Rede:
ID0304101400

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Metadaten
  • insert_drive_fileAus Protokoll: 3041

  • date_rangeDatum: 1. Oktober 1958

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    Deutscher Bundestag 41. Sitzung Berlin, den 1. Oktober 1958 Inhalt: Ansprachen zu Beginn der Tagung in Berlin Präsident D. Dr. Gerstenmaier . . 2391 A Brandt, Regierender Bürgermeister 2391 B Glückwünsche zu den Geburtstagen der Abg. Frau Wessel, Dr. Leverkuehn, Frau Welter (Aachen), Reitzner, Jahn (Frankfurt), Dr. Schneider (Lollar) und Stauch . 2393 A Abg. Meis (CDU/CSU) tritt als Nachfolger des verstorbenen Abg. Dr. h. c. Arnold in den Bundestag ein 2393 B Abg. Wilhelm (SPD) tritt als Nachfolger des Abg. Schreiner in den Bundestag ein 2393 B Abg. Eplée (CDU/CSU) tritt als Nachfolger des Abg. Dr. Meyers (Aachen) in den Bundestag ein 2393 B Abg. Dr. Schneider (Lollar) (DP) tritt als Nachfolger des Abg. Euler in den Bundestag ein 2393 C Amtliche Mitteilungen 2393 C Große Anfrage der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD, FDP, DP betr. Flüchtlingsfragen und Zonenverhältnisse (Drucksache 546) Wehner (SPD) 2394 B Lemmer, Bundesminister 2397 B Dr. Gradl (CDU/CSU) 2406 A Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD) . . 2411 A Dr. Mende (FDP) 2416 B Frau Kalinke (DP) 2420 D Kiesinger (CDU/CSU) 2424 B Einstimmige Annahme der Entschließung Umdruck 160 2426 D Nächste Sitzung 2426 D Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 41. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Oktober 1958 2391 41. Sitzung Berlin, den 1. Oktober 1958 Stenographischer Bericht Beginn: 14.03 Uhr
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    Anlage 1 Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich a) Beurlaubungen Frau Ackermann 4. 10. Bauer (Wasserburg) 4. 10. Blachstein 4. 10. Frau Döhring (Stuttgart) 4. 10. Eplée 4. 10. Frau Dr. Gantenberg 4. 10. Gibbert 4. 10. Giencke 4. 10. Günther 4. 10. Hilbert 4. 10. Josten 4. 10. Knobloch 4. 10. Koenen (Lippstadt) 4. 10. Dr. Kopf 4. 10. Kunze 4. 10. Dr. Löhr 4. 10. Dr. Baron Manteuffel-Szoege 4. 10. Müser 5. 10. Peters 4. 10. Dr. Pferdmenges 4. 10. Pietscher 6. 10. Dr. Preusker 1. 10. Stauch 3. 10. Dr. Wilhelmi 1. 10. Wischnewski 5. 10. b) Urlaubsanträge Berkhan 30. 10. Dr. Böhm 10. 10. Dowidat 10. 10. Engelbrecht-Greve 4. 11. Frehsee 4. 11. Frenzel 5. 11. Dr. Gülich 11. 10. Dr. Höck (Salzgitter) 25. 10. Jahn (Frankfurt) 10. 10. Maier (Freiburg) 22. 11. Muckermann 12. 10. Rasner 28. 10. Frau Schmitt (Fulda) 17. 10. Dr. Schneider (Saarbrücken) 18. 10. Schoettle 18. 10. Anlage 2 Umdruck 160 Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP, DP zur Beratung der Großen Anfrage der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP, DP betr. Flüchtlingsfragen und Zonenverhältnisse (Drucksache 546) Der Bundestag wolle beschließen: Die heutigen Erklärungen der Bundesregierung über die politischen Verhältnisse im sowjetischen Besatzungsbereich Deutschlands und über das sich aus diesen Verhältnissen ergebende Flüchtlings- Anlagen zum Stenographischen Bericht problem veranlassen den Deutschen Bundestag zu folgenden Feststellungen: I. Seit mehr als zehn Jahren dauert jetzt der Flüchtlingsstrom an, trotz aller Behinderungen und Sperren, die das Zonenregime zwischen die beiden Teile Deutschlands legt. Die Zahl von mehr als drei Millionen Flüchtlingen allein aus Mitteldeutschland ist der erschütternde Ausdruck der Existenz- und Gewissensnot, die auf der deutschen Bevölkerung zwischen Elbe und Oder lastet. Er ist der Beweis, daß das, was den Menschen in Mitteldeutschland zugemutet wird, über die Grenze der Leidensfähigkeit hinausgeht. Er ist aber auch der klare Beweis, daß die Mitteldeutschen nicht in den ihnen aufgezwungenen Verhältnissen leben wollen. Der Bundestag protestiert gegen die fortdauernde Verletzung der Gesetze der Menschlichkeit. Es ist nicht nur ein Gebot politischer Klugheit und weitblickenden Verständigungswillens, sondern der reinen Menschlichkeit, den Deutschen in der Zone den Weg zu freier demokratischer Selbstbestimmung und zur gesamtdeutschen Gemeinschaft freizugeben. II. Der Deutsche Bundestag erhebt besonders Einspruch gegen die kaltherzige und heimtückische Knebelung der Freizügigkeit, durch die den Einwohnern der sowjetisch besetzten Zone das Reisen über die Zonengrenze hinweg nahezu unmöglich gemacht ist. Das krasseste Zeichen der Unterbrechung der menschlichen Beziehungen ist der Rückgang des Reiseverkehrs um fast 85 °/o gegenüber dem Vorjahr. Der Deutsche Bundestag wiederholt sein Verlangen, allen Deutschen das Reisen innerhalb Deutschlands endlich freizugeben. Daß von den Besuchern die jeweils im anderen Teil Deutschlands geltenden gesetzlichen und behördlichen Vorschriften zu beachten sind, ist eine Selbstverständlichkeit. III. Die Bundesregierung bleibt aufgefordert, gemeinsam mit den Regierungen der Länder und insbesondere auch mit dem Senat von Berlin weiterhin dafür zu sorgen, daß den Flüchtlingen bei ihrer ersten Aufnahme in die Obhut des freiheitlichen Deutschland jede mögliche menschliche Rücksicht und Hilfe zuteil wird, und daß alles, was geschehen kann, für ihre wirtschaftliche und soziale Eingliederung getan wird. Aber die Aufnahme der Flüchtlinge darf nicht nur eine Pflicht der Behörden sein. Jeder einzelne Deutsche im Bundesgebiet 'ist aufgerufen, zu seinem Teil mitzuhelfen, um dem Flüchtling das tröstliche Gefühl wirklicher Geborgenheit zu geben. Der Welt muß gezeigt werden, daß sich die Deutschen nicht nur in Worten zu der Einheit ihres Volkes bekennen, sondern auch mit helfender Tat. IV. Die Bundesrepublik Deutschland ist sich bewußt, daß sie als Ordnung des staatlichen Lebens für die Zeit bis zur Wiederherstellung der Einheit Deutsch- 2428 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 41. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Oktober 1958 land geschaffen wurde. Der Bundestag wiederholt feierlich den im Grundgesetz enthaltenen Appell, daß das ganze deutsche Volk aufgefordert bleibt, die Einheit und Freiheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung zu vollenden. Die Verpflichtung der Vier Mächte zur Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands wird hierdurch nicht berührt. Der Deutsche Bundestag erwartet die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands von einem unmittelbaren freien Willensentschluß des gesamten deutschen Volkes in seinen heute noch getrennten Teilen, der nach der Beseitigung der nicht in deutscher Zuständigkeit liegenden Hindernisse herbeizuführen ist. Der Deutsche Bundestag erklärt seine Bereitschaft, jede Verhandlung zu unterstützen, die die Wege zu einem solchen Willensentscheid des deutschen Volkes ebnet, sobald eine Vereinbarung der Vier Mächte diese Möglichkeit erschlossen hat. V. Der Bundestag bekennt sich erneut zu seinem einmütigen Vorschlag eines Vier-Mächte-Gremiums, das gemeinsame Vorschläge zur Lösung der deutschen Frage vorbereiten soll. Die Bundesregierung wird beauftragt, sich bei den Vier Mächten weiterhin für die Realisierung des Vorschlages nachdrücklich einzusetzen. Berlin, den 30. September 1958 Dr. Krone und Fraktion Ollenhauer und Fraktion Dr. Mende und Fraktion Schneider (Bremerhaven) und Fraktion
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    Rede von Dr. Erich Mende


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundestagsfraktion der Freien Demokratischen Partei hat am 1. September dieses Jahres an den Bundestagspräsidenten, an die Fraktionsvorsitzenden und an den Bundesminister für gesamtdeutsche Angelegenheiten die Anregung gerichtet, die Tagesordnung der Berliner Plenarsitzungen zu erweitern. Angesichts der Entwicklungen in Mitteldeutschland, der Fluchtbewegung und der immer stärkeren Drosselung des Reiseverkehrs erschien uns eine Beschränkung auf die bisherigen Tagesordnungspunkte nicht gerechtfertigt. Es wäre geradezu ein parlamentarischer Schildbürgerstreich gewesen, wenn wir uns hier in Berlin auf eine Debatte über den Gemeinsamen Markt und die Freihandelszone beschränkt hätten.

    (Beifall bei der FDP.)

    Wir begrüßen es, daß die Aussprache über eine gemeinsame Anfrage aller Fraktionen in Berlin Gelegenheit gibt, nicht nur eine Dokumentation des Unrechts, sondern auch eine Demonstration für die deutsche Wiedervereinigung vor aller Welt sichtbar zu machen.
    Die vielfachen Schwierigkeiten, die sich aus der Zweiteilung Deutschlands, aus der besonderen Lage seiner Reichshauptstadt Berlin ergeben, sind in der Welt bei weitem nicht so bekannt, wie wir das immer anzunehmen pflegen. Es ist naheliegend, daß jedes Volk in erster Linie seine eigenen Angelegenheiten als die wichtigsten ansieht und das Interesse für entfernter liegende Probleme entsprechend geringer ist. Ich weiß nicht, ob bei uns alle Landsleute wissen, daß zu den 9 Millionen Heimatvertriebenen, die in den letzten zwölf Jahren zu uns gekommen sind, auch noch 3 Millionen Flüchtlinge aus Mitteldeutschland hinzuzuzählen sind, so daß über 12 Millionen deutscher Menschen in der Bundesrepublik und in West-Berlin im Rahmen der größten Binnenwanderung der Geschichte neu Fuß fassen mußten. Um wieviel weniger ist diese tragische Lage den Amerikanern oder Sowjetrussen, den Engländern oder Franzosen bekannt.
    Das gleiche gilt für die Drosselung des Reiseverkehrs innerhalb Deutschlands. Wer weiß denn in der Welt, daß es heute einfacher ist, von Westdeutschland nach Rom, Paris und London zu reisen als nach Magdeburg und Weimar? Vier Millionen Bundesrepublikaner sind in diesem Jahre als Ferienreisende nach Italien gelangt, aber — wie Bundesminister Lemmer soeben erklärte — es konnten nur eine halbe Million Mitteldeutscher nach Westdeutschland reisen — umgekehrt ist es nicht anders —, während wir immerhin im vergangenen Jahre noch 21/2 Millionen Reisende hatten, die von Mitteldeutschland nach Westdeutschland und umgekehrt reisen konnten.
    Als durch die Zuspitzung der Lage in Indonesien 35 000 holländische Flüchtlinge Hals über Kopf nach Holland fliehen mußten, haben die niederländischen Behörden dafür gesorgt, daß dieses Unglück wochenlang nicht nur in Holland, sondern in der ganzen Welt stärkste Beachtung fand. Wir Freien Demokraten sind der Meinung, daß wir nicht alles tun, um das Unglück der Zweiteilung Deutschlands mit allen seinen verhängnisvollen menschlichen Folgen immer wieder in das Licht der Weltöffentlichkeit zu rücken.

    (Lebhafte Zustimmung bei der FDP.)

    Wir erlauben uns daher die Anregung, bei sämtlichen diplomatischen Vertretungen der Bundesrepublik Referate für gesamtdeutsche Angelegen-



    Dr. Mende
    heiten einzurichten. Es erscheint uns wichtiger, bei jeder Botschaft oder Gesandtschaft einen Referenten dafür zu haben als für andere weniger wichtige Dinge. Diese Referate sollten in enger Zusammenarbeit mit dem gesamtdeutschen Ministerium mit allem die deutsche Frage betreffenden Material versorgt werden, so daß der deutschen Frage in der Weltöffentlichkeit eine größere Aufmerksamkeit zuteil würde.

    (Beifall bei der FDP.)

    Wer von uns, meine Kolleginnen und Kollegen, die Grundsätze der Atlantikcharta, der Charta der Vereinten Nationen und die Konvention über die Menschenrechte liest, muß erschüttert sein, wie weit sich in der Praxis die Mächte, die diesen Konventionen zugestimmt haben, auf deutschem Boden von ihren Prinzipien entfernt haben.

    (Lebhafte Zustimmung bei der FDP und SPD.)

    Ich unterstreiche das, was soeben Kollege Professor Schmid dazu gesagt hat. In der Atlantikcharta, die auch von der Sowjetunion anerkannt wurde, hieß es beispielsweise, daß nach dem zweiten Weltkrieg die Menschen leben sollten „frei von Furcht und Not"; „es sollten keine Gebietsveränderungen stattfinden außer mit dem frei geäußerten Willen der davon betroffenen Bevölkerung". Die Lage des zweigeteilten deutschen Volkes und seiner Reichshauptstadt Berlin, die man glaubt wie ein mitteleuropäisches Hongkong behandeln zu können, ist ein Hohn auf die Prinzipien dieser Charta

    (erneute lebhafte Zustimmung bei der FDP und SPD)

    und nur eine einzige Anklage gegen jene Mächte, die nicht in der Lage waren, diese Prinzipien gegenüber dem besiegten Deutschland in Anwendung zu bringen.
    Wir Freien Demokraten bejahen schon aus unserer geistigen Haltung heraus die freie Bewegung von Menschen, Gütern und Gedanken über die engen nationalstaatlichen Grenzen hinweg. Uns bedrückt daher besonders die Drosselung des Reiseverkehrs im eigenen Lande, und wir versuchen, hier den Ursachen nachzuspüren. Meine Damen und Herren. es mag vielleicht etwas hart klingen, was ich jetzt ausspreche in Erweiterung dessen, was ebenfalls mein Vorredner, Herr Kollege Schmid, schon zu dem Problem nachrichtendienstlicher Verhöre hier dargelegt hat: eine beklagenswerte Hypothek, die auf dem zweigeteilten Deutschland und einer zweigeteilten Hauptstadt ruht, ist die Installierung von Geheim- und Nachrichtendiensten aus aller Welt auf unserem Boden. Deutschland ist in der Nachkriegszeit geradezu ein Tummelplatz für Agentenzentralen, und Berlin ist ein Umschlags-platz für den Nachrichtenhandel geworden. In beiden Teilen Deutschlands steigert man propagandistisch gegenseitig die Spionenfurcht, und manche Maßnahmen der Sowjetzonenmachthaber sind in dieser Spionenfurcht begründet. Je mehr ein demokratischer Staat sich zur Diktatur entwickelt, um so höher sind seine Ausgaben für den aktiven und passiven Nachrichtendienst, dessen Ausweitung in allen Staaten der Welt mit zu den beklagenswertesten Erscheinungen des 20. Jahrhunderts gehört. Der Staatssicherheitsdienst der Zone ist das böseste Beispiel!
    Wir Freien Demokraten wissen, daß kein moderner Staat auf das Mittel nachrichtendienstlicher Tätigkeit zu seinem Schutz ganz verzichten kann. Wir glauben aber, daß es an der Zeit ist, der Überwucherung unseres politischen Lebens durch eine Übertreibung nachrichtendienstlicher Tätigkeit Einhalt zu gebieten. Dies gilt insbesondere hier für das zweigeteilte Berlin, in dem neben der legalen nachrichtendienstlichen Tätigkeit sogenannte halbamtliche private Nachrichtendienste auf eigene Faust ihr Unwesen treiben.
    Die Bundesregierung wird daher von uns aufgefordert, mit Vertretern aller vier Mächte über die diplomatischen Verbindungen in Verhandlungen zu treten, um der nachrichtendienstlichen Tätigkeit dieser Mächte auf deutschem Boden gewisse Grenzen zu setzen. Es sollte geprüft werden, ob man nicht durch strafrechtliche Bestimmungen den Mißbrauch junger und unerfahrener Menschen zu nachrichtendienstlicher Tätigkeit ahnden sollte, wo immer er auftritt. Wie der Deutsche Bundestag das Anwerben junger Deutscher für den Dienst in der Fremdenlegion unter Strafe gestellt hat, so sollte auch das Anwerben junger Deutscher, die man unter Ausnutzung ihrer Notlage für nachrichtendienstliche Tätigkeit fremder Mächte anwirbt, in Zukunft strafbar gemacht werden.

    (Beifall bei der FDP und der SPD.)

    Im übrigen sollten wir selbst dafür sorgen, daß der Nachrichtenhandel auf deutschem Boden nicht noch weiter floriert. Denn das bekannte Sprichwort, daß nirgendwo mehr gelogen wird als vor einer Wahl, in einem Krieg und nach einer Jagd, gilt für den Nachrichtendienst in besonderem Maße. Wir sollten die nachrichtendienstliche Tätigkeit nicht ernster nehmen, als sie von den dafür Tätigen selbst gewertet wird. Man braucht nur auf die zahlreichen Versager und Falschmeldungen internationalen Ausmaßes in der letzten Zeit zu verweisen. Die Sowjetzonenregierung stellt sich hier selbst ein Armutszeugnis aus, wenn sie in einer Spionenhysterie in jedem Zonenbesucher einen Agenten vermutet.
    Vor dieser Berliner Sitzung wurden hier und da Stimmen laut, diese Plenarsitzung würde die Reihe der Dokumentationen für die Wiedervereinigung fortsetzen, ohne einen realen Effekt erreichen zu können. Wir Freien Demokraten sind hier anderer Meinung. Auch ein autoritärer Staat kann sich der Wirkung der öffentlichen Meinung nicht entziehen, und gewisse in der Sowjetzone in der letzten Zeit zu beobachtende Einlenkungsversuche scheinen schon darauf hinzuweisen, daß das Bekanntwerden vieler Dinge den Sowjetzonenmachthabern bereits jetzt auf die Nerven geht. „Der beste Anwalt aller Leidenden und Unterdrückten ist immer noch das öffentliche Gewissen." Dieses Wort des verstorbenen Göttinger Universitätsprofessors Leonhard Nelson ist nach wie vor aktuell.



    Dr. Mende
    Allerdings darf sich das Parlament nicht auf bloße Dokumentationen und Demonstrationen beschränken. Es wäre schlimm, wenn wir uns mit bloßen Bekenntnissen zur deutschen Wiedervereinigung begnügten. Viel wichtiger sind uns Freien Demokraten konstruktive Vorschläge zur Lösung der deutschen Frage, an denen es seit den Äußerungen unseres leider zu früh verstorbenen Bundestagskollegen und späteren Botschafters in Belgrad Dr. Karl-Georg Pfleiderer seitens der Freien Demokraten nicht gefehlt hat.
    Die Ursache der Flüchtlingsnot liegt in der Teilung Deutschlands. Man mag noch soviel menschliches Versagen, man mag noch soviel unmenschliche Machtgier und bösen Unterdrückungswillen mit in Betracht ziehen, die Wurzel des Übels ist die Spaltung Deutschlands. Wer also die Flüchtlingsnot, die wir heute so beklagen, beheben will, muß die deutsche Spaltung beseitigen.

    (Beifall rechts.)

    Aus der Teilung Deutschlands wächst nicht nur die Flüchtlingsnot; sie kann auch noch andere, größere Not über uns bringen. Es ist kein leeres Wort, daß die Teilung Deutschlands den Frieden Europas gefährdet und daß es in Europa nicht zur Entspannun kommen kann, solange die deutsche Frage ungelöst ist.
    Die gegenwärtige Lage, in der das halbe Deutschland dem einen großen Bündnissystem und das andere halbe Deutschland dem anderen Bündnissystem verhaftet ist mit allen sich ergebenden Bindungen und Rückwirkungen, ist gefährlich und schließt das Risiko des Krieges in sich ein. Als unsere Freunde bei den überraschenden Unternehmen „Libanon" und „Transjordanien" stutzten und sich fragten, welcher Gefahrenherd sich dort bilde, wurde unsere mangelnde Begeisterung für solche Überraschungsmanöver mit dem Hinweis gerügt: Was Berlin recht ist, ist dem Libanon billig. Und jetzt, da wir wiederum zweifeln, ob das „mourir pour Quemoy", das Sterben für Quemoy der Weisheit letzter Schluß ist und ob ein Weltkrieg um eine chinesische Insel wirklich verantwortbar ist, mahnt uns der amerikanische Außenminister, daß Quemoy mit Berlin eins gemeinsam habe, nämlich das Risiko eines Krieges. Am vorigen Donnerstag sagte der amerikanische Außenminister in New York, die Vereinigten Staaten würden eher das Risiko eines Krieges eingehen als Berlin aufgeben, und genauso handelten sie auch im Fernen Osten.
    Meine Damen und Herren! Hier ist allerdings ein Einwand fällig. Man sollte nicht mit der guten Sache Berlins jedes Risiko rechtfertigen, das man irgendwo in der Welt eingeht.

    (Beifall rechts und links.)

    Vielleicht sind wir zu befangen, um das weltpolitisch richtig beurteilen zu können. Vielleicht sind wir auch als Europäer und Deutsche verpflichtet, vor dem Irrtum zu warnen, der Ehrgeiz der Berliner erschöpfe sich darin, von 10 oder 100 möglichen Kriegsschauplätze wenigstens einen abzugeben.
    Berlin wird niemals den Dank vergessen, den es Amerika für das Sicherheitsversprechen schuldet.

    (Beifall rechts und links.)

    Aber im Unterschied zu Formosa ist Berlin keine waffenstarrende Bastion, die mit dem größeren Vaterland im Kriegszustand lebt, sondern die waffenlose Hauptstadt Deutschlands, die nur einen Wunsch hat: daß die Verantwortlichen mit Umsicht, Tatkraft und Eile an dem Frieden arbeiten, der die staatliche Einheit wiederbringt. Berlin denkt nicht an Kanonaden, sondern an den Friedensvertrag!

    (Beifall rechts und links.)

    Der Deutsche Bundestag ist nach Berlin gekommen, um hier einen weiteren Schritt in seiner gemeinsamen Deutschlandpolitik zu machen. Es ist in der Tat absurd, gerade diesem Bundestag, der sich zu gemeinsamem Handeln in der deutschen Frage aufgerafft hat, vorzuwerfen, er wolle die Verantwortung für die Wiedervereinigung auf die vier Mächte abschieben.
    Nein, meine Damen und Herren, es bedarf nicht erst der Belehrung durch eine Sowjetnote, um klarzumachen, daß jede Nation erst einmal selbst verpflichtet ist, ihre staatliche Einheit zu schaffen und zu wahren. Infolgedessen wendet sich ja auch die Präambel unseres Grundgesetzes nicht an die vier Mächte, sondern an das deutsche Volk, um es aufzufordern, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. Wir Freien Demokraten sind fest davon überzeugt, daß der erste und entscheidende Beitrag zur Wiedervereinigung von den Deutschen selbst geleistet werden muß. Das war an der Saar so, und das ist an der Elbe und der Spree nicht anders.

    (Beifall bei der FDP.)

    Vom Volk her muß der Antrieb kommen, und ihm können sich die Volksvertreter nicht entziehen. Deshalb haben wir Freien Demokraten im März dieses Jahres den Anstoß gegeben, daß sich die Parteien zur ständigen Arbeit an einer gemeinsamen Deutschlandpolitik zusammenfinden. Der Bundesminister für gesamtdeutsche Angelegenheiten ist dafür der natürliche Kristallisationspunkt, und auf dieser Linie liegt auch der Beschluß dieses Hauses vom 2. Juli dieses Jahres, der die Bildung einer ständigen Deutschlandkonferenz anregt. Nachdem wir diesen Beschluß einmal in die Welt gesetzt haben, werden wir unsere Kräfte vereinigen müssen, damit die ständige Konferenz auch wirklich zustande kommt. Sicherlich wird es noch viele Schwierigkeiten auf unserem gemeinsamen Wege geben, sachliche Schwierigkeiten, vielleicht auch menschliche Unzulänglichkeiten. Aber wir Freien Demokraten werden auch fernerhin das Gemeinsame über das Trennende stellen. Wir werden das schon deshalb tun, weil wir uns neben dem nationalen Notstand der Teilung Deutschlands und neben dem bevölkerungspolitischen Notstand des nicht versiegenden Flüchtlingsstroms nicht noch einen dritten Notstand leisten können, nämlich den parlamentarischen Notstand einer fehlenden deutschen Initiative.

    (Beifall bei der FDP.)




    Dr. Mende
    Das würde in der Tat dann den Vorwurf gegen uns rechtfertigen, daß wir unsere eigene Verantwortung auf die vier Mächte verlagern.
    Aber es geht auch nicht, daß die Mächte wiederum die Verantwortung, die sie im Jahre 1945 mit der Zoneneinteilung übernommen haben, leugnen und sie auf die Schultern der Deutschen abzuwälzen suchen. Die Sowjetregierung macht hier eine merkwürdige Unterscheidung. Sie gibt wohl zu, daß es — ich zitiere wörtlich — „eine Verantwortung der vier Großmächte für die friedliche Regelung der Deutschlandfrage gibt" — ,so in der Note an die DDR vom 18. September 1957 —, aber sie will nichts von einer Verantwortung der vier Mächte für die Wiedervereinigung Deutschlands wissen. Die Sowjetregierung sagt unentwegt, daß die Vereinigung Deutschlands eine innerdeutsche Angelegenheit sei, zuletzt wörtlich in der Note an die Bundesrepublik vom 19. September 1958. Mit anderen Worten: Die Sowjetregierung ist bereit, über einen Friedensvertrag mit Gesamtdeutschland zu verhandeln, lehnt es aber ab, über die Wiedervereinigung zu verhandeln. Das ist eine sehr hintergründige Unterscheidung. Die Sowjetregierung liefert dem, der dem Verhandlungswege unter allen Umständen ausweichen will, bereitwillig das Argument zur Verhandlungsflucht. Sie macht es ihm leicht, sich damit zu entschuldigen, daß alles Verhandeln ohne Wiedervereinigung zwecklos sei.
    Über diese sowjetische Taktik sollten einmal alle nachdenken, die aus den jüngsten Noten Moskaus herausgelesen haben, daß der von der Sowjetregierung vorgeschlagene Friedensvertrag ein Vertrag zur Verewigung der Teilung Deutschlands sei. Ich kann mir denken, daß die Sowjetregierung einige Gründe hat, uns in diese Falle der Mißverständnisse tappen zu lassen. Vielleicht hat sie gar kein Interesse daran, mit uns über Friedensvertrag und Wiedervereinigung zu sprechen, wenn wir nicht verhandlungswillig und darüber hinaus auch opferwillig sind. Wir sollten den Mut haben, meine Kolleginnen und Kollegen, der westdeutschen Bevölkerung zu sagen, daß die Wiedervereinigung auch Opfer erfordert.
    Allerdings — und hier wiederhole ich nur, was alle Vorredner bereits festgestellt haben — darf dieses Opfer niemals die Freiheit sein.

    (Beifall bei der FDP.)

    Auch uns Freien Demokraten ist ein zweigeteiltes Deutschland, in dem wir 52 Millionen Bundesrepublikaner frei sind und die Grund- und Freiheitsrechte ein selbstverständlicher Bestandteil unseres Lebens sind und woraus 17 Millionen Mitteldeutsche die Hoffnung schöpfen, daß sie es auch einmal erreichen, immer noch lieber als ein einiges Deutschland von 70 Millionen unter dem Sowjetstern, unter Hammer und Sichel.

    (Beifall rechts und in der Mitte.)

    Jegliche Kompromißbereitschaft hört auf, wo die Grund— und Freiheitsrechte der rechtsstaatlichen Ordnung eingeschränkt werden sollen.
    Vielleicht ist es der Sowjetregierung nur recht, wenn wir uns gegen den Friedensvertrag und damit die Wiedervereinigung sträuben, da sie aus der Teilung Deutschlands ja zumindest immer noch sichtbaren Nutzen zieht. Andererseits kennt die Sowjetregierung das deutsche Volk gut genug, um nicht so töricht zu sein, ihm gegenüber eine Politik der ewigen Teilung Deutschlands zu vertreten. In Wirklichkeit weiß sie längst, daß man nicht über einen Friedensvertrag mit Gesamtdeutschland verhandeln kann, ohne über die Wiedervereinigung zu sprechen. Lassen wir uns doch nicht durch diese Unterscheidung Moskaus bluffen. Friedensvertrag ist Wiedervereingiung, wenn wir es selber wollen. In Moskau wie in Berlin wie in Bonn gilt der banale Satz: Man kann nicht über einen Schimmel verhandeln, ohne ein Pferd zu meinen. Es ist an uns, dafür zu sorgen, daß der Friedensvertrag mit der Wiedervereinigung in eins zusammenfällt und daß das eine den vertraglichen Rahmen für das andere abgibt.
    Deshalb interessiert die Fraktion der Freien Demokraten in der Sowjetnote vom 19. September 1958 ein einziger Satz; er lautet:
    Die Sowjetregierung hat den Regierungen der USA, Englands und Frankreichs ihre Bereitschaft mitgeteilt, an der Arbeit der Kommission aus Vertretern der vier Mächte zur Durchführung von Konsultationen zur Vorbereitung eines deutschen Friedensvertrages teilzunehmen, und hat ihrerseits die Regierungen dieser drei Mächte aufgerufen, alles Erforderliche für ihre baldigste Einberufung zu tun.
    Das ist kein Njet, sondern ein klares Ja zum Vorschlag einer ständigen Deutschlandkonferenz. Gewiß, auch ich hätte es angenehmer empfunden, wenn die Sowjetregierung mit diesem Ja zur Sache auch ein Ja zur Geste des Bundestages vom 2. Juli dieses Jahres verbunden hätte, statt in eine von uns nicht gesuchte und nicht gewünschte Polemik einzutreten. Aber das ist zweitrangig! Halten wir die Hauptsache fest: die Sowjetregierung ist bereit,
    I sich an einer ständigen Deutschlandkonferenz zu beteiligen, die baldigst mit den Vorarbeiten für einen deutschen Friedensvertrag, in dem ich nichts anderes als den notwendigen neuen Deutschlandvertrag sehe, beginnt.
    Wie verhalten sich demgegenüber die Westmächte? Mit dankenswertem Eifer haben die Außenminister Großbritanniens und Frankreichs sowie die Sprecher Italiens, Chiles und Islands sich vor den Vereinten Nationen in New York für das deutsche Anliegen der Wiedervereinigung ausgesprochen. Aber bei aller Dankbarkeit möchte ich nicht verhehlen, daß es mich mit Sorge erfüllt. wenn von westlicher Seite unrealistische Vorschläge zur Lösung der deutschen Frage vorgebracht werden, die sich zwar auf dem Papier wunderbar ausnehmen, in den nächsten 50 bis 100 Jahren aber keine Aussicht auf Verwirklichung haben. Sie wissen ja, meine Berlinerinnen und Berliner, von wem das Zitat der „50 bis 100 Jahre" stammt; nicht von einem deutschen Politiker! Selvyn



    Dr. Mende
    Lloyd hat vor der UNO wieder einmal den Primat der gesamtdeutschen Wahlen als die einzige mögliche und gerechte Lösung der Deutschlandpolitik hingestellt. Die Berliner Erklärung, die während des Bundestagswahlkampfes am 29. Juli 1957 hier verkündet wurde, tat das gleiche.
    Längst aber hat sich im Deutschen Bundestag und in der realistischen Beurteilung der Welt die Erkenntnis durchgesetzt, daß es mit einzigen Lösungen nicht getan ist, daß es auch keine einzige Alternative gibt, sondern daß man neue Modelle suchen muß, wenn die alten Modelle uns nicht weiterbringen. Niemand in diesem Bundestag verzichtet darauf, daß ein wiedervereinigtes Deutschland frei wählen darf. Aber freie Wahlen sind kein Zauberwort, das uns die Wiedervereinigung etwa über Nacht bringen kann. Freie Wahlen werden nicht am Anfang, sondern am Ende erfolgreicher Deutschlandverhandlungen stehen, gewissermaßen als Krönung unserer Bemühungen, nicht aber am Beginn als Zauberlösung. Es wäre schmerzlich, wenn unsere westlichen Verbündeten optimale Forderungen wiederholten, deren Ergebnis darin bestünde, daß es beim toten Punkt in der deutschen Frage bleibt und wir uns in der deutschen Frage gegenseitig selber blockieren.
    Am Vorabend unserer heutigen Plenarsitzung in Berlin haben die drei Westmächte überraschend — vielleicht als günstige Anregung für diese Debatte — in einem Aide-memoire an die Bundesregierung die Initiative des Bundestages vom 2. Juli dieses Jahres begrüßt und sich bereit erklärt, das deutsche Problem in einem gesonderten Vier-
    Mächte-Gremium zu erörtern. In dieser bereitwilligen Zusage sehe ich einen Fortschritt, der für Deutschland und seine Wiedervereinigung entscheidende Bedeutung erlangen kann.
    Überhaupt scheint mir das für die Bundesrepublik bestimmte Aide-memoire der Westmächte erfreulicherweise genügend Spielraum zu lassen, um über die bekannten Hindernisse hinweg zwischen Ost und West eine Verständigung über den Zusammentritt des Vier-Mächte-Gremiums erzielen zu können. Dagegen entnehme ich den heutigen Presseberichten, daß die westlichen Antwortnoten an die Sowjetregierung offenbar von dem Willen beseelt sind, dem russischen Njet ein nicht minder kräftiges westliches Nein entgegenzusetzen. Es wäre schade, wenn der genannte Spielraum durch dieses Nein wieder eingeschränkt würde.
    Wir Freien Demokraten vertreten die Auffassung, daß die Bundesregierung gut daran tat, am 20. und 21. März dieses Jahres im Deutschen Bundestag zu erklären, sie werde eine Deutschlandkonferenz der vier Mächte nicht an einer Teilnahme Ostberliner Vertreter scheitern lassen; so nachzulesen in den Protokollen des Deutschen Bundestages. Wenn aber die Bundesregierung ihre Bedenken gegen eine solche Teilnahme zurückstellt, ist schwerlich einzusehen, warum die Westmächte in diesem Punkte unnachgiebiger sein sollten als die Bundesregierung.
    Noch vor dem Zusammentritt einer ständigen Deutschlandkonferenz wird es schwierige Fragen zu lösen geben. Ist sie erst zusammengetreten, werden sich die Dinge noch härter im Raum stoßen. Wir sind keine Illusionisten. Deshalb können wir es uns ersparen, über dieses oder jenes im jüngsten Notenwechsel zu streiten. Legen wir uns nicht selber durch voreilige Festlegungen den Stolperdraht vor die eigenen Füße. Im Ringen der Mächte um die Wiedervereinigung ist es nicht Aufgabe der Deutschen, Schwierigkeiten zu machen, sondern Aufgabe der Deutschen ist es, Schwierigkeiten auszuräumen.

    (Beifall bei der FDP.)

    In diesem Punkte dürfen und müssen wir von den Österreichern lernen, ohne daß ich das österreichische Modell unbesehen für die Lösung der deutschen Frage übernehmen möchte.

    (Abg. Frau Dr. h. c. Weber [Essen] : Das kann man auch nicht!)

    — Die anderen sorgen schon, Frau Kollegin Weber, daß es Schwierigkeiten geben wird. Sorgen wir dafür, daß die deutsche Frage endlich aus dem Stadium dieser ewigen Deklamationen herauskommt und in das Stadium der Verhandlungen mit konkreten Vorschlägen kommt.

    (Beifall bei der FDP und der SPD.)

    Uns Freie Demokraten interessiert daher kein Auslegungsstreit zwischen West und Ost, zwischen Moskau und Bonn, sondern nur das Datum des Zusammentritts der ständigen Deutschland-Konferenz, das Datum des ersten Konferenztages, der die deutsche Frage auf eine Tagesordnung setzt, von der sie nicht mehr herunterkommen darf, bis Deutschland wiedervereinigt und damit auch die Ursache des Flüchtlingselends, das wir hier in Berlin diskutieren, beseitigt wird.

    (Beifall bei der FDP und der SPD.)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Kalinke.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Margot Kalinke


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (DP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Fraktion der Deutschen Partei wünscht, daß diese Stunde, in der wir in der Reichshauptstadt Berlin mit allen Fraktionen uns in gemeinsamer Sorge um die Lösung der brennenden Not unserer deutschen Brüder und Schwestern bemühen, nicht nur eine historische, sondern eine gesegnete Stunde sein möge; und wir hoffen, daß das Gespräch und die Verhandlungen, die wir heute führen, denen, die hierher hören und die hierher denken, Mut, Glauben und Hoffnung stärken mögen, daß aber denen, die an der Bilanz des Unrechts, die in dieser Aussprache so sichtbar geworden ist, schuldig geworden sind, das Gewissen geschärft werden möge und ihnen erneut klar wird, daß die deutsche Einheit eine geschichtliche Tatsache ist, eine geschichtliche Tatsache, auch wenn sie durch Gewalt gegen den Willen des Volkes beseitigt worden ist.

    (Beifall bei der DP.)

    Nur die staatliche Organisation Deutschlands ist gespalten. Wir bekennen hier heute erneut, daß



    Frau Kalinke
    Volk und Nation auch heute noch eine Einheit sind. Darum protestieren wir gemeinsam gegen alle Maßnahmen des Terrors und der Unmenschlichkeit, mit denen unsere Brüder und Schwestern in dem unfreien Teil Deutschlands gehindert werden, das Bewußtsein der geschichtlichen und politischen Einheit unseres Volkes durch freie Willensentscheidung deutlich zu machen.
    Um diese Einheit zu erhalten, bedarf es der menschlichen Kontakte unter den Angehörigen des Volkes. Wer, gleichgültig welchen Glaubens, welcher Partei, ob Mann oder Frau, kann, wenn er Herz und Verstand prüft, abstreiten oder verschweigen, daß in unserer Welt so vieler eingeschläferten und beschwichtigten Gewissen auch manche Desinteressiertheit sich breitmacht, ein Nichtteilhabenwollen an dem peinlichen Gedanken, daß es morgen anders sein könnte und daß wir morgen schon bar aller Sicherheiten bereit sein müssen zu Entscheidungen, die ungewöhnliche und ungewohnte Opfer von uns fordern können. Wir leben in einer Welt, in der nicht nur die Grundfreiheit der Lebensführung, sondern die Freiheit des Geistes für Millionen gefährdet ist.
    Ich hoffe, daß die Verständigung, die heute so erfreulich erreicht zu sein scheint, durch nichts gestört wird, was geeignet sein könnte, die Lösung der Probleme unserer großen nationalen Not zur Parteipolitik herabzuwürdigen.

    (Beifall bei der DP und bei der CDU/CSU.)

    Ich hoffe vielmehr, daß Regierung und Opposition nicht nur heute in Berlin, sondern auch in der Zukunft immer wieder bereit sein mögen, alle die Entscheidungen zu treffen, die in der ungeheuren Not unseres Volkes nur gemeinsame Entscheidungen sein können.

    (Beifall bei der DP.)

    Ich hoffe, daß wir uns als Gesamtvolk bereit finden, gegen die teuflische Macht der Unfreiheit, die nicht nur das geteilte Deutschland bedroht, die Schroffheit unserer parteipolitischen Gegensätze in allen Fragen des gesamtdeutschen Anliegens zu mildern, den Ton der Auseinandersetzungen zu mäßigen und gemeinsam nach Wegen der Lösung zu suchen.
    Ich begrüße daher jede Möglichkeit und jede vernünftige Aktivität, die geeignet ist, international und national die gestörten Kontakte und menschlichen Beziehungen wiederherzustellen, eine Aktivität, die dazu beitragen könnte, die Situation der mitteldeutschen Bevölkerung zu mildern und zu bessern. Darum können wir heute nicht darauf verzichten, nicht nur von der Sowjetregierung, sondern von allen Menschen, die Einfluß auf die Politik nehmen können, besonders aber von den russischen Machthabern und den Völkern der Sowjetunion das Recht auf Selbstbestimmung, das Recht auf Freizügigkeit, das Menschenrecht der Familienzusammenführung zu fordern und sie immer wieder zu mahnen, daß die Anerkennung der Gebote der reinen Menschlichkeit den deutschen Menschen in der Zone nicht länger versagt werden möge.
    Gefährlicher aber, meine Damen und Herren, als die Spaltung der staatlichen Organisation Deutschlands scheint mir die zunehmende Entfremdung unserer Sprache, der Begriffe und ihrer Deutung. Lebensgefährlich, nicht nur für Deutschland, sondern für die ganze freie Welt scheint mir die unsere geistige und soziale Ordnung bedrohende Spaltung der sozialen und wirtschaftlichen Einheit Deutschlands. Da kann es keine internationalen Auflagen, sondern nur noch ein nationales Selbstbestimmungsrecht aller Deutschen geben, und dieses Selbstbestimmungsrecht unserer Nation muß gegen jede Intervention geschützt werden. Die These von der sozialen Abwehr ohne mutige Entscheidung zu einem Nein gegenüber allen Versuchungen, die Sozialpolitik zum Aushandelsobjekt zu machen, bringt daher keine Freiheit, sondern kann vielmehr den Verlust aller Freiheit für alle bedeuten. Der gesellschaftspolitische Gegensatz kann nur durch die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Völker und des Prinzips der Nichteinmischung entschärft werden.
    Es gibt heute sicher Menschen in allen Parteiungen, die nicht nur das Risiko der wirtschaftlichen und sozialen Existenz, sondern auch das Risiko der geistigen Entscheidung auf den Staat abwälzen möchten, und sicher auch manchen, der den Verlockungen glänzender Sicherheitsversprechen der sogenannten sozialen Errungenschaften des kommunistischen Sozialismus nachgeben möchte. Wir müssen wachsam sein, damit unser Volk und alle Selbstzufriedenen unseres Volkes, die nichts mehr wagen wollen, sich der Gefahr bewußt bleiben, daß der Beschränkung unserer Freiheit durch freiwillige Aufgabe der Selbstverantwortung und der Risikobereitschaft der Verlust der Freiheit für alle folgen wird.

    (Beifall.)

    Eine staatliche Sozialpolitik und eine staatliche Gesundheitspolitik nach kommunistisch-sozialistischen Vorstellungen könnte daher die Ausbreitung dieses Virus eher fördern als bekämpfen. Der soziale Wettbewerb zwischen den beiden Teilen Deutschlands ist sichtbar und wird täglich neu ausgetragen. In der DDR hat er zu einer Tragödie ohnegleichen geführt. Der uns heute beschäftigende Flüchtlingsstrom, dessen Unglück und dessen Probleme der Minister für gesamtdeutsche Angelegenheiten heute so überzeugend, aber auch so erschütternd und erregend deutlich gemacht hat, ist nur ein Teil dieser Tragödie.
    In diesem Wettbewerb zwischen unserer freiheitlichen Wirtschafts- und Sozialordnung und der kommunistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die einem Teil unseres Volkes gegen seinen Willen aufgezwungen wurde, wird die Arbeitsleistung der deutschen Menschen in Ost und West sehr unterschiedlich bewertet, und der Anteil an dem Erfolg der Arbeit wird sehr unterschiedlich verteilt. Niemand von uns ist im Besitz der ganzen Wahrheit. Wir sollten bekennen, daß auch unsere soziale Ordnung — nur insofern stimme ich mit dem Kollegen Schmid überein —, daß auch unsere Freiheiten — dabei denke ich an die Koalitionsfreiheit der arbei-



