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ID0304100700

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    Deutscher Bundestag 41. Sitzung Berlin, den 1. Oktober 1958 Inhalt: Ansprachen zu Beginn der Tagung in Berlin Präsident D. Dr. Gerstenmaier . . 2391 A Brandt, Regierender Bürgermeister 2391 B Glückwünsche zu den Geburtstagen der Abg. Frau Wessel, Dr. Leverkuehn, Frau Welter (Aachen), Reitzner, Jahn (Frankfurt), Dr. Schneider (Lollar) und Stauch . 2393 A Abg. Meis (CDU/CSU) tritt als Nachfolger des verstorbenen Abg. Dr. h. c. Arnold in den Bundestag ein 2393 B Abg. Wilhelm (SPD) tritt als Nachfolger des Abg. Schreiner in den Bundestag ein 2393 B Abg. Eplée (CDU/CSU) tritt als Nachfolger des Abg. Dr. Meyers (Aachen) in den Bundestag ein 2393 B Abg. Dr. Schneider (Lollar) (DP) tritt als Nachfolger des Abg. Euler in den Bundestag ein 2393 C Amtliche Mitteilungen 2393 C Große Anfrage der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD, FDP, DP betr. Flüchtlingsfragen und Zonenverhältnisse (Drucksache 546) Wehner (SPD) 2394 B Lemmer, Bundesminister 2397 B Dr. Gradl (CDU/CSU) 2406 A Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD) . . 2411 A Dr. Mende (FDP) 2416 B Frau Kalinke (DP) 2420 D Kiesinger (CDU/CSU) 2424 B Einstimmige Annahme der Entschließung Umdruck 160 2426 D Nächste Sitzung 2426 D Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 41. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Oktober 1958 2391 41. Sitzung Berlin, den 1. Oktober 1958 Stenographischer Bericht Beginn: 14.03 Uhr
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    Anlage 1 Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich a) Beurlaubungen Frau Ackermann 4. 10. Bauer (Wasserburg) 4. 10. Blachstein 4. 10. Frau Döhring (Stuttgart) 4. 10. Eplée 4. 10. Frau Dr. Gantenberg 4. 10. Gibbert 4. 10. Giencke 4. 10. Günther 4. 10. Hilbert 4. 10. Josten 4. 10. Knobloch 4. 10. Koenen (Lippstadt) 4. 10. Dr. Kopf 4. 10. Kunze 4. 10. Dr. Löhr 4. 10. Dr. Baron Manteuffel-Szoege 4. 10. Müser 5. 10. Peters 4. 10. Dr. Pferdmenges 4. 10. Pietscher 6. 10. Dr. Preusker 1. 10. Stauch 3. 10. Dr. Wilhelmi 1. 10. Wischnewski 5. 10. b) Urlaubsanträge Berkhan 30. 10. Dr. Böhm 10. 10. Dowidat 10. 10. Engelbrecht-Greve 4. 11. Frehsee 4. 11. Frenzel 5. 11. Dr. Gülich 11. 10. Dr. Höck (Salzgitter) 25. 10. Jahn (Frankfurt) 10. 10. Maier (Freiburg) 22. 11. Muckermann 12. 10. Rasner 28. 10. Frau Schmitt (Fulda) 17. 10. Dr. Schneider (Saarbrücken) 18. 10. Schoettle 18. 10. Anlage 2 Umdruck 160 Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP, DP zur Beratung der Großen Anfrage der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP, DP betr. Flüchtlingsfragen und Zonenverhältnisse (Drucksache 546) Der Bundestag wolle beschließen: Die heutigen Erklärungen der Bundesregierung über die politischen Verhältnisse im sowjetischen Besatzungsbereich Deutschlands und über das sich aus diesen Verhältnissen ergebende Flüchtlings- Anlagen zum Stenographischen Bericht problem veranlassen den Deutschen Bundestag zu folgenden Feststellungen: I. Seit mehr als zehn Jahren dauert jetzt der Flüchtlingsstrom an, trotz aller Behinderungen und Sperren, die das Zonenregime zwischen die beiden Teile Deutschlands legt. Die Zahl von mehr als drei Millionen Flüchtlingen allein aus Mitteldeutschland ist der erschütternde Ausdruck der Existenz- und Gewissensnot, die auf der deutschen Bevölkerung zwischen Elbe und Oder lastet. Er ist der Beweis, daß das, was den Menschen in Mitteldeutschland zugemutet wird, über die Grenze der Leidensfähigkeit hinausgeht. Er ist aber auch der klare Beweis, daß die Mitteldeutschen nicht in den ihnen aufgezwungenen Verhältnissen leben wollen. Der Bundestag protestiert gegen die fortdauernde Verletzung der Gesetze der Menschlichkeit. Es ist nicht nur ein Gebot politischer Klugheit und weitblickenden Verständigungswillens, sondern der reinen Menschlichkeit, den Deutschen in der Zone den Weg zu freier demokratischer Selbstbestimmung und zur gesamtdeutschen Gemeinschaft freizugeben. II. Der Deutsche Bundestag erhebt besonders Einspruch gegen die kaltherzige und heimtückische Knebelung der Freizügigkeit, durch die den Einwohnern der sowjetisch besetzten Zone das Reisen über die Zonengrenze hinweg nahezu unmöglich gemacht ist. Das krasseste Zeichen der Unterbrechung der menschlichen Beziehungen ist der Rückgang des Reiseverkehrs um fast 85 °/o gegenüber dem Vorjahr. Der Deutsche Bundestag wiederholt sein Verlangen, allen Deutschen das Reisen innerhalb Deutschlands endlich freizugeben. Daß von den Besuchern die jeweils im anderen Teil Deutschlands geltenden gesetzlichen und behördlichen Vorschriften zu beachten sind, ist eine Selbstverständlichkeit. III. Die Bundesregierung bleibt aufgefordert, gemeinsam mit den Regierungen der Länder und insbesondere auch mit dem Senat von Berlin weiterhin dafür zu sorgen, daß den Flüchtlingen bei ihrer ersten Aufnahme in die Obhut des freiheitlichen Deutschland jede mögliche menschliche Rücksicht und Hilfe zuteil wird, und daß alles, was geschehen kann, für ihre wirtschaftliche und soziale Eingliederung getan wird. Aber die Aufnahme der Flüchtlinge darf nicht nur eine Pflicht der Behörden sein. Jeder einzelne Deutsche im Bundesgebiet 'ist aufgerufen, zu seinem Teil mitzuhelfen, um dem Flüchtling das tröstliche Gefühl wirklicher Geborgenheit zu geben. Der Welt muß gezeigt werden, daß sich die Deutschen nicht nur in Worten zu der Einheit ihres Volkes bekennen, sondern auch mit helfender Tat. IV. Die Bundesrepublik Deutschland ist sich bewußt, daß sie als Ordnung des staatlichen Lebens für die Zeit bis zur Wiederherstellung der Einheit Deutsch- 2428 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 41. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Oktober 1958 land geschaffen wurde. Der Bundestag wiederholt feierlich den im Grundgesetz enthaltenen Appell, daß das ganze deutsche Volk aufgefordert bleibt, die Einheit und Freiheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung zu vollenden. Die Verpflichtung der Vier Mächte zur Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands wird hierdurch nicht berührt. Der Deutsche Bundestag erwartet die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands von einem unmittelbaren freien Willensentschluß des gesamten deutschen Volkes in seinen heute noch getrennten Teilen, der nach der Beseitigung der nicht in deutscher Zuständigkeit liegenden Hindernisse herbeizuführen ist. Der Deutsche Bundestag erklärt seine Bereitschaft, jede Verhandlung zu unterstützen, die die Wege zu einem solchen Willensentscheid des deutschen Volkes ebnet, sobald eine Vereinbarung der Vier Mächte diese Möglichkeit erschlossen hat. V. Der Bundestag bekennt sich erneut zu seinem einmütigen Vorschlag eines Vier-Mächte-Gremiums, das gemeinsame Vorschläge zur Lösung der deutschen Frage vorbereiten soll. Die Bundesregierung wird beauftragt, sich bei den Vier Mächten weiterhin für die Realisierung des Vorschlages nachdrücklich einzusetzen. Berlin, den 30. September 1958 Dr. Krone und Fraktion Ollenhauer und Fraktion Dr. Mende und Fraktion Schneider (Bremerhaven) und Fraktion
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    Rede von Dr. Johann Baptist Gradl


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der erschreckende Wiederanstieg des Flüchtlingsstroms seit der Jahresmitte hat nur den letzten Anstoß zu der heutigen Debatte gegeben. Schon seit einem Jahr wurde für jeden, der sich in den Verhältnissen in der Zone einigermaßen auskennt, ersichtlich, daß das Regime dort einen neuen Anlauf nehmen würde, um seine Ideologie und seine Macht durchzusetzen. Der rigorose Währungseingriff im Oktober 1957, das Paßgesetz vom Dezember 1957, der verschärfte Druck gegen die Kirchen, die man buchstäblich in die Kirchengebäude einschließen will, der zunehmende atheistische Druck auf den einzelnen, die zunehmenden wirtschaftlichen Drangsalierungen und schließlich der 5. Parteitag der SED im Juli mit seinen blasphemischen zehn Geboten, das alles waren Stationen einer Entwicklung, die neue Not und neues Elend und neue Qual für die Menschen in der Zone bringen mußte. Insofern ist der Wiederanstieg des Flüchtlingsstroms und dessen besondere Zusammensetzung nur ein Beweis dafür, daß die Verhältnisse in der Zone einen neuen traurigen Rekord, einen neuen Höhepunkt der Unerträglichkeit erreicht haben. Dieses Geschehen war sozusagen der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen gebracht hat.
    Wir hier müßten politisch versumpft sein, wir müßten keine nationale Moral haben, wenn wir in dieser Situation nicht aufbegehrten.

    (Beifall bei den Regierungsparteien und bei Abgeordneten der SPD und FDP.)

    Die Bundesregierung und der Bundestag hätten in einer unerhörten Weise ihre Pflicht versäumt, wenn sie nicht die erste passende Gelegenheit benutzt hätten, um sich mit diesen Dingen auseinanderzusetzen.
    Ich glaube, wir sollten bei dieser Gelegenheit auch der deutschen Presse und dem deutschen Rundfunk danken, die während der parlamentarischen Sommerpause laus eigener Verantwortung die Aufmerksamkeit in unserem Lande und in der Welt auf das gelenkt haben, was da geschehen ist.

    (Beifall.)

    Es ist nicht notwendig, daß ich jetzt hier noch Einzelheiten darlege; das wären nur Wiederholungen. Die Begründung, die der Herr Kollege Wehner vorhin für die gemeinsame Große Anfrage gegeben hat, und die Erklärung der Bundesregierung sagen alles, was über die Fluchtbewegung, über die Gründe und über die Zusammenhänge gesagt werden muß. Und was das Geschehen im ganzen bedeutet, ist ohnehin unverkennbar. Dean dieser seit Jahren anhaltende Flüchtlingsstrom ist doch im Grunde eine permanente Bankrotterklärung dieses politischen Systems.

    (Lebhafter Beifall.)

    Wie muß ein System beschaffen sein, wenn jahrein, jahraus Hunderttausende von Menschen alles aufgeben, ihre Wohnung, ihr Haus, ihren Arbeitsplatz, die Kameradschaft des Arbeitsplatzes, die Nachbarn, die Freunde, die Gräber, die Heimat! Wie muß ein System aussehen, das das zuwege bringt!
    Man hat gesagt, viele kämen von drüben aus materiellen Gründen, aus materiellen Gründen verließen sie dieses rote Paradies. Nun ja, wer von uns dürfte dafür kein Verständnis haben! Aber was sich jetzt vollzieht — und was die Menschen in der Zone ehrt —, das ist doch die Tatsache, daß sie auch ohne materielle Not kommen, nur weil sie frei sein wollen,

    (lebhafter Beifall)

    weil sie den Glauben ihrer Väter nicht aufgeben wollen, weil ihnen wertvoller und wichtiger als irgendwelche materiellen Sondervergünstigungen durch die Zonenmachthaber der Wille und die Möglichkeit ist, nach eigener Art zu leben und auch leben zu lassen.

    (in der Zone zu bitten, daß sie doch drüben aushalten mögen, solange es irgend geht, dann tun wir es nicht wegen der materiellen Leistungen, die wir für jeden Flüchtling, der zu uns kommt, aufbringen müssen; wir richten die Bitte an sie nur ganz einfach um des deutschen Landes willen, um der deutschen Substanz willen dort drüben in diesem Land. in dem doch Städte wie Wittenberg und Naumburg und Eisenach und Dresden sind. In der Zone spricht das System, die Propaganda jetzt vorwurfsvoll von sogenannten „linken Übertreibungen". Hinter diesem Wort verbirgt sich etwas sehr Schäbiges. Mit diesem Vorwurf verschieben die Spitzenfunktionäre ihre eigene Schuld auf die kleinen, nachgeordneten Funktionäre. Denen wird vorgeworfen, sie hätten die Beschlüsse des 5. Parteitags falsch verstanden und falsch angewendet. Und was ist die Wirklichkeit? In Wirklichkeit haben diese kleinen Funktionäre Herrn Ulbricht damals sehr gut verstanden. Nur Herr Ulbricht — der hat bei seinen fanatischen Versuchen totaler Gleichschaltung vergessen, daß die Zone nicht anderswo liegt, sondern in Deutschland. Dr. Gradl I Diese Entwicklung, zu der der 5. Parteitag der SED den Auftakt gegeben hat, richtet sich — das, glaube ich, ist eine Tatsache, die wir mit besonderer Sorgfalt und Sorge beobachten müssen — gegen alles, was noch einigermaßen selbständige Existenz in der Zone bewahren konnte; und das sind noch immer viele Hunderttausende von Bauern, Handwerkern, Einzelhändlern und anderen. Dazu kommen noch die Angehörigen. Ich meine, wir müßten unsere Aufmerksamkeit und unsere Anstrengungen darauf konzentrieren, daß das Zonensystem daran gehindert wird, durch seinen ideologischen Fanatismus das Leben auch dieser Menschen materiell und seelisch noch mehr zu belasten, es vielleicht so zu belasten, daß auch diese gewaltige Zahl von Menschen in Bewegung und in Verzweiflung gerät und einen Ausweg schließlich nur noch in der Flucht sieht. Eine solche Entwicklung — ich sage das mit allem Ernst —, die neue Hunderttausende in Unruhe versetzt, könnte in mehrfacher Hinsicht zu einer Katastrophe werden. Als nicht mehr verschwiegen werden konnte, daß die ärztliche Betreuung der Bevölkerung in der Zone immer schwieriger wurde, da entschloß sich, wie Sie gelesen haben werden, das Politbüro der SED am 16. September dazu, wenigstens in dieser Richtung den Druck zu mildern. Man gab ein Kommuniqué heraus, und in diesem Kommuniqué sagt das Politbüro, daß die Ausübung des Arztberufs und die wissenschaftliche Tätigkeit in der DDR — ich zitiere — keiner weltanschaulichen Verpflichtung für den dialektischen Materialismus unterliegt. Und dann heißt es weiter, daß Ärzte und Wissenschaftler, die sich zu einer anderen Weltanschauung bekennen, die Möglichkeit zu ungehinderter schöpferischer Arbeit haben. Was zeigt sich daran? Daran zeigt sich, daß dieses System durchaus die wirklichen Gründe kennt, die die Menschen zur Flucht treiben. Und da kann man nur fragen: Warum eigentlich macht man nur für Ärzte und für wissenschaftlich Tätige eine Ausnahme, warum dann nicht für alle Menschen in der Zone? In diesem Widerspruch zeigt sich doch die ganze Unwahrhaftigkeit dieses Systems. Aber je fremdartiger das öffentliche Leben in der Zone wird und je länger die politische Spannung andauert, um so mehr hängen die Menschen drüben an den persönlichen Beziehungen und an den kulturellen Verbindungen zum freien Teil Deutschlands. Wir haben aus den Mitteilungen der Bundesregierung gehört, wie sehr der mitteldeutschen Bevölkerung durch das Zonenregime der Besuch des Bundesgebiets erschwert ist. Das Politbüro der SED hat jetzt eine Andeutung gemacht, aus der man auf Abbau der Erschwerungen schließen könnte. Es wird sich an den künftigen Zahlen zeigen, was daran ist. Auf unserer Seite jedenfalls kann jeder aus Mitteldeutschland ungehindert kommen. Eines sollten wir noch auf jeden Fall versuchen, weil es den Menschen das Reisen zu uns erleichtern würde: Bundesbahn und Bundesverkehrsministerium sollten noch einmal einen Vorstoß für die Einführung von Rückfahrkarten im Interzonenverkehr machen. Bisher ist das an der anderen Seite gescheitert. Aber die Freiheit des Reiseverkehrs an sich ist — das ist schon gesagt worden — schlicht und einfach eine Frage der Humanität. Da werden drüben jetzt alle möglichen Gründe angeführt, fadenscheinige Vorwände gesucht, um zu erklären, warum man den Bewohnern der Zone das Ausreisen so schwer macht. Nun, es ist für uns selbstverständlich, daß sich die Bewohner jeweils im anderen Teil an die geltenden Gesetze und an die behördlichen Vorschriften zu halten haben und daß Sabotage, von wem und wo auch immer sie betrieben werden sollte, mit Entschiedenheit abzulehnen ist. Darüber brauchen wir kein Wort zu verlieren. Zu allem, was mit dem Reiseverkehr zusammenhängt, bedarf es gar keiner umständlichen Sachverständigenkommission en und Verhandlungen; den Reiseverkehr in Deutschland wirklich freizugeben, dazu bedarf es im Grunde nicht des Verhandelns, sondern ganz einfach des Handelns der SED. Nun ein kurzes Wort zu der Frage der kulturellen Beziehungen. Zu der kulturellen Verbindung gehört natürlich auch das Hinübergehen in das Zonengebiet. Wenn der Versuch eines groben Mißbrauchs durch Stellen der Zone vorher zu erkennen ist, dann soll man sich ihm entziehen, wie das mit Recht bei dem Jubiläum der Universität Jena geschehen ist. Aber sonst soll man sich ruhig von dem Bewußtsein bestimmen lassen, daß die Überlegenheit unserer freiheitlichen Ordnung und die Überzeugungskraft ihrer kulturellen und wissenschaftlichen Repräsentanten stärker sind als ein nicht vermiedener Mißbrauch und als ein gelegentlicher Fehler. Der Wiederanstieg des Flüchtlingsstroms und seine Konzentration auf West-Berlin hat zu Aufnahmeschwierigkeiten geführt. Wir begrüßen ,es, daß aus den Erklärungen der Bundesregierung geschlossen werden kann, daß alles getan ist, was getan werden kann, um diese Aufnahmeschwierigkeiten so weit wie möglich zu verringern und die Flüchtlinge nicht durch unnötige Bürokratie und technische Dinge noch zu belasten. Das Aufnahmeverfahren selbst steht ja ohnehin auf dem Arbeitsprogramm des Bundestagsausschusses für gesamtdeutsche Fragen. Aber — das wollen wir nicht verschweigen — ein schwieriges Problem bleibt immer die Beschaffung von Wohnungen für die Flüchtlinge. Ich habe, als ich ,darüber nachdachte, versucht, mir einmal die Vorgänge, mit denen wir uns jetzt auseinanderzusetzen haben und die doch nun in Hunderttausenden zählen, etwas greifbarer zu machen. Ich habe dabei einen ähnlichen Weg wie Kollege Wehner gewählt. Ich habe versucht, dieses Geschehen in kleine, erkennbare Größen herabzumindern. Dabei bin ich auf eine ganz einfache Rechnung gekommen. Es ist eine grobe Durchschnittsrechnung, Dr. Gradl aber ich glaube, sie sagt deutlicher als lange Darlegungen, was für das Bundesgebiet und West-Berlin mit diesem Flüchtlingsstrom an Schwierigkeiten verbunden ist. Im vergangenen Jahr haben wir im Bundesgebiet und West-Berlin in jeder Minute eine Wohnung schlüsselfertig gebaut. Wenn Sie den Flüchtlingsstrom messen, dann stellen Sie fest, daß seit Jahr und Tag alle sechs bis sieben Minuten eine dreiköpfige Flüchtlingsfamilie bei uns Zuflucht sucht. Das ist die Situation. Ganz besondere Sorge — ich unterstreiche das, was in der Begründung und in der Regierungserklärung gesagt worden ist — müssen uns die jungen Menschen machen. Der deutsche Bundesstudentenring hat in diesen Tagen in einer Denkschrift auf die Situation der geflüchteten Abiturienten, Studenten und Junglehrer hingewiesen. Aber was da gesagt ist, gilt im Grunde für die ganze Jugend, die aus der Zone zu uns gekommen ist und kommt. Warum verlassen sie die Zone? Sie verlassen sie, weil sie nicht in die militärischen Formationen dort eintreten wollen, denen sie sich in keiner Weise verbunden fühlen. Sie verlassen die Zone, weil sie sich nicht zum Atheismus bekennen wollen, weil sie nicht ihrer Kirche und religiösen Überzeugung untreu werden wollen, weil sie Toleranz statt Zwang, weil sie Verstehen statt Befehl wollen. Das sind die Gründe, die sie zu uns treiben. Deshalb suchen sie Zuflucht bei uns und ,deshalb haben sie Vertrauen zu uns. Aber das bedeutet auch eine Verpflichtung für uns. Wenn diese Jugend zu uns Vertrauen hat, dann heißt das doch, daß wir gerade dieser Jugend nicht nur mit Worten, sondern im praktischen Verhalten, nicht nur von der Allgemeinheit, sondern auch vom einzelnen her zeigen müssen, daß sie die bessere Seite gewählt hat, als sie die Seite der Freiheit und der Toleranz wählte. Der Flüchtlingsstrom ist nur der sichtbare Ausdruck des unsichtbaren Leides drüben. Auf die Frage, wie er wirklich bewältigt werden kann — das steht auch hinter der Frage 3 der Großen Anfrage —, kann man zunächst nur sagen: Wirklich bewältigt werden kann dieses deutsche Unglück nur durch eine einzige Handlung, nämlich durch Wiedervereinigung in Freiheit. Ich habe das so leise gesagt, um nicht den Eindruck zu erwecken, ich glaubte damit schon wirklich die Antwort gegeben zu haben. Denn natürlich genügt diese hunderttausendfach gebrauchte Formel nicht als Antwort. Die eigentliche Frage nämlich steht dahinter, die Frage, wie wir praktisch zu dieser Wiedervereinigung kommen können. Nun, so viele Hindernisse auf dem Weg zur Wiedervereinigung, so viele Schwierigkeiten gibt es bei der Beantwortung dieser Frage. Aber es bleibt dabei — das ist auch hunderttausendfach gesagt worden; aber es wird nicht deshalb unwahr und langweilig, weil es immer noch so ist —: das entscheidende Hindernis ist nun einmal die bisherige Haltung der Sowjetunion. Wenn das Pankower Regime nicht unter dem Schutz der Sowjetmacht seine Gräben quer durch Deutschland ziehen und wenn es nicht unter dem Schutz ,dieser Sowjetmacht in Mitteldeutschland eine absolut fremdartige Staatsund Lebensordnung aufbauen könnte, dann gäbe es gar kein innerdeutsches Hindernis mehr für die Wiedervereinigung. Sicherlich ist die Sowjetregierung wie jede Regierung daran interessiert, nicht selber den eigenen Ruf und den Ruf der von ihr für richtig gehaltenen Gesellschaftsordnung zu untergraben. Aber kann sie denn noch immer nicht einsehen, wie sehr es ihr in aller Welt schadet, daß sie sich mit den Torheiten und Schandtaten dieser Pankower Machthaber belasten läßt? Und in wie bedrückender Weise wird dadurch das Verhältnis der Sowjetunion zu unserem Volk belastet! Wir wissen, daß unsere Rolle als Großmacht 1945 zu Ende gespielt worden ist. Unser Volk will nicht mehr Machtpolitik. Es will nur Ruhe und Frieden. Aber soll es nach sowjetischer Auffasssung künftig Grundsatz der Weltmoral und der Weltpolitik sein, daß Große und Kleine nach verschiedenen Maßstäben gemessen werden? In seiner von Präsident Eisenhower zurückgewiesenen Botschaft zum Formosa-Streitsagt Ministerpräsident Chruschtschow rhetorisch: Ist es denn aber nicht offensichtlich und zeugt nicht die ganze Erfahrung des Kampfes der Völker für die nationale Befreiung und Unabhängigkeit davon, daß eine große Weltmacht niemals mit der Abtrennung eines Teils ihres Territoriums einverstanden sein wird? So argumentiert er für Rotchina. Aber gilt dieses Argument nicht auch für kleine und mittlere Mächte? Gilt das nicht ,auch für ein Volk mit mehr als tausendjähriger Geschichte im Herzen Europas? Nun, glaubt die Sowjetregierung etwa, weil wir keine große Macht mehr sind, könnte sie uns zumuten, was sich heute in Mitteldeutschland abspielt und was dort auf Abtrennung hinzielt? Als der Deutsche Bundestag am 2. Juli seinen Beschluß zugunsten der Schaffung eines Viermächtegremiums faßte, hat er sich ausschließlich von dem Willen leiten lassen, die deutsche Frage endlich wieder auf den Verhandlungstisch der vier Mächte zu bringen. In dem Beschluß wurde jede Gereiztheit peinlichst vermieden. Es wurde jede Belastung ausgeschaltet. Es war ein ganz einfacher, aber, wie wir alle überzeugt sind, der Wirklichkeit, den Notwendigkeiten durchaus gemäßer Schritt. Einen Erfolg hat dieser Schritt bisher nur zum Teil gehabt. Die drei Westmächte haben den Vorschlag des Bundestags inzwischen angenommen, und wir sind ihnen dankbar, wie wir ihnen überhaupt für die Unterstützung unseres nationalen Verlangens dankbar sind. Dr. Gradl Die Sowjetunion hat zwar auch geantwortet, aber sie ist dem Versuch, den der Bundestag begonnen hat, bisher nicht gefolgt. Der Gedanke der Schaffung eines Viermächtegremiums wird zwar bejaht, aber wieder verlangt die Sowjetunion, wie schon im Frühjahr, die Beschränkung der Verhandlungsaufgabe auf das Thema Friedensvertrag. In den sowjetischen Antwortnoten finden sich zwar Äußerungen, die eine sowjetische Geneigtheit andeuten könnten, Wiedervereinigung und Friedensvertrag als eine komplexe Einheit zu behandeln. Es ist z. B. ganz allgemein von der Verantwortung der vier Großmächte für die friedliche Regelung der Deutschlandfrage die Rede. Es wird auch auf den sowjetischen Friedensvertragsentwurf von 1952 hingewiesen. In diesem Entwurf ist die Wiederherstellung Deutschlands als einheitlicher Staat ein ausdrücklicher politischer Leitsatz. Aber diese sowjetischen Andeutungen sind leider sehr verhüllt und sehr problematisch. Nun, sowjetische Noten muß man wie alle diplomatischen Schriftstücke und vielleicht noch mehr als andere mit der Lupe untersuchen. Auf jeden Fall ist es die Aufgabe der verantwortlichen Politiker und Diplomaten, jeder Andeutung nachzugehen. Wir sind überzeugt, daß die Bundesregierung das tun wird, und meine Fraktion wird in dem zuständigen Parlamentsausschuß das ihre tun, um an der Klärung und Förderung mitzuwirken. Es kann sein, daß sich bei weiterer Klärung herausstellt, daß wir tatsächlich einer Illusion erlegen sind. Aber wenn es um die deutsche Einheit geht, muß man dieses )





    (Sehr richtig! bei der CDU.)


    (Beifall.)


    (Sehr wahr! bei der CDU.)





    (Beifall.)


    (Allgemeine lebhafte Zustimmung.)


    (Sehr richtig! in der Mitte.)


    (Lebhafter Beifall.)


    (Beifall bei der CDU/CSU.)




    Der Gedanke läge nahe, nachdem die Sowjetunion zu einem Viermächtegremium an sich bereit ist, einfach mit der von der Sowjetunion gewünschten Tagesordnung „Friedensvertrag" anzufangen. Wenn die Verhandlungsaufgabe unter diesem Thema so verstanden werden könnte, wie es der Sache eigentlich entspricht, dann könnte man davon ausgehen, daß auch die deutsche Wiedervereinigung uneingeschränkt von diesem Thema Friedensvertrag erfaßt wird. Denn ein Friedensvertrag kann mit Deutschland nur geschlossen werden, wenn Deutschland wiederhergestellt ist. Das Unglück ist, daß die Sowjetregierung bisher diese normale Deutung der Verhandlungsaufgabe betont abgelehnt hat. So verhüllt, so ungewiß, so problematisch jene Bemerkungen in den sowjetischen Noten sind, die eine bessere Deutung in dieser Hinsicht zulassen könnten, so klar und so hart sind jene Äußerungen, die das Gegenteil aussagen, und diese Äußerungen sind eben so negativ, daß man nicht das Risiko eingehen kann, schnell einen Anfang zu wagen. Das auch deshalb nicht, weil die Realitäten, die seit Jahr und Tag und gerade bis in diese Wochen im sowjetischen Besatzungsbereich geschaffen werden, nicht eine Spur von Willen erkennen lassen, sich auf eine neue konstruktive Lösung des Deutschlandproblems einzustellen. Solange sich das nicht ändert, so lange fehlt eben die entscheidende Grundlage für die Bildung eines Vertrauenselementes auf unserer Seite hinsichtlich der Deutung sowjetischer Politik.

    (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

    Von der Sowjetregierung wird immer wieder gesagt, die sogenannten beiden Staaten sollten sich über die Wiedervereinigung verständigen. Sie alle kennen diese Äußerungen aus dem Aide-memoire und aus den letzten Noten. Diese Aufforderung der Sowjetunion und die andere Frage, was wir innerdeutsch tun können, laufen auf die bekannte Frage nach Verhandlungen mit Pankow hinaus.
    Bei der Beantwortung dieser Frage muß sorgfältig differenziert werden. Über eine Normalisierung der menschlichen, der kulturellen, der ökonomischen und technischen Verbindungen zwischen beiden Seiten, zwischen beiden Teilen Deutschlands kann verhandelt werden und wird seit Jahren mannigfach verhandelt. Die Regierungserklärung hat darauf mit Recht hingewiesen. Sieht man von der sachlichen Problematik, von sachlichen Gegensätzen ab, so gibt es für solche Verhandlungen zwischen den beiden Teilen Deutschlands nach unserer Auffassung nur eine Grenze, nämlich die der Anerkennung. Verhandlungen dürfen nicht so gestaltet werden, daß daraus in der Welt der Schluß gezogen werden könnte, die Bundesrepublik erkenne das Pankower Regime als einen zweiten deutschen Staat an.

    (Beifall in der Mitte.)

    Verhandlungen zwischen Bundesregierung und Pankow, die durch Verhandlungsebene und Aufgabenstellung auf eine Anerkennung der Spaltung Deutschlands, auf eine Anerkennung Pankows als deutscher Staat, auf eine Anerkennung der Pankower Machthaber als deutsche Regierung hinauslaufen, sind für uns nicht möglich.

    (Erneuter Beifall in der Mitte.)

    Deshalb hat meine Fraktion auch allerstärkste Bedenken gegen eine Konstruktion, wie sie gestern zwischen den Fraktionen plötzlich zur Erörterung kam. Eine solche Konstruktion widerspricht nach unserer Auffassung zutiefst den Prinzipien unserer Verfassung. Man kann durchaus darüber reden, ob die Verhandlungstische der sogenannten technischen Kontakte gewissermaßen zu einem Tisch zusammengerückt werden sollen. Aber wir dürfen Pankow und Moskau nicht die Hoffnung machen — und ich bin überzeugt, daß auch Sie (zur SPD) das nicht wollen —, daß wir auch nur auf Umwegen bereit sein könnten, unser Nein gegen Pankow als angeblichen deutschen Staat und gegen das Zonenregime als angebliche deutsche Regierung aufzugeben.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Ich will diese Frage hier nicht vertiefen, ich will auch nicht die verfassungsrechtlichen Einwände im einzelnen darlegen; das soll den vorgesehenen weiteren interfraktionellen Erörterungen überlassen bleiben. Es ist vorstellbar, daß bei einer Viererkonferenz oder bei einem Viermächte-Gremium deutsche Sachverständige aus beiden Teilen Deutschlands assistieren. Aber es ist nicht annehmbar, der sowjetischen These der beiden deutschen Staaten zu folgen, wie sie auch in den jüngsten Noten wieder verteidigt wird.

    Dr. Gradl
    Die Machthaber der Zone lassen auch gar keinen Zweifel daran, daß Verhandlungen mit ihnen über die Wiederherstellung der deutschen Einheit völlig sinnlos sind. Das zeigt ihre tatsächliche Politik, über deren Folgen wir hier heute debattieren. Und das sagen sie selber auch ganz offen. In dem Fernsehinterview am 12. September ließ sich Walter Ulbricht fragen, wie er sich die Wiedervereinigung denke. Auf diese Frage antwortet er — und er betont ausdrücklich, er gebe diese Antwort mit allem Nachdruck —, daß es für ihn nur einen Weg zu friedlicher Wiedervereinigung gibt, nämlich die Bildung einer Kommission, damit eine Vereinbarung über die Bildung einer Konföderation beider deutscher Staaten zustande kommt. So sagt er wörtlich. Dann erklärt er, was er unter Konföderation versteht: „Wir lassen uns nicht vergewaltigen und wir wollen auch niemand anderen vergewaltigen." Nun, über „vergewaltigen" will ich jetzt nicht mit ihm rechten. Aber was heißt denn seine Antwort wirklich? Diese Antwort heißt doch in Wahrheit, daß dieses System, das unter der Führung von Walter Ulbricht den 17 Millionen aufgezwungen ist, eben beibehalten werden soll und daß es nicht der freien demokratischen Entscheidung überlassen werden soll. Das aber sind die Erklärungen eben derer, mit denen wir nach sowjetischer Meinung über die Wiedervereinigung verhandeln sollen!
    Den Pankower Machthabern kommt es doch nur darauf an, daß die Bundesregierung sich gewissermaßen von Staat zu Staat ein einziges Mal mit der Zonenregierung an einen Tisch setzt. Dann hat jedenfalls Ulbricht sein Verhandlungsziel erreicht, nämlich die faktische Anerkennung als zweiter deutscher Staat, und an dem weiteren, an einem erfolgreichen Ablauf der Verhandlungen, erfolgreich im Sinne einer freiheitlich-demokratischen Wiedervereinigung, ist er dann nicht mehr interessiert.

    (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

    Das ist die Situation, wie sie sich völlig klar aus den Handlungen und aus den eigenen Worten der Zonenmachthaber ergibt. Deshalb sind eben politische Verhandlungen mit Pankow für die Wiederherstellung der deutschen Einheit kein gangbarer Weg.
    Die Sowjetregierung hat uns in ihrer letzten Note vorgeworfen, wir wollten die Verantwortung auf die Vier Mächte verlagern. Das ist nicht wahr! Die Vier Mächte haben die Verantwortung; sie haben sie und auch die Sowjetunion hat sie 1945 nach eigenem Willen bewußt übernommen.

    (Lebhafte Zustimmung.)

    Niemand denkt doch bei uns daran, neben der Vier-Mächte-Verantwortung nicht auch die eigene deutsche Verantwortung für unser nationales Schicksal anzuerkennen. Aber wenn wir diesem Wege folgten, den die Sowjetregierung empfiehlt, nämlich mit Pankow über die Wiedervereinigung zu verhandeln, dann würden wir damit praktisch die Sowjetregierung von ihrer Verantwortung befreien, und das können wir schon deshalb nicht, weil es der wirklichen Machtlage völlig widerspricht.
    Wir werden immer wieder versuchen müssen, die Sowjetunion eines Besseren zu überzeugen. Wir wissen alle, daß unser Volk das ehrliche und dringende Verlangen hat, auch mit Sowjetrußland friedlich und freundschaftlich zu leben. Die gegenwärtige Situation entspricht diesem Verlangen gar nicht. Das, was die Sowjetregierung drüben geschehen läßt und schützt, kann in allen Deutschen — ich sage es bewußt sehr vorsichtig — nur sehr unfreundliche Gefühle wecken. Das freiheitliche Deutschland hat doch gezeigt, daß es Willen und Bereitschaft zu echter Verständigung hat. Das Verhältnis zu Frankreich ist nicht das einzige, aber ein besonders gutes Beispiel dafür, nach allem, was zwischen den beiden Völkern in ihrer Geschichte gewesen ist. Wenn die Sowjetunion dem deutschen Volke den Weg zur Wiedervereinigung öffnete, dann würde damit dem Frieden ein so fundamentaler Dienst erwiesen, daß manches möglich würde, was uns und unseren westlichen Freunden heute unmöglich ist.
    In der sogenannten Berliner Erklärung der drei Westmächte und der Bundesregierung vom 27. Juli 1957 ist merkwürdigerweise der Abschnitt wenig beachtet worden, der Beweglichkeit und Entgegenkommen ausdrücklich verspricht, wenn es zu ernsten Verhandlungen kommt. Daß die Wiedervereinigung ohnehin nur im Rahmen einer europäischen Sicherheitsordnung möglich ist, ist auch klar. Wir wissen, daß vieles zusammenkommen muß, damit eine gute Lösung entstehen kann, die für uns, für unsere Verbündeten und auch für die Sowjetunion tragbar ist.
    Lassen Sie mich zum Schluß nur noch ein ganz kurzes grundsätzliches Wort sagen. Die Welt hat viele Sorgen, und darunter sind sehr brennende Sorgen. Wir wissen, daß wir mit unserem Drängen auf Wiedervereinigung einmal hier und einmal da lästig fallen. Aber wir drängen ja nicht nur uni unseretwillen. Natürlich begehren wir sehnsüchtig danach, als Volk wieder in Einheit und frei nach unserer Art zu leben. Das ist auch unser gutes Recht. Was man jedem kleinen Volk in den Weiten Afrikas und Asiens zubilligt, das kann man auch einem Volk unserer Größe, unseres Standortes und unserer Geschichte nicht verweigern.

    (Lebhafter Beifall.)

    Aber es ist doch noch ein anderes im Spiel, nämlich die Gefahr für den Frieden. Ich will die Gefahr gar nicht ausmalen. Die Ereignisse vom Juni 1953 können jeden belehren, der belehrt sein will. Ob sie sich wiederholen, weiß niemand. Niemand von uns kann es wollen. Im Gegenteil, wir beschwören unsere Landsleute, und ich wünschte, ich hätte Engelszungen, um das jetzt richtig zu sagen: wir beschwören unsere Landsleute, sich nicht provozieren zu lassen. Aber wer weiß es denn, wer weiß denn, welche Kettenreaktion ausgelöst würde, wenn einmal der Faden der Geduld reißen würde? Ist das nicht Anlaß, besorgt zu sein, ja sogar Angst zu haben?
    Weil wir diese Situation am besten beurteilen können, ist es unsere Pflicht, unseren Freunden,



    Dr. Gradl
    unseren Nachbarn, unseren Gegnern und der ganzen Welt immer wieder diese Gefahr vor Augen zu halten. Denn sonst könnten sie uns einmal mit Recht vorwerfen, daß wir nicht früh genug und nicht genügend gemahnt und gewarnt haben. Die Gewißheit, daß keine Gefahr mehr in der Mitte Europas ist, gibt es erst, wenn Deutschland wieder vereint ist.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)



Rede von Dr. Eugen Gerstenmaier
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Das Wort hat der Abgeordnete Professor Schmid (Frankfurt).

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Carlo Schmid


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man hat die heutige Sitzung des Bundestags in Berlin in der Presse der sowjetischen Besatzungszone als einen Angriffsakt im kalten Kriege zu denunzieren versucht, und Ministerpräsident Grotewohl hat sogar davon gesprochen, uns habe offensichtlich Hysterie befallen. Nein, dieses Haus unterliegt nicht hysterischen Anfällen. Ihm kommt es auch nicht darauf an, jemanden zu provozieren oder gar zu bekriegen.

    (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Becker.)

    Wir wollen durch unsere Beratungen in Berlin lediglich denen, die Hilfe brauchen, helfen, hüben wie drüben. Wir möchten jene, in deren Hand das Schicksal von Millionen Deutscher liegt, mahnen, über ihren politischen Überlegungen die Menschlichkeit nicht zu vergessen, über dem, was sie in der Sache für zweckmäßig halten mögen, nicht den Menschen zu vergessen.

    (Beifall.)

    Wir wollen auch keine Anklagen erheben, nur um anklagen zu können. Aber wir wollen unsere Klage darüber hinausschreien, daß man die Hälfte unseres Volkes von der anderen Hälfte wegzureißen versucht und ihr vorenthält, was zum elementarsten Bestand dessen zählt, was der Mensch irgendwo und irgendwann in der Welt im Namen der Ideen unserer Zeit beanspruchen darf.

    (Beifall bei der SPD.)

    Und wir tun dies deshalb in Berlin — nicht um zu provozieren, ich wiederhole das —, sondern um sichtbar zu machen, daß, wenn .auch Bonn der Sitz der obersten Organe der ,Bundesrepublik, dieses Gebildes des Übergangs, ist, Berlin die offenkundige Hauptstadt aller Deutschen ist.

    (Beifall bei der SPD, in der Mitte und rechts.)

    Von dieser Hauptstadt aus muß unsere Stimme ausgehen, wenn wir die Welt und uns selber aufrufen, das Notwendige zu tun, einen Zustand zu beseitigen, der zu den Schandmalen unserer Zeit gehört.
    Die Zerreißung Deutschlands mochte unmittelbar nach dem Kriege, aus der damaligen Lage heraus gesehen, eine aus der politischen Hilflosigkeit der Sieger für notwendig gehaltene Maßnahme gewesen sein, mit der man glaubte, den drohenden Zusammenbruch der Koalition der Siegermächte verhindern zu können. Diese Spaltung heute nach 13 Jahren noch aufrechterhalten zu wollen, ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit!

    (Lebhafter Beifall im ganzen Hause.)

    Wenn wir Deutsche dieses Wort aussprechen, dürfen wir freilich einiges nicht vergessen. Wir dürfen z. B. nicht vergessen, daß auch hier die Grundschuld, wenn ich so sagen darf, bei dem vermessenen Wahnsinn des „Dritten Reichs" liegt, das die Welt durch seine Verbrechen in diese Ausweglosigkeit und Hilflosigkeit gestürzt hat. Immer wieder müssen wir daran erinnern, daß hier die Wurzel allen Übels zu sehen ist.

    (Erneuter lebhafter Beifall im ganzen Hause.)

    Wenn wir uns dessen nicht immer, je und je, bewußt werden, wenn wir glauben, das Recht zu haben, andere anzuklagen -- und wir haben manchmal dieses Recht —, dann ist nicht nur unsere Anklage nicht glaubwürdig, sondern dann werden wir in uns selber den Abszeß nicht ausräumen, der aus unserer unbewältigten Vergangenheit stammt und uns eines Tages vergiften könnte.
    Sicher haben auch andere Schuld auf sich geladen, die Sieger z. B. Da gibt es eine Schuld — denn durch Siege sollte man sich zu mehr verpflichtet fühlen als zu einer Politik von Aushilfen, die auf Kosten der Prinzipien gehen, in deren Namen man um den Sieg gekämpft hat.

    (Beifall im ganzen Hause.)

    Und ich möchte auch nicht verschweigen, daß meiner Meinung nach auch von deutscher Seite nicht alles getan worden ist, was nützlicherweise hätte getan werden können, um uns allen zu helfen, aus der Ausweglosigkeit herauszufinden. Man weiß, daß meine Fraktion die Politik der Bundesregierung darum heftig kritisiert hat und kritisiert. Aber Fehler hin, Fehler her — die moralische Schuld liegt in erster Linie bei denen, die heute noch Menschen, die nichts wollen als wie ihre Brüder leben, unter das Joch dessen zu beugen versuchen, was sie für Politik halten.

    (Sehr wahr!)

    Denn es ist schlecht, Millionen Deutscher zu Geiseln und zu Pfändern zu degradieren,

    (Beifall im ganzen Hause)

    nur um, in der Rückwirkung, sie und uns alle in den Herrschaftsbereich von Vorstellungen zwingen zu können, die wir nur unter Verzicht auf unser Gewissen und das Recht auf Selbstachtung annehmen können.

    (Beifall.)

    Es ist davon gesprochen worden — in sehr eindringlicher Weise davon gesprochen worden —, wie sich seit Jahren ein Strom von Flüchtlingen aus der sowjetischen Besatzungszone in das Gebiet der Bundesrepublik ergießt. Mehr als 3 Millionen sind bisher landflüchtig geworden. Vor Jahrzehnten noch hätte ein winziger Bruchteil dieser Zahl genügt, um die ganze Welt vor Entsetzen aufschreien zu lassen.

    (Lebhafter Beifall im ganzen Hause.)




    Dr. Schmid (Frankfurt)

    Aber das „Dritte Reich" hat uns alle stumpf gemacht;

    (Zustimmung)

    auch das dürfen wir nicht übersehen.
    Diese Zahlen zeigen besser, als jede Beschreibung es könnte, was die Menschen dieses Teiles Deutschlands empfinden und wonach sie sich sehnen. Jede Woche kommen immer noch einige Tausend zu uns, aus allen Ständen. Bedeutsamer als die Zahl aber scheint mir die Struktur, die dieser Flüchtlingsstrom heute angenommen hat. Es sind heute mehr Lehrer als früher, mehr Ärzte, mehr Professoren, mehr Ingenieure, mehr junge Menschen vor allem, die zu uns kommen, Leute also, denen es, rein wirtschaftlich gesehen, in vielen Fällen sicher einigermaßen gut geht, Leute, die in der großen Mehrzahl nicht der Hunger aus dem Lande treibt, die sich nicht durch die Apfelsinen, die Bananen und die Kühlschränke angezogen fühlen, die es bei uns vielleicht leichter und reichlicher geben mag als drüben. Denn ein großer Teil von 'ihnen sind sogenannte „Spezialisten"; die könnten sich das ja auch drüben verschaffen.
    Was diese Leute veranlaßt, zu fliehen, das ist, daß sie den moralischen Druck nicht mehr aushalten können, der auf ihnen lastet. Sie fliehen, weil sie es nicht mehr ertragen, zu einem Doppelleben gezwungen zu werden, einem Leben, in dem sie lügen und heucheln müssen, wenn sie den Machthabern nicht in gefährlicher Weise mißfallen wollen, einem Leben, in dem sie ihre Kinder zu Lügnern und Heuchlern erziehen müssen, um ihnen die Wege
    der Bildung offen zu halten.
    Ich habe oft Gelegenheit, mit Jugendlichen zu sprechen, die zu uns geflohen sind. Immer höre ich von ihnen dieselben Gründe. Aber — und auch das muß hier gesagt werden — ich höre auch manche Kritik an uns, an uns braven Wirtschaftswunderkindern. Den Besten jener, die kommen — ich wäge jedes Wort, das ich hier spreche —, gefällt die satte Selbstzufriedenheit der Menschen gar nicht, in der sich so viele bei uns wohlgefallen und wohlfühlen.

    (Beifall im ganzen Hause.)

    Diese Jungen vermissen bei uns manchmal den Schwung der Idee, von dem sie glaubten, daß er in einer freien Welt immer und überall spürbar sein müßte. Sie möchten nicht so sehr Apfelsinen und Bananen haben. Sie möchten, daß man von ihnen etwas fordere und daß man ihnen zeige, wo die Aufgaben liegen, die die Freiheit uns doch stellen müsse, die die Freiheit dem Menschen immer stellen muß, wenn er wirklich frei sein soll z u etwas und nicht nur frei sein soll von etwas.

    (Beifall im ganzen Hause.) Das erst ist Freiheit.

    Wir haben, was jetzt drüben geschieht und was sich bei uns an Rückwirkungen einstellt, unter einer Reihe von Gesichtspunkten zu betrachten. Einmal unter dem Gesichtspunkt der Sorge für die, die schon zu uns gekommen sind; dann unter dem Gesichtspunkt der Sorge für die Zurückgebliebenen; denn auch für die müssen wir einiges tun. Es genügt nicht, daß wir laut sagen, wie sehr es uns empört, daß man sie unter den Bedingungen zu leben zwingt, die wir kennen. Wir müssen durch die Tat zeigen, daß ihre Sorgen auch unsere Sorgen sind, und das erfordert von uns immer mehr und immer Besseres, als wir bisher tun. Es gibt hier nur die Möglichkeit der Steigerung, keine Möglichkeit des Verharrens in dem, was heute ist.

    (Beifall bei der SPD.)

    Weiter erfordern diese Dinge von uns, daß wir uns politisch so verhalten, daß unsere Brüder und Schwestern drüben die Hoffnung bewahren können, ihr Elend werde einmal zu Ende gehen, auch für sie werde einmal die Stunde der Freiheit schlagen, so daß es einen Sinn haben könnte, auszuharren, so schwer dies auch sein mag — und wie sehr jeder von uns zuerst dreimal schlucken sollte, ehe er dieses Wort ausspricht: Ihr sollt ausharren!

    (Beifall bei der SPD und Abgeordneten der anderen Fraktionen.)

    Denn wir haben es leicht und die haben es schwer.
    Jeder, der fortgeht, nimmt denen, die bleiben, einen Bundesgenossen, einen Helfer in der Not und einen Trost weg. Vor allen Dingen auch macht jeder Arzt, macht jeder Lehrer, der weggeht, denen, die zurückbleiben, das Leben noch ärmer, noch grauer, noch hoffnungsloser.
    Sicherlich ist die entscheidende Aufgabe, die richtige Wiedervereinigungspolitik zu treiben. Aufhören wird das Elend ja erst, wenn wir wieder alle zusammen in einem Haus wohnen, in dem wir alle miteinander die Herren sind. Aber solange wir die Wiedervereinigung noch nicht erzielt haben, müssen wir 'eine Politik betreiben, die zwischen beiden Teilen Deutschlands einen Modus vivendi möglich macht, der denen in der Zone gestattet, zu hoffen, wenigstens einigermaßen erträgliche Lebensbedingungen gewährt zu erhalten. Auch eine solche bescheidene Politik — eine Politik mit beschränkter Zielsetzung — wird Initiativen erfordern, wird Mut, Kühnheit und Phantasie erfordern.

    (Beifall bei der SPD.)

    Wir müssen für die Geflüchteten sorgen. Es ist hier manches geschehen, das lobenswert ist. Aber es ist noch nicht genug, was geschieht, und was geschieht, geschieht manchmal in Formen, die das Gewollte in sein Gegenteil verkehren könnten. Was in den Durchgangslagern in Berlin geschieht, ist nicht alles lobenswert, und manches ist ganz und gar schlecht. Man sollte endlich damit aufhören, von alliierter Seite aus diese Durchgangslager als Vernehmungslager zu mißbrauchen.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD. — Beifall bei der FDP.)

    Die Menschen, die zu uns kommen, wollen nicht Nachrichtendiensten Stoff liefern, und würde dieser Stoff auch für die besten Zwecke der Welt gewollt. Sie wollen endlich aus der Atmosphäre des Kalten Krieges heraus! Und dann fragt man sie aus — und bringt damit diese Atmosphäre wieder zu ihnen hin. Das trifft sie schwer, das enttäuscht sie bitter.



    Dr. Schmid (Frankfurt)

    Man sollte diese Durchgangslager besser ausgestalten, als es bisher geschehen ist. Das kann die Stadt Berlin nicht allein tun. Man muß von Bundes wegen ,die Kosten aufbringen. Man hat mir Zahlen vorgelegt, die glaubwürdig sind. Es handelt sich dabei um Millionenbeträge; ein Betrag von 6 Millionen DM ist mir genannt worden. Wir sollten hier handeln und sehr rasch handeln. Es kommt wirklich auf Wochen an und nicht auf halbe Jahre &der gar auf Jahre.
    Das Notaufnahmeverfahren bedarf dringend einer grundlegenden Änderung. Es muß entbürokratisiert und abgekürzt werden. Ich glaube, daß es besser wäre, die Flüchtlinge sofort in den Westen auszufliegen, als sie noch einen Monat in Berlin zu belassen mit all dem, was dort an Unangenehmem auf sie wartet. Ich weiß, was alles dagegen sprechen mag. Aber man sollte bei diesen Dingen weniger polizeilich als schlicht und einfach menschlich denken!

    (Beifall bei der SPD und der FDP.)

    Auf die Dauer wird dies unserer Sicherheit gut bekommen.
    Schließlich ist zu bedenken, daß der Altersaufbau Berlins in bedenklicher Weise durch das Zurückbleiben gerade .der älteren, im Arbeitsprozeß schwer unterzubringenden Flüchtlinge noch mehr denaturiert wird, als er es heute schon ist. In Berlin sind 16 % der Bewohner über 60 Jahre alt; im Bundesdurchschnitt sind es 10 %. Beim jetzigen Aufnahmeverfahren besteht die Gefahr, daß dieser Prozentsatz steigen wird. Berlin darf aber kein Altersheim werden. Die Berliner Wirtschaft muß expansiv gestaltet werden. Dazu bedarf man in erster Linie der jungen Menschen. Man sollte dafür Sorge tragen, daß die älteren eine neue — hoffentlich vorübergehende — Heimat mehr im Westen der Bundesrepublik finden.
    Wir werden nachzuprüfen haben, ob die Grundsätze, nach denen jemand als politischer Flüchtling anerkannt wird, richtig sind. Es geht meines Erachtens nicht an, jemandem die Anerkennung nur deshalb zu versagen, weil einer bis zum heutigen Tag versucht hat, als Beamter, als Richter oder sonst in einer Stellung in der Zone wenigstens noch etwas an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu erhalten. Ich kenne solche Fälle. Viele von uns haben das Recht auf politischen Irrtum in Anspruch genommen; ich glaube, mit Recht. Wir sollten auch anderen gestatten, dieses Recht für sich in Anspruch zu nehmen!

    (Beifall bei der SPD und bei der FDP.)

    Und dann: Es gilt, V o r sorge zu treffen; nachvzusorgen genügt nicht. Nun gibt es freilich manche, die meinen, wenn wir allzu gut v o r sorgten, würden wir geradezu Anreize zur Flucht schaffen. Wer heute flieht, weiß, was er aufgibt. Ich glaube — es ist darüber heute schon manches Zutreffende gesagt worden —, daß es für jedermann eine bittere Sache ist, die Heimat zu verlassen. Früher sagte man von einem, der die Heimat verließ, schlicht: „er geht ins Elend".
    Es ist davon gesprochen worden — auch ich darf es in wenigen Worten tun —, daß wir versuchen müßten, jenen, die bleiben, Erleichterungen zu verschaffen. Da gibt es verschiedene Möglichkeiten, auf den verschiedensten Ebenen. Ich habe mich gefreut, daß einer meiner Vorredner gesagt hat, das Entscheidende sei, diesen Menschen von uns aus ein bißchen Wärme zu vermitteln. Das können wir, indem wir zu ihnen hinübergehen, so oft wir können,

    (Beifall)

    und uns bemühen — auch wenn es uns schwer gemacht wird —, uns immer wieder um die Möglichkeit zu bewerben, zu ihnen hinübergehen zu dürfen.
    Wir werden wahrscheinlich nicht sehr viel Unmittelbares tun können, denn die Machthaber in der Zone haben ihre eigenen Vorstellungen. Man wird wahrscheinlich nur auf dem mittelbaren Weg das eine oder andere zu erreichen vermögen. Aber wir sollten uns bemühen, solche mittelbaren Wege ausfindig zu machen.
    Es ist heute von Herrn Bundesminister Lemmer davon gesprochen worden, daß man das Internationale Komitee vom Roten Kreuz anrufen wolle. Das ist sicher ein vortrefflicher Gedanke. Nur dürfen wir dabei nicht vergessen, daß dieses Komitee nur tätig wird — tätig selbst in dem Sinne, daß es sich bereit erklärt, eine solche Einladung zu erwägen —, wenn die Einladung von beiden Seiten ausgeht. Also wird es nicht tätig werden, wenn nicht auch die Regierung der Zone darum bittet, daß es tätig werden möge. Freilich kann eine solche Bitte als moralischer Appell an die ganze Welt wirken; und dann ist sie eine nützliche Maßnahme. Vielleicht können wir sogar davon ausgehen, daß moralische Appelle, die in glaubwürdiger und eindringlicher Weise vorgebracht werden, auch bei den Machthabern der Zone Resonanz finden. Schließlich müßte ihnen ja einiges daran liegen, nicht vor der ganzen Welt als Kerkermeister zu erscheinen. Und wir sollten die Regierung der Sowjetunion durch unseren Botschafter in Moskau bitten, ihren Einfluß geltend zu machen, um diese Zustände zu ändern, die doch letztlich auch ihr nicht immer lieb sein können.

    (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

    Ich habe, und mit mir einige andere, bei unserm Besuch in Moskau die Erfahrung gemacht, daß den Männern dort einiges daran liegt, nicht für Förderer der Barbarei angesehen zu werden!

    (Abg. Frau Dr. h. c. Weber [Aachen] : Dann sollen sie sich auch danach benehmen!)

    — Sicher, verehrte Frau Kollegin, sie sollen sich auch danach benehmen; Sie haben ganz recht. Aber wir könnten ihnen vielleicht durch unser Verhalten einige Gelegenheiten geben, zu zeigen, daß sie imstande sind, sich so zu benehmen.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der CDU.)

    Am schwersten lastet auf den Bewohnern der Zone das Verbot, zu uns auszureisen. Einige kön-



    Dr. Schmid (Frankfurt)

    nen es. Sie haben es manchmal nicht ganz leicht bei uns, sich mit dem Geld und anderen Dingen zurechtuzufinden. Ich glaube, wir sollten ihnen aile Möglichkeiten geben und nicht fürchten, unsere Währung könnte in Gefahr kommen, wenn wir dabei großzügig sind. Man könnte ihnen z. B. Rückfahrkarten geben, ohne zuerst zu prüfen, ob ein Fall der Bedürftigkeit — auch bei den Gastgebern — vorliegt. Ich kenne solche Fälle. Das sind kleine Dinge, aber sie reihen sich aneinander zu großen Linien.
    Noch ein Wort dazu: Ist es nicht eine Groteske — man muß sich das manchmal ganz klar vor Augen halten —, daß ein Deutscher aus der Bundesrepublik heute frei in alle Welt reisen kann; nur nach Deutschland, nach dem Deutschland da drüben darf er nicht reisen!
    Es versteht sich von selbst, daß die Wiedervereinigung Deutschlands das Ziel Nummer eins einer jeglichen deutschen Politik sein muß. Diesem Ziel haben wir — das ist oft gesagt worden — alles andere unterzuordnen. Auch für die Erledigung von Aufgaben großer Wichtigkeit, die uns und die Welt angehen, ist die Lösung des Wiedervereinigungsproblems eine wichtige und notwendige Voraussetzung. Es wird aber leider Gottes noch eine gute Weile dauern, bis wir die Wiedervereinigung haben werden. Daß ich das nicht leichten Herzens sage, werden Sie mir glauben. Aber ich meine, wir sollten es uns verbieten, von Illusionen zu leben

    (Zustimmung bei der CDU)

    und das Wünschbare auch für das jetzt Erreichbare zu halten — ich betone: jetzt Erreichbare zu halten. Ich finde es gut, daß der Entschließungsentwurf, der uns vorliegt, von diesem Gedanken ausgeht. Denn nicht die Wünsche kommandieren die Möglichkeiten und die Mittel, sondern die Tatsachen kommandieren die Möglichkeiten und die Mittel.
    Die Wiedervereinigung Deutschlands ist keine innerdeutsche Angelegenheit in der Stufe, auf der sich das Problem heute befindet. Die Spaltung Deutschlands ist das Produkt eines Stückes Weltpolitik, und nur Weltpolitik wird diese Spaltung beenden können.

    (Beifall.)

    Die Wiedervereinigung Deutschlands wird das Ergebnis einer Normalisierung des Verhältnisses der beiden Weltreiche sein, die heute in der Welt sich den Rang streitig machen. Solange diese Reiche nicht wissen, welches der militärische und politische Status eines wiedervereinigten Deutschlands sein wird, werden wir leider Gottes nicht sehr viel für die Wiedervereinigung Deutschlands zu erwarten haben. Denn keiner dieser beiden wird Gefahr laufen wollen, daß das wiedervereinigte Deutschland auf die Seite des anderen geht, — sicher so lange nicht, als der kalte Krieg dauert.
    Eine Verständigung der Weltreiche über diesen Status Gesamtdeutschlands scheint mir also eine Vorbedingung dafür zu sein, daß die Deutschen selbst sich um die besten Wege zur Verwirklichung der Wiedervereinigung kümmern können. Sicherlich wird es keine Wiedervereinigung geben können, wenn nicht an dem entscheidenden Punkt des Prozesses freie, unmittelbare gesamtdeutsche Wahlen stehen;

    (lebhafter Beifall)

    es scheint mir aber ein Irrtum zu sein, zu glauben, daß diese Wahlen am Anfang stehen werden.

    (Beifall bei der SPD.)

    Ich wünschte heiß, es möchte so sein. Aber es wäre unrealistisch von mir, diesen Wunsch für eine heute zu verwirklichende Chance zu halten. Man wird uns diese Wahlen erst gestatten, wenn man sich über den Status Gesamtdeutschlands geeinigt hat.
    Ich bedauere es darum, daß die jüngste Note der Alliierten, von der heute gesprochen wurde, an der alten Reihenfolgetheorie festhält. Ich halte diese heute für unrealistisch. Wir werden zu nichts kommen, wenn wir als ersten Schritt freie Wahlen, dann eine gesamtdeutsche Regierung, dann einen Friedensvertrag verlangen. Leider wird zunächst einmal unter den Siegermächten eine Einigung darüber erzielt werden müssen, was denn dieses wiedervereinigte Deutschland sein soll. Das ist für uns nicht erhebend, nicht tröstlich und nicht schön. Ich glaube aber, daß, wer realistisch denkt, davon wird ausgehen müssen. Dann erst wird man den Schritt weiter zu freien Wahlen und einer gesamtdeutschen Regierung tun können, mit der ein Friedensvertrag ausgehandelt werden muß; denn es ist ganz klar, daß nur eine gesamtdeutsche Regierung ihre Unterschrift unter einen Friedensvertrag setzen kann. Ich halte es für keine gute Politik, sich in Illusionen zu wiegen. Gerade wenn man die Freiheit zum Ziel seiner Politik macht, muß man — ich zitiere hier Jaspers' Rede vom letzten Sonntag — den Mut zur Wahrheit haben.

    (Zurufe von der CDU/CSU: Sehr richtig!)

    Wir werden also zunächst eine Politik betreiben müssen, die die Siegermächte anspornt, in Verhandlungen über Deutschland einzutreten. Ist es dazu gekommen, haben sie sich geeinigt, dann werden wir Deutschen selbst das tun müssen, was nötig ist, um den besten technischen Weg für die Wiedervereinigung zu suchen und zu finden.
    Und noch eines: ich glaube, daß wir zu sehr vielem bereit sein müssen, wenn uns die Wiedervereinigung wirklich das oberste Ziel ist, und ich danke dem Herrn Kollegen Gradl für die Worte, die er dazu gesprochen hat. Eine Grenze wird freilich absolut gelten müssen: Die Wiedervereinigung darf uns nicht die Freiheit kosten.

    (Lebhafter Beifall im ganzen Hause.)

    Denn auch unsere Schwestern und Brüder hätten von einer Wiedervereinigung nichts, wenn ihr Ergebnis sein müßte, daß nun auch wir, die wir frei atmen können, in die Knechtschaft ziehen müßten!

    (Erneuter allseitiger Beifall.)

    Ich begrüße den Entschließungsentwurf, der dem Hause vorliegt. Ich glaube aber nicht, daß wir uns auf die Dauer mit Entschließungen solcher Art werden begnügen können. Bis verwirklicht sein wird,



    Dr. Schmid (Frankfurt)

    was die Entschließung fordert, wird noch ein langer Weg zurückzulegen sein. Bis das Ziel erreicht sein wird, werden hüben und drüben Dinge geschehen, die das Schicksal von uns allen bestimmen werden.
    Es muß auch für die Zwischenzeit etwas getan werden! Wir müssen alles tun, um einen modus vivendi zu finden, der die Zeit von heute bis zur Wiedervereinigung erträglicher macht, als es die Zeit bis heute gewesen ist. Wir müssen so viele der heutigen Kontaktflächen als möglich aufrechterhalten, und wir müssen versuchen, neue zu schaffen. Wir müssen die Methoden und die Institutionen ausbauen, die das Nebeneinander der beiden Hälften Deutschlands erträglicher machen. Solange die Lösung nicht möglich ist, sollten wir es mit der Regelung von Einzelproblemen versuchen. Wir sollten nicht vergessen, daß gelegentlich auch im heißen Kriege Dinge geregelt wurden, die zwischen den Schützengräben lagen ...
    Meine Fraktion wird einen Antrag einbringen, den wir in Bonn beraten und verabschieden werden, einen Antrag, der auf Maßnahmen abhebt, die den gegenwärtigen Notständen abhelfen könnten, und der darüber hinaus Möglichkeiten aufzeigen will, von denen wir wünschen möchten, daß sie uns in die Lage versetzen, neue Wege zu erschließen. Wir stellen diesen Antrag, weil wir gesehen haben, wohin es führt, wenn man sich die Lage immer weiter festfahren läßt und wenn man darauf verzichtet, Apparaturen zu schaffen, die diese Lage ändern könnten.
    Wir haben dabei im Auge zu halten, daß uns nicht jede beliebige Möglichkeit offensteht. Wir müssen dem Umstand Rechnung tragen, daß die Deutschen drüben für die Machthaber Pfänder sind, die wir ihnen nicht einfach entwinden können. In einer solchen Lage gibt es, wenn man sich mit den Zuständen nicht abfinden will, keine andere Möglichkeit als die, den Versuch zu machen, miteinander zu reden. Entscheidend ist, daß man dies auf der richtigen Ebene tut. Auch wir glauben nicht, daß es richtig wäre, von Regierung zu Regierung zu sprechen. Das kann sinnvoll werden in dem Augenblick, da sich die vier Mächte über die Modalitäten der Wiedervereinigung geeinigt haben und es nur noch darauf ankommt, in Ausführung dieser Einigung, dieser Vereinbarung, die richtige Technik zu ihrer Verwirklichung zu finden.
    Möglich aber erscheint es uns, auf bestimmten Spezialgebieten, z. B. auf den Gebieten des Handels, der Justiz, des Verkehrs und der Post, zu Vereinbarungen technischer Art zu kommen. Hier gibt es schon seit geraumer Zeit Institutionen, und es finden auch Verhandlungen statt; aber oft weiß dabei die Rechte nicht, was die Linke tut. Diese Institutionen bedürfen der Zusammenfassung. Ich glaube nicht, daß es richtig wäre, sie bei dem Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen zusammenzufassen. Dieses Ministerium hat politisch zu bleiben, und seine Vorhaben engagieren unmittelbar, schon im Vorfeld, die Politik der Bundesregierung. Ich glaube nicht, daß es gut wäre, dies zu übersehen.