Er hat also gemeint, das, was an atomaren Waffen vorhanden sei, genüge vollständig. Nun, ich finde es einfach immer wieder phantastisch, mit welcher grenzenlosen Naivität die SPD über die amerikanische Außenpolitik urteilt. Sie tut so, als wäre es uns möglich, den Amerikanern zu sagen: Das müßt ihr so machen, das dürft ihr nicht tun, und ihr seid natürlich für unsere Sicherheit verantwortlich. Es ist besonders hübsch, wenn das eine Partei tut, die in den letzten Jahren aber auch alles, was ihr nur möglich war, getan hat, um die Bündnisverträge, die die Bundesregierung mit Billigung der Mehrheit des Hauses auch mit den Vereinigten Staaten von Amerika geschlossen hat, zu attakieren; sie hat sie stets in diesem Hause abgelehnt.
In dem inkriminierten Wehrgutachten der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands findet sich der Satz: Solange diese Ziele — die Abrüstung und andere — noch nicht erreicht sind, besteht die einzige Sicherheit für den freien Teil des deutschen Volkes in einem militärisch ausgewogenen Kräfteverhältnis zwischen Ost und West. Ich glaube, niemand in diesem Hause — auch niemand von der Opposition — wird sagen können, daß dieses Kräfteverhältnis heute ausgewogen sei. Sie kennen genauso gut wie wir die grandiose Überlegenheit auf dem Gebiet der konventionellen Streitkräfte jenseits des Eisernen Vorhanges, wo allein in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands heute so viele sowjetische Divisionen wie Nordatlantik-Streitkräfte in Mitteleuropa stehen, während daneben und dahinter schon in den ersten 48 Stunden das Vierfache von dem an Divisionen verfügbar ist, was heute zum Schutz dieses Europas von den NATO-Streitkräften in Mitteleuropa gestellt wird. Es ist also keineswegs ein ausgewogenes Verhältnis vorhanden. Genau das führt die NATO, die Politik der Bundesregierung und die Politik der Mehrheit dieses Hauses zu der Konsequenz, daß mit allen Mitteln die Überrollung dieses europäischen Teils durch einen potentiellen Gegner verhindert werden muß.
Nachdem die deutsche Sozialdemokratie in den letzten Jahren verzweifelt nach einer Wehrkonzeption gesucht hat und auf die Frage, welches denn ihre wehrpolitische Konzeption sei, immer wieder die Antwort schuldig bleiben mußte, hat sie jetzt in Stuttgart eine solche Konzeption entwickelt. Dort ist gesagt worden, es genüge, wenn ein Freiwilligenheer in der Bundesrepublik Deutschland so stark sei, daß es möglichen Streitkräften aus der sovv jetisch besetzten Zone gewachsen sei. Daraus spricht wieder die grenzenlose Naivität in dem politisch-strategischen Denken der deutschen Sozialdemokratie. Es ist doch gar keine Frage, daß es darum nicht geht. Vielmehr geht es darum, daß jenseits des Eisernen Vorhanges eine aggressive und totalitäre Macht steht, die die Bedrohung aus der sowjetisch besetzten Zone durch deren Streitkräfte durch das Gesamtpotential vervielfacht, das sie auf einer Frontlänge von 1500 km stehen hat.