    Frau Kalinke
    tenden Menschen ebenso wie an die Zusammenarbeit von Arbeitnehmern und Arbeitgebern — einer Bewährungsprobe ausgesetzt werden.
    Die Flucht nicht nur der Unselbständigen, sondern nun auch der Angehörigen der freien Berufe und der Selbständigen aus der Zone, die Massenflucht der geistig Schaffenden in die Freiheit und soziale Ordnung unseres Rechtsstaates darf nicht zu sozialen Enttäuschungen führen. Hier entstehen Regierung und Parlament Aufgaben, die wir vordringlich lösen müssen. Mögen auch die Erkenntnisse und Bekenntnisse, die bei der Tagung des Kuratoriums „Unteilbares Deutschland" manchen gemeinsamen Ausdruck fanden, dazu beitragen, daß unsere freiheitliche Ordnung nicht durch egoistisches oder übersteigertes Machtstreben organisierter Gruppen gefährdet wird, sondern daß sie vielmehr mit allen Kräften, die guten Willens sind, verteidigt wird, damit keine politische Macht die Axt an die Wurzeln unserer Freiheit legen kann.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Die Menschen in der Zone wissen, daß mit dem Verlust der Freiheit in der Bundesrepublik auch ihre Hoffnung auf Freiheit im vereinten Deutschland verlorengeht.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Sie wissen auch — was viele Plänemacher nicht zu wissen scheinen —, daß Drohungen einerseits und Angebote zweifelhaften staatsrechtlichen Inhalts nur denen nützen, die alles Entgegenkommen und ) alles Suchen nach Entspannung für Schwäche halten.
    Ich wehre mich auch entschieden gegen den Begriff sogenannter sozialer Errungenschaften. Was dort als Fortschritt gepriesen wird, ist, gemessen an der Not der Menschen, die hier heute so deutlich geworden ist, sozialer Rückschritt.

    (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

    Was dort als Errungenschaft gerühmt wird, ist Verlust der Freiheit, und ohne sie gibt es keine wirkliche soziale Sicherheit.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Daher muß jedermann wissen, daß jeder Vorschlag und jeder Kompromiß, der einer Ausbreitung des kommunistischen Sozialismus Vorschub leistet oder seine sogenannten und recht fragwürdigen Errungenschaften ganz oder teilweise, offen oder versteckt übernehmen will, die Chancen echter Entspannung vermindert. Wirtschaftspolitische Gegensätze solchen Ausmaßes sind nicht durch Kompromisse zu überwinden, weil die Freiheit unteilbar ist, weil die Entscheidung über alle hier so leidenschaftlich diskutierten Fragen bei Moskau liegt und die sowjetische Regierung heute erneut an die Grundlagen des Völkerrechts, die von der ganzen Welt anerkannt wurden, erinnert werden mußte.
    In der neueren Geschichte Rußlands ist das Wort von der Humanität genauso oft und, ich nehme an, genauso ernst gebraucht worden wie in der neueren Geschichte Europas und der übrigen freien Welt, wo die Ideale der allverbindenden Humanität seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein neues politisches Denken eingeleitet haben. Politischer Ausdruck unseres Denkens ist unsere moderne, freiheitliche, an die Selbstverantwortung wie an die Solidarität appellierende Sozialpolitik,

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    ist das Zustandekommen und die Arbeit der UNO, ist vor allem der Inhalt der Konvention der Menschenrechte, zu der sich auch Rußland verpflichtend bekannt hat. So verschieden die Doktrinen, so unterschiedlich die Ideale der Völker sein mögen, die Humanitätsidee als Basis der Konvention der Menschenrechte wird von allen Menschen in allen Völkern gleich verpflichtend empfunden. Zu welcher Religion und welcher Konfession die Regierenden sich auch bekennen mögen, angesichts der weltweiten Not und Angst, die niemanden unberührt lassen darf, sollten die Machthaber der Welt erneut bedenken, daß für die Staatsmänner in unserer Zeit nichts bedeutsamer sein kann, als den Völkern endlich den Frieden zu schenken. Für alle gilt die Mahnung, die der chinesische Verfasser der großen Lehre schon vor über 2000 Jahren schrieb: sich menschlichen Herzens gegenüber seinen Nächsten zu bezeigen.
    Lassen Sie mich aber, meine Herren und Damen, als Frau und als Mensch des deutschen Ostens, der seine Heimat verloren hat, sie aber wie die Millionen unserer Vertriebenen nie aufgeben kann und wird, jetzt vor allem noch einige Worte im Namen der Frauen sprechen. Wir Frauen, die wir die Last zweier Kriege, das Elend der Austreibung, die Not des Krieges hier im Lande und das Grauen der Nachkriegszeit erfahren und ertragen haben, sind mißtrauisch gegen phantastische Pläne und große Versprechen. Wir wollen endlich reale, also sichtbare Zeichen des guten Willens erkennen. Wir wollen bei denen, die so viel von Frieden und Menschlichkeit sprechen und so viel Unmenschliches und Unfriedliches zu verantworten haben, endlich diesen guten Willen sehen.
    Deshalb wenden wir uns heute an das Gewissen der ganzen Welt, vor allem aber an Moskau mit der Bitte, dem unendlichen Leid der deutschen Mütter, der Not so vieler von ihren Familien getrennter Kinder und Jugendlichen,

    (Beifall bei den Regierungsparteien)

    der Sorge, der Ausweglosigkeit der alleinstehenden alten Menschen, die die Geborgenheit der Familie und der Heimat verloren haben, endlich ein Ende zu bereiten.

    (Erneuter Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Trotz der Bitterkeit aller Enttäuschungen, trotz der Bitternis des ewigen Neins, trotz aller leidvollen Erfahrungen mit dem Gegensatz von Worten und Taten, von Versprechen und Halten sollten wir zäh und geduldig an der Bereitschaft zum Verhandeln und zum Gespräch festhalten, und wir sollten nicht müde werden, ebenso geduldig alle Vorschläge und Schritte zu prüfen, die durch Verhandlungen dem Abbau des Mißtrauens und damit der Entspannung dienen könnten. Wenn es einen Friedenswillen der Völker im Osten und im Westen



