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    1. tocInhaltsverzeichnis
      Deutscher Bundestag 25. Sitzung Bonn, den 24. April 1958 Inhalt: Abg. Leukert (CDU/CSU) tritt als Nachfolger des Abg. Klausner in den Bundestag ein 1361 A Große Anfrage der Fraktion der SPD betr Finanzielle Verpflichtungen aus dem Verteidigungshaushalt und ihre kassenmäßige Erfüllung (Drucksache 195) — Fortsetzung der Aussprache —. Dr. Schellenberg (SPD) 1361 C, 1379 B, 1382 D Blank, Bundesminister 1368A, 1381 B, 1383 A Frau Schanzenbach (SPD) . . . . 1371 B Dr. Wuermeling, Bundesminister . 1374 B Stingl (CDU/CSU) . . . . . . . 1376 C Seuffert (SPD) 1383 B, 1394 C Krammig (CDU/CSU) 1385 D Etzel, Bundesminister 1388 A Dr. Deist (SPD) . . . . . . . 1393 C Strauß, Bundesminister 1395 D Wehner (SPD) . . . . . . . 1405 D Entwurf eines Gesetzes zur Volksbefragung wegen einer atomaren Ausrüstung der Bundeswehr (SPD) (Drucksache 303) — Erste Beratung — Dr. Menzel (SPD) 1412 D Dr. Barzel (CDU/CSU) 1421 A Dr. Schröder, Bundesminister . . 1430 A Dr. Bucher (FDP) 1433 C Euler (DP) . . . . . . . . . 1437 D Blachstein (SPD) 1441 B Dr. Jaeger (CDU/CSU) 1448 B Nächste Sitzung . . . . . . . . . 1456 D Anlage 1457 A Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1958 1361 25. Sitzung Bonn, den 24. April 1958 Stenographischer Bericht Beginn: 9 Uhr. Vizepräsident Dr. Becker (nach seiner Genesung mit Beifall begrüßt) : Die Sitzung ist eröffnet. Meine Damen und Herren, für unseren verstorbenen Kollegen Klausner ist mit Wirkung vom 21. April 1958 der Abgeordnete Leukert in den Bundestag eingetreten. Ist der Kollege anwesend? (Abg. Leukert: Ja!) — Dann darf ich ihn herzlich begrüßen. Ich wünsche ihm eine gute Mitarbeit. (Beifall.) Eine weitere amtliche Mitteilung wird ohne VerLesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen: Der Stellvertreter des Bundeskanzlers hat mit Schreiben vom 22. April 1958 mitgeteilt, daß sich die Verkündung der vom Bundestag in seiner 16. Sitzung beschlossenen Fünfzehnten Verordnung über Zolltarifänderungen zur Durchführung des Gemeinsamen Marktes der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl — Drucksachen 108, 239 — erübrige. Sein Schreiben wird als Drucksache 346 verteilt. Die Aussprache zur Großen Anfrage der Fraktion der SPD betreffend finanzielle Verpflichtungen aus dem Verteidigungshaushalt konnte in der gestrigen Sitzung nicht mehr abgeschlossen werden. Auf Vorschlag des amtierenden Präsidenten wurde beschlossen, diesen Gegenstand erneut als Punkt 1 auf die Tagesordnung der heutigen Sitzung zu setzen. Ich rufe daher auf: Große Anfrage der Fraktion der SPD betreffend Finanzielle Verpflichtungen aus dem Verteidigungshaushalt (Einzelplan 14) und ihre kassenmäßige Erfüllung (Drucksache 195) . Nach § 33 der Geschäftsordnung hat der Präsident darauf zu achten, daß eine sachgemäße Erledigung des Gegenstandes, d. h. auch eine entsprechende Gruppierung der Redner vorgenommen wird. Ich habe deshalb an die Damen oder Herren, die zu diesem Punkt noch sprechen möchten, die Bitte zu richten, sich jetzt schon beim Schriftführer zu meiner Rechten zu melden und dabei mit anzugeben, über welchen Fragenbereich sie sprechen wollen. Ich glaube nämlich, eine gewisse Gruppierung des Stoffs bedeutet eine Erleichterung sowohl für die Presse als auch für das Verständnis aller Zuhörer und gibt den zuständigen Ministern die Möglichkeit, zum richtigen Zeitpunkt in die Debatte einzugreifen. Ich darf also bitten, so zu verfahren. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schellenberg. Dr. Schellenberg (SPD) : Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Ausmaß der Rüstungsausgaben hat nicht nur volkswirtschaftliche und finanzielle Auswirkungen, sondern ist auch von entscheidender Bedeutung für die gesamte Sozialpolitik. Das wissen Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, natürlich auch. (Zuruf von der CDU/CSU: Seien Sie vorsichtiger!) — Ich komme noch darauf, darüber werden wir noch sehr eingehend zu sprechen haben, vielleicht mehr, als Ihnen lieb ist. In der gestrigen Debatte haben Sie nämlich versucht, den sozialpolitischen Problemen möglichst aus dem Wege zu gehen. (Abg. Dr. Hellwig: Herr Stingl hat es noch vor!) — Ich komme auch zu Herrn Stingls Verhalten. Die Herren Vogel und Hellwig haben lediglich einige schwungvolle Worte über den Zusammenhang zwischen äußerer Sicherheit und innerer Sicherheit gesagt. (Zurufe von der Mitte.) Das ist für die Probleme, um die es bei diesen Rüstungsausgaben geht, zu wenig. Zur Entschuldigung gestehe ich den Herren Vogel und Hellwig zu, daß ihnen die sozialpolitischen Probleme etwas ferner liegen. (Abg. Dr. Hellwig: Woher wissen Sie?) — Das haben Sie wiederholt bewiesen, Herr Kollege Hellwig. (Beifall bei der SPD.) Es fiel der Name des Kollegen Stingl. Herr Kollege Stingl hat sich gestern zweimal zum Wort gemeldet und zweimal seine Wortmeldung zurückgezogen. Ich weiß nicht, weshalb er das getan hat. (Abg. Rasner: Es lohnte nicht!) 1362 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1958 Dr. Schellenberg Entweder hielt er die sozialpolitischen Dinge im Rahmen der Aussprache für nicht so wichtig, (Abg. Rasner: Nach Ihnen, Herr Professor!) oder er wollte eine bestimmte Rangordnung in der Rednerfolge erreichen. (Zurufe von der CDU/CSU.) Aber wir haben ja heute keine Life-Sendung. Weshalb dieses Katze-und-Maus-Spiel? Im übrigen kann ich Ihnen sagen — das habe ich hier schon wiederholt unter Beweis gestellt —: Wenn Herr Kollege Stingl oder ein anderer von Ihnen über sozialpolitische Fragen spricht und sie meines Erachtens nicht in das richtige Licht gerückt werden, dann werde ich noch wiederholt dazu das Wort nehmen. (Lachen bei der CDU/CSU.) Dessen können Sie sicher sein. (Zurufe von der CDU/CSU.) Nun haben gestern nicht nur die Vertreter der Regierungsparteien, sondern auch die Herren Vertreter der Regierung gesprochen. Der Herr Bundesarbeitsminister war, soweit ich sah, gestern nicht anwesend. (Abg. Horn: Sie wissen ja, daß er nicht da war!) — Er war nicht anwesend. (Abg. Horn: Sie wissen aber, wo er war!) — Ich weiß nicht, wo er war! Wahrscheinlich hielt er irgendwo eine Rede über die großen sozialen Leistungen der Bundesregierung. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD. — Zurufe von der CDU/CSU.) Also der Herr Bundesarbeitsminister war nicht anwesend, obwohl dem Hause und der Öffentlichkeit bekannt ist, daß zwischen Rüstungshaushalt und Sozialhaushalt sehr weitgehende Beziehungen bestehen. Wir mußten uns also auf Mitteilungen anderer Ressortchefs beschränken, obwohl sicher gerade die Ausführungen des Herrn Bundesarbeitsministers wegen seiner eingehenden Kenntnis der Beziehungen zwischen Rüstungs- und Sozialausgaben das Haus außerordentlich interessiert hätten. Nun, was hat der Herr Bundesfinanzminister in der Antwort der Regierung erklärt? Er hat wörtlich gesagt: Die Höhe des deutschen Verteidigungsbeitrages . . . wird jährlich neu geprüft und jeweils den veränderten politischen, technischen, finanziellen und militärischen Bedürfnissen angepaßt. