Herr Kollege Hermsdorf, ich werde stets anerkennen, daß gerade bei Ihnen persönlich unid Ihren Freunden diese Bereitschaft bei der Berlinfrage und den sich daraus entwikkelten Fragen da war.
— Ja, ich hörte nachher, daß Sie zustimmten, gemeinschaftlich etwas zu unternehmen. Wir sind die allerletzten, die das abstreiten wollen. Herr Kollege Hermsdorf, wenn wir uns nicht langsam angewöhnen, in Dingen, die die Existenz dieser Nation angehen, zusammenzustehen, dann ist dieses Volk in der Situation, in der es sich befindet, verloren.
— Das bestreitet Ihnen niemand. Aber Sie müssen mir erlauben, bei einer solchen Gelegenheit auf einen Gefahrenpunkt hinzuweisen, den wir gemeinsam sehen müssen.
Lassen Sie mich jetzt zu weiteren Punkten kommen, die im Zusammenhang mit der Haushaltsaufstellung stehen. Der Haushalt des Jahres 1960 gründet sich im Grunde genommen auf zwei Dinge: erstens auf die Steuereingänge, die vorauskalkuliert sind, und zweitens auf die Bereitschaft des Kapitalmarkts, die 3 Milliarden DM aufzubringen, die der Bundesfinanzminister vom Kapitalmarkt haben möchte. Auf den letzten Punkt bin ich bereits etwas näher eingegangen. Auch ich teile mit dem Bundesfinanzminister die Sorge, die der Zentralrat der Bundesbank ausgesprochen hat. Ich glaube, die Mitglieder des Hohen Hauses werden alle mit Nutzen die Rede des Herrn Präsidenten der Deutschen Bundesbank vom 30. Oktober lesen, die er vor der Industrie- und Handelskammer in Essen über den gegenwärtigen Stand der deutschen Konjunktur gehalten hat und die in der Oktober-Nummer der Monatsberichte der Deutschen Bundesbank abgedruckt ist. Es ist eine überaus lesenswerte konzentrierte Darstellung des Ablaufs des Jahres 1959.
Lassen Sie mich noch etwas hinzufügen, weil es auch für den künftigen Haushalt von entscheidender Bedeutung sein kann. Herr Kollege Professor Dr. Erhard ist in der deutschen Presse manchmal etwas
spöttelnd kritisiert worden, er sei als eine Art Wanderprediger durch die Lande gezogen, um in bestimmten Gefahrenmomenten der deutschen wirtschaftlichen Entwicklung seine Stimme zu erheben. Professor Erhard hat etwas durchaus Richtiges getan. Er ist ein sehr kluger Psychologe, der die volle Bedeutung dessen begriffen hat, was es heißt, eine bestimmte Meinung auch in der Wirtschaft zu bilden. Nicht umsonst hat der Präsident der Bundesbank dabei gesagt, daß z. B. der Kreditmarkt wahrscheinlich buchstäblich „zerredet" worden ist, und nicht umsonst ist darauf hingewiesen worden, was für eine ungeheure Bedeutung eine bestimmte herrschende Meinung über den Konjunkturablauf auch für die Dispositionen in der gesamten Wirtschaft haben kann und wahrscheinlich auch haben wird. Wenn erst einmal ein Verdacht erwacht und allzuviel geredet wird, daß es besser sei, sich jetzt ein großes Lager anzulegen, weil die Entwicklung in der Währung vielleicht nicht ganz so sein könnte, wie man erwarte, und wenn erst einmal davon geredet wird, es sei besser, jetzt nicht festverzinsliche Werte zu kaufen, weil eine kurze Notiz in den Zeitungen stand, man könne nach Meinung der Bundesbank mit billigeren Zinssätzen im kommenden Frühjahr rechnen — das war eine Vermutung, die die Bundesbank jetzt dementiert hat —, dann geht davon eine ungeheure suggestive Kraft aus; sie hat in der Vergangenheit bestimmte wirtschaftliche Aufschwungserscheinungen und auch Rezessionen bewirkt. Ich glaube, daß es infolgedessen durchaus richtig ist, wenn hier rechtzeitig mit allem Nachdruck erklärt wird: Nein, ihr müßt mit dem Zinssatz von 51/2 % rechnen, der augenblicklich auf dem Markt gilt, und wenn die Bundesregierung klipp und klar sagt, daß sie entschlossen ist, alles . in ihren Kräften Stehende zu tun, um irgendwelchen weiteren Preisausweitungen entgegenzutreten. Wir werden das ja morgen hoffentlich in konzentrierter Form bei der Preisdebatte hören.
