Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei dem uns vorliegenden Entwurf eines Zolltarifgesetzes handelt ies sich, wie Sie alle wissen, um den ersten Schritt zur Verwirklichung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Es handelt sich leider auch um den ersten Schritt zur Diskriminierung der anderen, der nicht an der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beteiligten Länder, und mit diesem Gesetzentwurf beginnen wir, eine Grenze durch das freie Europa zu legen. Es darf anerkannt werden, daß sich die Bundesregierung in den letzten Monaten mit ,allen Kräften bemüht hat, dieses Ergebnis zu vermeiden; aber sie konnte natürlich das Scheitern der Verhandlungen über eine Freihandelszone auch nicht aufhalten. Für 'das ganze Bemühen gilt leider das Wort: „Zu spät, du rettest den Freund nicht mehr." Diese Bemühungen hätten unternomm en werden müssen, als eis noch Zeit war. Damals aber, im Jahre 1957, hat man sich in einer europäischen Euphorie über die realen Tatsachen hinweggesetzt und hat keine Rücksicht darauf genommen, wie die Dinge laufen werden. Nun haben wir das Ergebnis, daß wir anstatt dessen, was wir hier im Hause alle gemeinsam wollen, nämlich eine europäische Einigung, den ersten Beitrag zu einer Spaltung des freien Europa geliefert haben. Wenn die deutsche Bundesregierung — auch das möchte ich anerkennen — zur Zeit auch bemüht ist, die Konsequenzen der hier eintretenden Diskriminierung zu mildern und in Verhandlungen abzuschwächen, so ist das eben doch sehr unter dem
2900 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 52. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 9. Dezember 1958
Margulies
Wort zu verstehen, das ich kürzlich einmal gehört habe und das mir sehr gut gefallen hat, nämlich unter der Definition dessen, wais ein Politiker ist. Danach ist ein Politiker ein Mann, der sich jeden Tag mit Bienenfleiß bemüht, Schwierigkeiten aus der Welt zu räumen, die ohne ihn gar nicht entstanden wären.
Das vorliegende Beispiel ist hierfür besonders treffend.
Sie, meine Damen und Herren, werden verstehen, daß die Freien Demokraten, die auf diese Entwicklung rechtzeitig aufmerksam gemacht haben und die es damals auch ablehnen mußten, den Verträgen zuzustimmen, heute ebenfalls nicht in der Lage sind, dem Zolltarifgesetz ihre Zustimmung zu geben. Das soll aber nun nicht heißen — das möchte ich in diesem Zusammenhang ausdrücklich sagen —, daß wir etwa die Gültigkeit der Verträge in Zweifel ziehen. Die Verträge sind in den sechs vertragschließenden Staaten ordnungsmäßig ratifiziert; sie sind in Kraft getreten. Sie sind also gültiges Recht, und ich höre es deshalb sehr ungern, wenn im Zusammenhang mit dem Scheitern der Bemühungen um die Schaffung einer Freihandelszone Überlegungen über eine Clausula rebus sic stantibus oder über das Entfallen der Geschäftsgrundlage angestellt werden. Das sind deutsche Rechtsbegriffe, die es im internationalen Recht nicht gibt. Dort gilt ein unterschriebener Vertrag unter allen Umständen.
Eine andere Frage ist, ob dieser Vertrag als solcher in allen Teilen von den Beteiligten respektiert wird. Da muß ich ganz offen sagen, daß ich einigermaßen betrübt darüber bin, in welchem Maße sich der Ministerrat der Wirtschaftsgemeinschaft und von Euratom über die Vertragsbestimmungen ohne mit der Wimper zu zucken hinwegsetzt. Ich darf nur daran erinnern, daß bis heute der Sitz der Organe nicht bestimmt ist. Im übrigen ist das eine Sache, die sehr zu den vom. Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages beanstandeten überhöhten Kosten beiträgt. Ich weiß aus meiner Tätigkeit im Haushaltsausschuß des Europäischen Parlaments, daß z. B. Kosten in der Größenordnung von etwa 10 % des Haushalts des Parlaments nur dadurch entstehen, daß die Sitzfrage ungelöst ist. So gibt es noch eine ganze Menge Vertragsklauseln, über die sich der Ministerrat mit einer Nonchalance hinwegsetzt, die dem Gewicht des Vertrages widerspricht.
Sehen wir uns einnmal den Vertrag selber an! Aus ihm ergibt sich unzweideutig der Wille der Vertragschließenden, sich nicht mit der kleineuropäischen Sechsergemeinschaft zu begnügen. Wir lesen schon in der Präambel:
ENTSCHLOSSEN, durch gemeinsames Handeln den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt ihrer Länder zu sichern, indem sie die Europa trennenden Schranken beseitigen,
Und in Art. 18 des Vertrags heißt es:
Die Mitgliedstaaten sind bereit, zur Entwicklung des zwischenstaatlichen Handels und zum
Abbau der Handelsschranken durch den Abschluß von Abkommen beizutragen, die auf der Grundlage der Gegenseitigkeit und zum gemeinsamen Nutzen die Senkung der Zollsätze unter die allgemeine Höhe zum Ziel haben, die auf Grund der Errichtung der Zollunion statthaft wäre.
Hier ist also im Vertrag selber der Wille verankert, es eben nicht bei dieser kleineuropäischen Zollunion zu belassen, sondern darüber hinaus in einem größeren Raum, nämlich im Rahmen der OEEC-Länder, eine europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit zu schaffen; doch muß diese Zusammenarbeit nicht unbedingt auf die OEEC-Länder beschränkt bleiben.
Im Dritten Teil des Vertrages findet sich unter Titel I Kapitel 3, Handelspolitik, eine ähnliche Formulierung. Es heißt in Art. 110 Abs. 2:
Bei der gemeinsamen Handelspolitik werden die günstigen Auswirkungen berücksichtigt, welche die Abschaffung der Zölle zwischen den Mitgliedstaaten auf die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen dieser Staaten haben kann.
Das Verfahren, wie das zu geschehen hat, ist in den Art. 237 und 238 des Vertrages niedergelegt.
Nach allen Verhandlungen über den Vertrag selber hat man dann in die Gemeinsame Erklärung über die Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten der internationalen Organisationen noch einmal eine Bekräftigung aufgenommen und gesagt:
DIE REGIERUNGEN . . .
ERKLÄREN SICH BEREIT, alsbald nach Inkrafttreten dieser Verträge mit den anderen Ländern, insbesondere im Rahmen der internationalen Organisationen, denen sie angehören, Abkommen zu schließen, um diese im gemeinsamen Interesse liegenden Ziele zu erreichen und die harmonische Entwicklung des gesamten Handelsverkehrs zu gewährleisten.
Es ist leider kein Zweifel, daß die hier im Vertrag niedergelegten Absichten durch das Scheitern der Verhandlungen über eine Freihandelszone nicht verwirklicht werden konnten und daß derjenige, der die Verantwortung für das Scheitern der Verhandlungen trägt, damit den Vertrag verletzt hat! Das sollten wir doch mal festhalten.
Ich möchte noch einmal sagen: der Vertrag besteht, er ist unzweifelhaft da, und er muß in vollem Umfang erfüllt werden. Die Auseinandersetzung zwischen Parlament und Ministerrat brauchen wir nicht hier zu führen, diese wird im Europäischen Parlament stattfinden. Aber die Frage, ob eine Vertragsverletzung vorliegt, indem einer der Vertragschließenden die im Vertrag ausdrücklich genannten Ziele nachher nicht mehr verfolgt hat, wäre doch der Untersuchung durch unsere Staatsrechtler wert.
Wir sind jedenfalls der Meinung, daß die Entwicklung, die nunmehr nach dem Scheitern der Verhandlungen über die Freihandelszone eingeleitet wird, leider in vollem Umfang die Befürchtungen rechtfertigt, die wir seinerzeit zum Ausdruck ge-
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Margulies
bracht haben, als es um die Ratifizierung dieser Verträge ging. Ich möchte nicht alles wiederholen, was damals gesagt worden ist. Aber man muß sich doch darüber klar sein, daß es nun eine Entwicklung zu einer kleineuropäischen Autarkie geben wird. Das wird ja auch in aller Unschuld in den Zahlen ausgedrückt, die man uns immer wieder als Material vorlegt. Da heißt es: „In Weizen können wir den Bedarf decken, wir haben sogar etwas mehr, wir müssen noch etwas exportieren. In Schweinefleisch ebenso. In Butter kommen wir durch. Sogar bezüglich Kaffee ist es nicht notwendig, die Handelsbeziehungen, die wir zur Zeit haben, aufrechtzuerhalten, weil aus den assoziierten überseeischen Gebieten die notwendigen Mengen Kaffee geliefert werden können." Hier wird schon eindeutig klar, daß es sich um ein autarkes Denken handelt, das sich sozusagen zwangsläufig aus der Situation — ohne jede böse Absicht — ergibt.
Das würde aber für uns, für die Bundesrepublik, bedeuten, daß wir unsere bisher bestehenden Handelsbeziehungen verlieren. Ich glaube, es ist gut, sich noch einmal die Zahlen vor Augen zu halten. Im Groben haben wir ein Viertel unseres gesamten Außenhandels mit den fünf EWG-Staaten, weitere 35 % mit den anderen OEEC-Staaten, also insgesamt im freien Europa etwa 60 % unseres Außenhandels; weitere 40 % haben wir mit den überseeischen Gebieten. Zur Zeit beträgt also der Warenaustausch mit den fünf EWG-Partnern 25 % unseres Außenhandels; 75 % unseres Außenhandels haben wir mit diesen Verträgen riskiert. Wir haben sie riskiert, weil wir alle hier der Meinung waren, wir würden es schaffen, es würde zu einer Freihandelszone kommen.
Man wird auch sagen dürfen, daß unsere Vertragspartner, insbesondere unsere französischen, zwei Jahre lang den Anschein erweckt haben, daß sie den Weg in die Freihandelszone mitgehen würden. Sie haben in allen technischen Besprechungen mitgearbeitet und an den Beratungen teilgenommen, ohne nun jeden Tag ihre Gegnerschaft gegen das Projekt zu erklären. Jetzt haben sie uns ungefähr 14 Tage vor dem letzten Termin die Trümmer vor die Füße geworfen.
Nun, das ist leider wegen der gesamten wirtschaftlichen Situation nur zu verständlich, und man kann nicht darüber hinwegsehen, daß Frankreich nicht mehr tun konnte, als es im Augenblick getan hat. Aber für uns, für die Bundesrepublik, ist das doch ein sehr enttäuschendes Ergebnis. Ich glaube, wir sind gezwungen, uns allmählich darüber klar zu werden, was es bedeutet, wenn unsere Wirtschaft auf den engen Raum der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beschränkt wird, wenn durch die Selbstversorgung mit den wichtigsten Nahrungsmitteln innerhalb des EWG-Raumes unsere Beziehungen zu den Staaten, die uns bisher in einer Größenordnung von 5 Milliarden Mark jährlich beliefert haben, leiden. Diesen Staaten werden ja diese 5 Milliarden fehlen, um bei uns wieder entsprechende Erzeugnisse kaufen zu können.
Sicher wird innerhalb des EWG-Raumes der Warenaustausch zunehmen; aber ich glaube nicht,
daß das ein Äquivalent für den Außenhandel bieten
wird, den wir im Zuge der Diskriminierung, die
wir heute hier beschließen müssen, verlieren werden.
Ich will nun nicht mehr in aller Breite darüber sprechen; ich glaube, die Begründung, die ich für meine Fraktion gegeben habe, ist ausreichend. Wir sind der Meinung, daß die Bundesregierung gar nicht anders kann, als durch Verabschiedung dieses Zolltarifgesetzes den Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zu erfüllen. Aber Sie werden es uns, den Freien Demokraten, die wir Sie jederzeit und rechtzeitig gewarnt haben, nicht übelnehmen können, wenn wir diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen können.