Man kann eben nicht immer nur auf den allerschwersten und allerletzten Fall abstellen, wie Sie es ständig tun, wenn Sie sagen: Es gibt schon genug Atomwaffen auf der westlichen Seite, und diese Atomwaffen sind ja dazu da, uns in Europa zu schützen. Ich empfehle Ihnen sehr, daß Sie einmal die Ausführungen lesen, die Henry Kissinger zu diesem Thema gemacht hat, der noch nicht die offizielle amerikanische Auffassung und auch nicht eine offiziöse, aber immerhin eine Auffassung wiedergibt, die einmal die Auffassung der Vereinigten Staaten von Amerika sein könnte. Da steht über die Abhängigkeit Europas von den Vereinigten Staaten folgendes:
Bei der Errichtung von Raketenbasen auf dem europäischen Kontinent geht es in Wahrheit um ein ganz anderes Problem. Sie werden nicht für die Verteidigung Amerikas, sondern für die Verteidigung Europas benötigt. Wesentlich sind sie eben deshalb, weil die Europäer sich sträuben, sie zu akzeptieren. Denn je schneller und vernichtender die Geschosse werden, um so mehr wird jedes Land sich sträuben, seine eigene Existenz für irgend etwas anderes aufs Spiel zu setzen als die Abwehr einer unmittelbaren Bedrohung seines Weiterlebens. Wie Europa sich sträubt, an einem totalen Krieg für die Verteidigung der USA teilzunehmen,
— und jetzt sagt Kissinger in Klammern: „das wäre der einzige vernünftige Grund für die Ablehnung der Raketenrampen" —
so wird auch Amerika sich sträuben, für die Verteidigung Europas die totale Zerstörung des eigenen Landes zu riskieren. Unsere NATO-Verbündeten sollten sich durchaus angespornt fühlen, an der Entwicklung einer Strategie mitzuwirken, welche die Vereinigten Staaten nicht zwingt, zwischen auf der einen Seite dem totalen Krieg und auf der anderen Seite der Passivität bei der Verteidigung Europas zu wählen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, daraus geht nicht mehr und nicht weniger hervor als die Tatsache, daß man nicht hier im Deutschen Bundestag und nicht bei den Sozialdemokraten in Stuttgart eine Politik machen kann, die das unberücksichtig
Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 31. Sitzung, Bonn, Freitag, den 13. Juni 1958 1735
Zimmermann
läßt, was die Vereinigten Staaten zu tun in der Lage sind, und daß man hier nicht nach Wünschen, sondern nach den Realitäten der amerikanischen Verteidigungspolitik sich zu richten haben wird.
Wir haben in den letzten Tagen in einer großen deutschen Wochenzeitung Berichte über die Reise gelesen, die Carl Friedrich von Weizsäcker nach den Vereinigten Staaten unternommen hat. Carl Friedrich von Weizsäcker, einer der Initiatoren des Göttinger Manifests und ein Mann, dessen überragende geistige und wissenschaftliche Fähigkeiten sicherlich im ganzen Hause uneingeschränkt anerkannt werden, hat in einer sehr sorgfältigen Studie über das Thema: „Mit der Atombombe leben" seine Erkenntnisse und eine kritische Analyse aus diesem langen Amerikabesuch veröffentlicht. Er sagt darin unerhört bemerkenswerte Dinge, die jetzt auszuführen zu weit führen würde.. Aber ich möchte einen seiner Kernsätze anführen, der sich eben um die Abstufungen möglicher Auseinandersetzungen dreht, also das Wort von der „proportionalen Verteidigung" wiederaufnimmt, über die wir in diesem Jahre schon mehrfach diskutiert haben. Er sagt darin folgendes:
Das Ziel der abgestuften Abschreckung ist nicht, wenigstens begrenzte Kriege wieder möglich zu machen, sondern umgekehrt: auch begrenzte Gewaltakte aussichtslos, also auch begrenzte Kriege äußerst unwahrscheinlich zu machen. Die abgestufte Abschreckung will das Patt von den großen Waffen auch auf die kleineren Waffen ausdehnen. Dadurch will sie die immer höher steigende Schraube von Rüstung und Gegenrüstung zum Stehen bringen, um dann beginnen zu können, sie wieder rückwärts zu drehen.
Das ist genau das Gegenteil von der verhängnisvollen Alternative, die auf der Seite der SPD immer lautet: Die Atomwand der Vereinigten Staaten von Amerika muß auf jeden Fall dasein, wenn hier etwas passiert. Der Kollege Erler hat in Stuttgart gesagt, die Verteidigungskraft der Bundesrepublik Deutschland müsse dazu in der Lage sein, bei einer eventuellen Aggression diese Aggression für die ganze Welt sichtbar zu machen. Wir wollen nicht einen dieser beiden Wege ais für uns verbindlich gehen; die Amerikaner werden es nicht tun, daß sie bei jeder möglichen Auseinandersetzung den totalen Krieg mit allen seinen Folgen, den letzten H-Bombenschlag mit allen seinen Folgen heraufbeschwören und damit die ganze Welt zum Untergang verurteilen; und uns auf der anderen Seite würde es gar nichts nützen, wenn wir nach einer erfolgten Aggression diese sichtbar machten, nachdem wir bereits überrollt sind.
Deswegen muß — das ist die bittere, aber klare Konsequenz dieser abgestuften Verteidigung — in jedem Teil der westlichen Welt und an jeder Stelle dieser westlichen Welt eine Abschreckungswirkung vorhanden sein, die den letzten totalen Schlag verhindert. Daraus folgt die defensive Konzeption, die aber gleichfalls für den möglichen Aggressor ein
Risiko enthält, das zu tragen er nicht gewillt sein
kann.
Das ist diese abgestufte, proportionale Verteidigung, um die es hier geht. Aber, meine Herren von der Sozialdemokratie, Ihnen ist heute noch immer nicht die Konzeption der NATO klar, und Sie wollen auch gar nicht, daß sie ihnen klar wird. Es geht für Sie bei dieser Frage wieder nur darum, zum x-ten Male zu versuchen, die Wähler hinter sich zu bringen, wie das auf Ihrem Parteitag in Stuttgart ja unzweideutig ausgesprochen worden ist.
Nachdem hier von Herrn Metzger und auch von Herrn Dr. Mommer so häufig zitiert worden ist, daß das geistige Deutschland jetzt endlich hinter diesen Aktionen der SPD stehe, möchte ich Ihnen, in einer Parallele zu dem, was der Herr Bundesinnenminister vorgetragen hat, ein paar Stellen aus der Zeitschrift „Die Kultur" mit Genehmigung des Herrn Präsidenten zitieren. Diese Zeitschrift läßt es sich angelegen sein, eben dieses geistige Deutschland unterzeichnen zu lassen, darunter viele Sozialdemokraten, und sie holt auch Stellungnahmen und Begründungen dieses geistigen Deutschlands zu diesen Schritten ein. Da kann man nun von dem bekannten Schriftsteller Albert Vigoleis Thelen folgendes als Begründung für seine Unterschrift lesen:
Ich halte nicht nur die atomare Bewaffnung der Bundeswehr für verwerflich, sondern die Bundeswehr selbst, mit der man ebenso aufräumen sollte wie mit jeder anderen militärischen Ordnung.
An einer anderen Stelle ist die Rede von der „sich christlich nennenden Regierungspartei". Dazu Thelen:
Das halte ich für eine unlautere Machenschaft, weil es bei arglosen Lesern den Eindruck erweckt, das Christentum sei eine Gewähr für friedfertige Gesinnung. Dabei feiert gerade im Christentum die Verlogenheit unserer Kultur einen hohen Triumph.
Das ist ein Vertreter des „geistigen Deutsch-
lands". Ein anderer, der Schriftsteller Martin Kessel, versteigt sich zu folgendem. Er schreibt:
Die Zeit wird kommen, wo es heißt: Sterben müssen wir alle mal, also ist es auch wurscht, ob etwas früher oder später. Und dann wird auch ein Kardinal auftauchen, der das Ruhrgebiet segnet, und die Idiotenbande wird niederknien und beten, bis der ganze Stumpfsinn verbrennt.
Das sind die Begründungen von Leuten, die sich
als das „geistige Deutschland" bezeichnen
und hier ihre Stellungnahme gegen die atomare
Bewaffnung begründen. Wir kennen diese Vertreter des geistigen Deutschlands! Dazu kann ich nur
1736 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 31. Sitzung, Bonn, Freitag, den 13. Juni 1958
Dr. Zimmermann
sagen: Meine Herren von der SPD, es tut mir in der Seele weh, wenn ich euch in der Gesellschaft seh!
Denn was hier zu lesen steht, leider in einer Vielzahl von Zuschriften mit diesen Begründungen zu lesen steht, ist der Ausdruck eines alles niederzerrenden Nihilismus. Das sind Leute, die den Staat als Ordnungszelle überhaupt ablehnen und ihn niederreißen wollen, wo sie ihn sehen, insonderheit natürlich diesen Staat, der für sie das Unglück hat, von einer christlich-demokratischen Mehrheit und Regierung geführt zu werden.
Aber wenn schon die SPD glaubte ausziehen zu müssen, als der Herr Bundesinnenminister eine ganz nüchterne und kühle Analyse des Hintergrundes gab, so. ist auf der andern Seite die CDU/CSU keineswegs ausgezogen, als Herr Kollege Mommer mehrfach die Politik der Regierung und ihre Absichten mit Goebbels und mit Hitler verglich. Ich möchte einmal fragen, ob er sich die Mühe genommen hat, nachzulesen, welche Summen Herr Goebbels damals für sein Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda auszugeben in der Lage war, und das mit den bescheidenen Mitteln zu vergleichen, die das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung — ich glaube: legitim hat, um der Bundesregierung die Möglichkeit zu geben, Ihre Politik verständlich zu machen und zu vertreten.