Es ist übrigens ganz interessant, sich einmal die ungeheuren Differenzen in dem Konjunkturablauf des vergangenen Jahres vor Augen zu führen. An der Spitze der Ausweitung standen die Kunststoffe mit 28 %. Dann kam der Schiffsbau mit 20 %; das ist eine sehr bemerkenswerte Entwicklung in den Hafenstädten. Es folgten die Fahrzeugindustrie mit nur 14 % und die Elektroindustrie mit 9 %. Weite Bereiche der deutschen Wirtschaft haben sich sehr wenig verändert, wobei die Textilindustrie im ersten Quartal sogar ein Minus von 5 % gegenüber dem Vorjahr hatte und erst in den letzten beiden Quartalen mit 3,9 % und 3,2 % aufholte. Der Bergbau wies gegenüber dem Vorjahr ein Minus von 4,1 % auf.
Für eine Betrachtung der künftigen Konjunktur sind aber entscheidender als diese Ziffern die Auftragseingänge. Hier ist die Entwicklung folgende: Seit April haben wir eine Steigerung der Auftragseingänge von über 20 % — immer am Vorjahr gemessen — und im August von 25 %, im September von 34 %. Diese Entwicklung hält an und kann natürlich unter Umständen im kommenden Jahr zu einer Überhitzung führen.
Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1959 5159
Dr. Vogel
Wir können unsere Augen aber auch nicht vor bestimmten großen strukturellen Veränderungen verschließen, und hier komme ich zu einem zweiten Problem, dessen Erörterung mir in diesem Zusammenhang ganz besonders am Herzen liegt; das ist die zentrale Stellung, die der deutsche Export nicht nur jetzt hat, sondern auch in den kommenden Jahren im deutschen Wirtschaftsleben immer haben wird.
Meine Damen und Herren, wir sind in der Bundesrepublik nun einmal in die Lage hineingedrängt worden, in der sich England seit ungefähr einer Generation befindet. Von dem Steigen oder Fallen des deutschen Exports wird der Lebensstandard des deutschen Volkes in den kommenden Jahren in ganz entscheidender Weise abhängen.
Infolgedessen werden wir gut daran tun, diese Dinge sehr genau zu überwachen und uns hier auch bestimmte Strukturveränderungen vor Augen zu führen. Es ist, glaube ich, bis in weite Teile des deutschen Volkes noch nicht durchgedrungen, daß die Vereinigten Staaten der erste Abnehmer Deutschlands — vor Holland — geworden sind, daß auch Kanada einen entsprechenden Sprung vorwärts getan hat und daß wir einer wachsenden Verlagerung unseres Exports entgegengehen. Diese Dinge werden naturgemäß bestimmte Rückwirkungen auf den Kapital- und Geldverkehr zwischen diesen Ländern haben.
Eines jedoch sollten wir uns dabei ständig vor Augen halten: Wir wollen alle eine weitere Steigerung unseres nationalen Lebensstandards; aber der Export hängt — das wissen wir alle — auf das allerengste mit der Preisfrage zusammen, und wir werden nicht mehr exportieren können, wenn wir in den Preisen nicht mehr mit den Hauptkonkurrenten auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig sein werden.
Hier sehen wir den Ring sich schließen — einen Ring, der um die Preisfrage, die Lohnfrage, die Frage der Arbeitszeit und den deutschen Export fest geschlossen ist. Alle diese Probleme sind ein untrennbares Ganzes, und wir können sie nicht voneinander trennen. Wir können unseren Export nur dann, steigern, wenn wir mehr arbeiten, wenn wir m e h r produzieren. Wir sind nicht in der Lage, dieselben Kapitalinvestitionen wie die Vereinigten Staaten in unsere Wirtschaft hineinzugeben. Wir sind nicht in der gleichen Lage wie England und Frankreich, die keine Inflation hinter sich haben. Wir Deutsche leben im Grunde genommen mehr oder weniger von unserer Hände Arbeit. Infolgedessen sollten wir sehr sorgsam beachten, daß wir immer ein wenig mehr und intensiver arbeiten müssen, als die anderen Völker zu arbeiten brauchen, die sich noch ihr Kapital erhalten haben.
Ich erkenne dankbar an, daß in der vergangenen Zeit auch von seiten der Gewerkschaften Maß gehalten worden ist. Wir von der CDU — und das möchte ich in diesem Zusammenhang mit dem gleichen Nachdruck sagen — haben stets auf dem Standpunkt gestanden, daß steigende Gewinne auch steigende Löhne oder, wenn das nicht möglich ist, zum mindesten Preissenkungen seitens der mehr verdienenden Industrie nach sich ziehen sollen.
Das ist ein gesunder und vernünftiger Grundsatz; das ist nicht nur ein Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit, sondern er entspringt einer ganz kühlen und nüchternen volkswirtschaftlichen Überlegung. Aber wir alle können gerade jetzt am Jahresende unsere Sorge vor einer sich hier und da bereits abzeichnenden neuen Lohn-Preis-Spirale nicht verbergen. Dann wird wieder ein langes Gerede über die Schuldfrage einsetzen.
Vergessen wir nicht, meine Damen und Herren: wir haben bereits in den letzten zwei Jahren eine kleine Schere sich öffnen sehen. Wir haben eine sehr schnelle Steigerung der Reallöhne beobachtet. Ich habe hier in den vergangenen Jahren klipp und klar gesagt: Ich sehe in einem solchen Voraneilen der Reallöhne keine Gefahr für die deutsche Volkswirtschaft, solange das deutsche Volk in dem gleichen Maße weiter spart, wie es bisher gespart hat, d. h. wenn es nicht das, was es mehr verdient, gleich verzehrt, sondern es zurücklegt und dadurch zu einer Zinsverbilligung und zu neuen Investitionen beiträgt. Dieser Sparsinn ist uns Gott sei Dank erhalten geblieben, und ich glaube, wir haben allen Grund, der deutschen Öffentlichkeit dafür dankbar zu sein, daß sie diesen Sparsinn weiter gepflegt und entwickelt hat und damit sich selbst und dem ganzen deutschen Volke einen großen volkswirtschaftlichen Dienst erwiesen hat.
Lassen Sie mich aber im Zusammenhang mit diesen Bewegungen auf dem Kapital- und Geldmarkt auf eins zu sprechen kommen, was wir gewöhnlich übersehen: Durch die neuen großen Kapitalbeteiligungen der Bundesrepublik an den neuen supranationalen Institutionen wie der Weltbank, dem Internationalen Währungsfonds, dem EWG-Fonds, dem Europäischen Fonds usw. werden außerhalb der Bundesrepublik gewaltige neue Vermögen geschaffen. Wenn Sie z. B. nur die in den kommenden Jahren einzuzahlenden Beträge hei der Weltbank und beim Währungsfonds zusammennehmen, kommen Sie allein bei diesen beiden Institutionen auf eine deutsche Beteiligung - ich sage ausdrücklich, wenn die Einzahlungen vollzogen sein werden —, die größer sein wird als das jetzige ERP-Vermögen in Höhe von 7 Milliarden DM. Auch diese Bewegungen sollten wir bei unseren Betrachtungen nicht ganz außer acht lassen; wir sollten sie keineswegs verschweigen, wenn wir im Ausland gefragt werden, was wir bisher für die Entwicklungsländer unternommen haben. Ich glaube, wir können mit Stolz darauf verweisen, daß wir hier his an die Grenze unserer Kapitalleistungsfähigkeit gegangen sind. Wir werden in der Zukunft vielleicht noch neue Beiträge auf diesem Gebiet zu leisten haben.
