlegungen festgelegt ist.
Meine Damen und Herren, der Bundeswirtschaftsminister weiß, daß diese Preissteigerungen in erster Linie auf die marktbeherrschende Stellung von Großunternehmungen zurückzuführen sind, die einfach nicht bereit sind, den Produktivitätsfortschritt und die dadurch eintretende Kostensenkung weiterzugeben, sondern die auf Grund ihrer Marktstellung ihre Preise halten wollen.
Da wir heute, wie alle Stellen — Bundesbank und Bundeswirtschaftsminister — feststellen, ein geradezu hektisches, unvernünftiges Verhalten der Industrie zu verzeichnen haben, ergibt sich folgende paradoxe Situation. Wir haben eine geringe Steigerung der Masseneinkommen, eine noch geringere Steigerung der Verbrauchernachfragen, aber geradezu unvernünftige Bestellungen des Handels, der Verbrauchsgüterindustrie und der Investitionsgüterindustrie. Durch dieses unvernünftige Unternehmerverhalten tritt eine Marktsituation ein, in der die marktbeherrschenden Unternehmungen ihre Marktstellung ausnutzen können, während wir eine schwache Nachfrage der Verbraucher haben.
Dazu sagt der Herr Bundeswirtschaftsminister, der I das weiß:
Durch die Lockerung des Konkurrenzdrucks werden Preissenkungen selbst in den Bereichen verhindert, in denen der Produktivitätsfortschritt außerordentlich groß ist und durch höhere Lohnkcsten keinesfalls voll aufgezehrt wird.
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Dr. Deist
Dann folgt:
Neben solchen „verborgenen" Preiserhöhungen sind in wichtigen Bereichen Preissteigerungen schon klar sichtbar geworden.
Er spricht, Herr Kollege Atzenroth, von der traditionellen Verbrauchsgüterindustrie: „letztere hat ihre Preise seit April um 2,2 % heraufgesetzt." Er fährt fort:
Auch im Oktober setzte sich hier der Preisanstieg fort. Hinzu trat im Berichtsmonat eine merkliche Verteuerung des Angebots der Nahrungsmittelindustrie.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn der Herr Bundesminister für Wirtschaft diesen steigenden Trend feststellt — es handelt sich nicht um einen Monat, den sich irgend jemand unbilligerweise ausgesucht hat —, woher nimmt er dann das Recht, zu sagen: „An den Preisen liegt es nicht"?
Ich darf mit Genehmigung des Herrn Präsidenten ein Stück weiter zitieren, weil es mir wichtig erscheint, dem Herrn Bundeswirtschaftsminister zu sagen, daß sich ein Parlament nicht gefallen lassen kann, daß er innerhalb von drei Wochen so widersprechende Äußerungen von sich gibt:
Beim Verbraucher sind die Preiserhöhungen von den landwirtschaftlichen Erzeugermärkten her bereits deutlich angekommen.
Und der Herr Bundeswirtschaftsminister fährt fort — nicht wir bringen das hier vor, um eine Debatte zu „inszenieren" —:
Im ganzen haben sich die Kosten für Ernährung binnen Jahresfrist um 6,6 % erhöht. Da außerdem im Vergleich zum Vorjahr bei den meisten anderen Ausgabegruppen, vor allem bei Wohnung und Bekleidung sowie bei verschiedenen Dienstleistungen, die Preise gestiegen sind, während nur Getränke und Hausrat im Preis nachgegeben haben, weist der Preisindex für die Lebenshaltung gegenüber Oktober 1958 eine Erhöhung um 3,7 % auf.
Er sagt dann, daß es sich hier um eine „nicht unerhebliche Verteuerung der allgemeinen Lebenshaltung" handle, von der vornehmlich solche Bevölkerungskreise betroffen werden, deren Einkommen wie das der oben erwähnten Index-Familie fast zur Hälfte für Nahrungsmittel ausgegeben wird.
- Ich diskutiere mit Ihnen nur darüber, ob ein Bundeswirtschaftsminister, der ja wohl seine eigenen statistischen Feststellungen kennen muß, hier in der Form auftreten darf, wie es geschehen ist.
Meine Damen und Herren, der Herr Bundeswirtschaftsminister hat sich nicht gescheut, darauf hinzuweisen, daß in den ersten zehn Monaten des Jahres 1959 das Preisniveau gegenüber den ersten
zehn Monaten 1958 nur um rund 1 % gestiegen ist. Er hat zweifellos recht. Nur, meine Damen und Herren, ist denn die Bundesregierung eigentlich lediglich dann in der Lage, ein einigermaßen stabiles Preisniveau zu sichern, wenn sich krisenhafte Erscheinungen in der Wirtschaft zeigen, wie das Ende 1958 und im ersten Halbjahr 1959 der Fall gewesen ist? Ich erinnere an die Stagnation bei der Kohle, in der Stahlindustrie und in der ganzen Konsumgüterindustrie. Ist es so, daß diese Bundesregierung immer ein bißchen Krise braucht, damit die Preise nicht steigen, weil sie sonst keine Möglichkeit sieht, Preiserhöhungen zu verhindern?