    Frau Kalinke
    wirklich gibt — und wer kann daran zweifeln? —, dann wird, so hoffen wir Frauen für alle Mütter und Väter der Welt, unsere Bitte gehört werden. Wir hoffen aber auch, daß wir endlich die Wahrheit erfahren, damit wir der Wahrheit dienen können.
    Ich glaube nicht, daß wir die Freiheit unserer deutschen Menschen mit einem materiellen Preis bezahlen können. Ich hoffe aber auf die wachsende Einsicht und glaube an den Durchbruch moralischer Prinzipien bei denen, die allein den Schlüssel zur Freiheit und Selbstbestimmung unseres deutschen Volkes haben. Das deutsche Volk, in leidvollen Erfahrungen geprüft, arbeitsam und friedfertig in Ost und West, will ebenso wie seine Vertretung in diesem Hause den Frieden mit allen Völkern. Es will keinen Krieg gegen das sozialistische Lager, und es kennt keinen Gedanken an Revanche, wie er uns immer wieder unterstellt wird. Das deutsche Volk wird den Männern und Frauen der Völker in der Sowjetunion ewig dankbar sein, die dazu beitragen, der Knebelung der Freiheit und den kalten und unmenschlichen Methoden des Zwanges in der DDR endlich ein Ende zu bereiten.
    Weil jedes Volk über seine Staats- und Gesellschaftsform selbst entscheiden muß, fordern wir so leidenschaftlich die freie Selbstbestimmung und Entscheidung für die Teile unseres Volkes, denen sie noch versagt ist. Wir hören heute erschüttert die bittere Klage der Menschen der Zone, die nicht am Abgrund, sondern schon mittendrin stehen. Wir sehen zutiefst bewegt immer wieder die von Not und Angst geprägten Gesichter der Flüchtlinge, und wir fragen: Wie verträgt sich solches mit der Erklärung, die Chruschtschow unlängst Stevenson gab, „daß sich keine Großmacht in der Welt über die öffentliche Meinung hinwegsetzen kann" und ihre Entscheidungen von ihr abhängig machen muß. Das gilt nicht nur für das Paßgesetz, das heute schon genannt worden ist, sondern vor allem für das tägliche Unrecht gegenüber den Menschen in der Zone. Wenn der Versicherung des ostzonalen Länderkammerpräsidenten Bach anläßlich des Ost-CDU-Parteitages in Dresden geglaubt werden soll, „daß die DDR ein Rechtsstaat ist, in dem es keinen Platz für Willkür und selbstherrliche Bestimmungen gibt", wenn Ulbricht „das friedliebende demokratische Deutschland", von dem er immer wieder spricht, wirklich will, wenn er, wie wir, „den Frieden und das Glück aller Bürger" wirklich will, wenn es ihm wirklich ernst ist mit seinen Erklärungen, niemanden vergewaltigen zu wollen, dann möge er noch heute den Vorhang hochziehen, damit die Sonne der Menschlichkeit und der Freiheit unseren gequälten Brüdern und Schwestern wieder strahlt, damit Deutsche mit Deutschen sprechen, arbeiten und leben können.
    Wir Frauen sind dankbar für jedes Zeichen guten Willens. Wir begrüßen daher jeden ehrlichen Versuch, die Sache der großen deutschen Not zur gemeinsamen Sache aller Deutschen zu machen. Lassen Sie uns hier in Berlin, in unserer Reichshauptstadt, gemeinsam versprechen, keine Opfer zu scheuen, damit der Weg von Deutschland nach Deutschland frei wird, damit die Grundfreiheiten, wegen deren Versagung Millionen flüchten müssen, endlich allen Deutschen zuteil werden. Es geht um die Freiheit von Not und Furcht, um die Freiheit des Glaubens, die Freiheit der Meinungsäußerung, die Freiheit des Lernens und Lehrens. Es geht um die Freiheit unserer Eltern und Erzieher, dem Rat ihres Gewissens zu folgen, und es geht um die Freiheit, die Gräber unserer Toten besuchen und pflegen zu dürfen. Es geht aber auch um die Freiheit, alle Bande der Liebe, der Freundschaft, der Nachbarschaft zu pflegen und wieder zu erneuern.
    Die Herzen der Menschen, die aus Sorge um das Vaterland und seine Not nicht schlafen, sind schwer von Problemen, von gegenwärtigen und zukünftigen. Die Seelen vieler Menschen sind erfüllt von Angst und Panik, von Sorge, Not und Unsicherheit. Das Gewissen vieler Deutscher ist belastet mit der drückenden Frage, ob wir auch immer ausreichend geholfen haben, ob wir auch wirklich alles getan haben, ob wir wirklich immer bereit waren, als Christen für unsere Nächsten, die in Not sind, zu tun, was in unseren Kräften steht.
    Darüber hinaus ist jedem deutschen Menschen, aber auch der ganzen freien Welt die Gewissensfrage gestellt, ob wir der unter dem Motto der Neutralität sich einschleichenden Schwäche auch immer entschieden genug begegnet sind. Trotzdem ich in vielen Mahnungen mit dem Kollegen Schmid übereinstimme, muß ich ihm doch sagen, daß ich ihm in der Kritik, daß der Westen keine zündende Idee hat, nicht folgen kann. Unsere zündende Idee ist die Freiheit, die Freiheit, die unteilbar ist. Es ist das Wesen der freiheitlichen Ordnung, daß sie keine Kollektivzündungen und keine Suggestivbegeisterung in Richtung ideologischer Wunschbilder und keine sogenannten Gesellschaftskorrekturen zuläßt.

    (Beifall rechts und in der Mitte.)

    Mir scheint, man vermißt hier vielleicht den nationalsozialistischen, kommunistischen und im Grunde noch vielen Sozialisten nahen Stil der Begeisterung, von dem ich nicht wünschen möchte, daß er bei uns noch einmal auflebt. Ich stimme aber mit dem Kollegen Schmid überein in der Beurteilung der Idee, die dem Appell Jaspers' zur Wahrhaftigkeit zugrunde liegt. Wer wäre nicht fasziniert gewesen von dem Mut und der Aufrichtigkeit, von der Kritik und der Mahnung zur politischen Selbsterziehung, mit der Jaspers an die Parteien appelliert hat, und von seinem Aufruf zur Besinnung, seiner Mahnung, die bevorstehenden Prüfungen zu bestehen!
    Ich hoffe, meine Herren und Damen, Sie stimmen mit mir darin überein, daß die gedankenlose Angst vor Experimenten, der Schrei nach immer mehr und immer höherem Wohlstand, der wachsende Egoismus einzelner und ganzer Institutionen mit ihren organisierten Wünschen, das Verschließen der Augen vor der nüchternen Wahrheit — der Wahrheit, daß staatliche Hilfen und soziale Leistungen ihren Preis kosten — und manche mangelnde Bereitschaft, für die unersetzlichen Werte der Freiheit zu opfern und zu kämpfen, mutig überwunden werden muß, wenn die große Aufgabe der



    Frau Kalinke
    Wiedervereinigung gelöst werden soll. Unsere Verpflichtung besteht gegenüber allen Brüdern und Schwestern, vor allem denjenigen, die die Zeche einer verfehlten Politik ,am härtesten mit dem Verlust der Freiheit und der Heimat bezahlen mußten. Bei dem Bukett sozialpolitischer Forderungen werden wir zu prüfen haben, wieweit die vordringliche Behandlung von Flüchtlingsfragen das Gebot der Stunde ist und wieviel wir denen zumuten müssen, die in der Lage sind, zugunsten neuer Schichten von Schutzbedürftigen zu verzichten und zu opfern.
    Lassen Sie mich zum Schluß

    (Bravo-Rufe)

    — es ehrt Sie nicht, meine Herren und Damen, daß Sie wegen dieses Wortes Beifall klatschen —, getrost und mutig ein Wort aus dem Zonenvokabular übernehmen: Lassen Sie uns auch „immer bereit sein", bereit zum Opfer, bereit zur rettenden Tat! Lassen Sie uns die Stunde der Entscheidung, die täglich schlagen kann, nicht durch Schwäche und Lauheit versäumen, sondern den Bedrohungen unserer gefahrvollen Zeit tapfer Widerstand leisten! Es geht nicht um halb- oder totalsozialistische Ideen und Theorien, es geht auch nicht mehr um liberale oder konservative oder christliche Thesen, es geht ganz einfach um das Leben unseres Volkes in Freiheit, für das uns kein Opfer zu groß sein darf. Es genügt auch nicht, an die Unteilbarkeit Deutschlands zu glauben; es gilt, für das unteilbare Deutschland zu leben, zu arbeiten, zu opfern und darum zu beten, daß sich das Wort Hölderlins erfüllen möge: „Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch!"

    (Beifall rechts und in der Mitte.)