5160 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 93. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1959
Dr. Vogel
Wer aus diesem Hohen Hause mit mir zusammen an der Begegnung mit den afrikanischen Politikern in Cannes teilgenommen hat, wird sich erinnern, wie zugespitzt bereits die Forderungen sind, die uns von einer Reihe von afrikanischen Entwicklungsländern heute unterbreitet werden. Wenn heute die afrikanischen Länder z. B. unter Berufung auf die — von niemandem geleugneten — alten, traditionellen Verbindungen zwischen uns und Afrika aus einer langen gemeinsamen Geschichte — nicht nur einer Kolonialgeschichte, sondern einer in die Jahrtausende zurückreichenden alten Kulturgeschichte — die Forderung stellen: „Ihr Europäer seid auf Grund dieser Bindungen verpflichtet, zuerst für uns in Afrika etwas zu tun und dann erst für die anderen etwas zu tun", so wirft das für uns alle eine ungeheuer folgenschwere Frage auf. Ich weiß nicht, ob wir heute schon in der Lage sind, auf eine solche Forderung zu antworten; ich weiß nicht, ob wir es uns heute leisten können, die weiten Gebiete Asiens in das zweite Glied zurücktreten zu lassen und unsere volle finanzielle Kraft zuerst auf Afrika zu konzentrieren. Ich fürchte, meine Freunde, daß das Ausland zum Teil zu hohe Erwartungen hegt, die Vorstellungen über die deutsche Leistungsfähigkeit zu hoch emporgeschraubt hat — wir haben das sicherlich nicht beabsichtigt, aber es ist so — und daß man in die Möglichkeit der Entsendung von Tausenden von deutschen Ingenieuren, von noch viel mehr Tausenden von deutschen Lehrkräften, von Medizinern heute ganz bestimmte Erwartungen setzt, während wir selber im Inland noch nicht einmal die nötigen Kräfte haben, um unsere Fachschulen, um unsere Hochschulen, um die Arbeitsplätze in unserer Industrie zu besetzen. Das alles wird zu weitergehenden Folgerungen führen, auf die ich hier zunächst noch nicht näher eingehen möchte, die uns aber bei der zweiten Lesung, vor allen Dingen der Einzelpläne 05 und 06, der Haushaltspläne des Auswärtigen Amtes und des Innenministeriums, beschäftigen werden.
— Herr Kollege Dr. Schäfer, soweit bei Ihren Anträgen die Möglichkeit einer vernünftigen Deckung besteht, haben wir uns, glaube ich, immer verständigen können.
Wenn aber heute morgen in den Zeitungen zu lesen ist, daß auch Ihr Kollege von Knoeringen in Ihrer eigenen Fraktion, glaube ich, schon auf einige Schwierigkeiten hinsichtlich der Erfüllbarkeit seiner finanziellen Vorstellungen gestoßen ist, dann, meine ich, wird es notwendig sein, auch diese einmal einer bestimmten Korrektur zu unterziehen und zu prüfen, was in den nächsten Jahren überhaupt möglich ist. Das werden wir einmal gemeinsam untersuchen.
— Nun, was die gegenseitige Ablehnung betrifft, so haben wir uns vermutlich gegenseitig nichts vorzuwerfen, Herr Kollege Erler.
— Herr Kollege Erler, es wird mir ein Vergnügen sein, Ihnen alle Anträge zuzureichen, bei denen wir mit Ihnen gestimmt haben. Sie können sich darauf verlassen; mein Gedächtnis und das meiner Freunde in dieser Beziehung ist sehr präzise.