Es kommt auf den langfristigen Preistrend an, nicht auf die Entwicklung innerhalb von acht oder zehn Monaten. Wir haben von 1950 bis 1954 eine Konjunkturaufschwungsperiode gehabt. In dieser Periode ist das Lebenshaltungskostenniveau um 8 % gestiegen. Wir haben eine zweite Periode von 1954 bis 1958 gehabt. In dieser Zeit ist das Lebenshaltungskostenniveau um 10 % gestiegen. Das ist eine regelmäßige Aufweichung der Kaufkraft der D-Mark um jährlich 2 bis 2 1/2 %. Wenn man angesichts dessen so spricht, wie das der Herr Bundeswirtschaftsminister getan hat, dann ist das eine Verhöhnung des Verbrauchers, der die Kosten dieser Preiserhöhungen zu tragen hat.
Ich frage mich, wie es eigentlich der Herr Bundeswirtschaftsminister wagen kann, die Dinge so darzustellen, als seien die Preiserhöhungen nicht wichtig zu nehmen, und damit eine so verbraucherfeindliche Haltung zu offenbaren. Wie kommt er dazu, solche Ausfälle zu machen, wie sie hier beinahe haßerfüllt hervorgequollen sind?
Vielleicht sollte man auch in seinen Ausführungen maßhalten.
Ich habe mich gefragt, wie der Minister diese einseitige Frontstellung gegen Verbraucher und Arbeitnehmer, wie sie ganz unverkennbar aus seinen Äußerungen herauszuhören war, einnehmen kann. Da fiel mir ein, daß ich in den „Monatsblättern für freiheitliche Wirtschaftspolitik", herausgegeben von Herrn Volkmar Muthesius, der Ihnen und dem Bundeswirtschaftsminister ja nicht ganz fern steht, eine Randnote von Herrn Muthesius — ich will vorsichtig sein: ich nehme an, daß sie von ihm ist; sie ist ohne Namensnennung wiedergegeben — gelesen habe, in der es heißt:
Die Interessen der Produzenten setzen sich
leichter durch als die der Konsumenten. Die
letzteren begehren nicht auf, wenn ihnen ir-
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Dr. Deist
gendwo ein paar Mark mehr abgezwackt werden, weil es sich für sie nicht lohnt. Bei den Produzenten dagegen sind die paar Mark —auf jedes Erzeugnis! Sie summieren sich also — ein so großer Einkommenszuwachs, daß sich eine entsprechende politische Kampagne gut auszahlt.
So leuchtet Herr Volkmar Muthesius in die Hintergründe Ihrer Politik:
Daß Sie glauben eine Politik treiben zu können, die den Konsumenten belastet, weil er sich nicht in einer Weise wehren kann, die sich gut auszahlt. Es ist eine abgrundtiefe Haltung, die hier zum Ausdruck kommt.
Nach dem, was der Herr Bundeswirtschaftsminister ausgeführt hat, darf ich — mit Genehmigung des Herrn Präsidenten — auch noch einige Ausführungen zitieren, die der Herr Präsident der Deutschen Bundesbank aus Anlaß der Diskonterhöhung gemacht hat. Ich wäre dankbar, wenn der Herr Bundeswirtschaftsminister von seinen Herren auf dieses Zitat hingewiesen würde. Es geht nicht an, daß er andere Versionen in die Welt setzt, ohne sich mit solchen Ausführungen wenigstens auseinanderzusetzen. Es heißt in den Ausführungen von Herrn Blessing, Präsident der Bundesbank:
Die Unternehmer haben von der ihnen gebotenen Chance, zur Mengenkonjunktur durchzustoßen, zwar weitgehend Gebrauch gemacht, jedoch nur in der Weise, daß sie die bisherigen Preise nicht erhöht haben. Sie haben es aber recht oft versäumt, dort, wo die Produktivitätszunahme es erlaubt hätte, auch die Preise zu senken.
Die Aufrechterhaltung des allgemeinen Preisniveaus ist nur möglich, wenn unvermeidlichen Preiserhöhungen auf der anderen Seite entsprechende Preissenkungen gegenüberstehen. Seien wir doch ehrlich
— sagt Herr Blessing! —:
in den meisten Unternehmungen ist in letzter Zeit gut verdient worden. Man kann von den Arbeitnehmern und den Gewerkschaften schwer ein Maßhalten in den Lähnen verlangen, wenn die Produktivitätsgewinne im übertriebenen Umfange dem Unternehmer verbleiben.
Das sollte sich auch der Herr Bundeswirtschaftsminister einmal zu Gemüte führen.
Unter diesen Umständen hat der Bundeswirtschaftsminister kein Recht, zu behaupten, die Preise seien für die Entwicklung der Konjunktur uninteressant, und gewissermaßen als Ablenkungsmanöver — nachdem er vorher in seinem Bericht festgestellt hat, wie ruhig sich die Löhne verhalten haben —
auf angeblich ganz gefährliche Lohnentwicklungen hinzuweisen.
— Bitte schön, Herr Kollege Ruf.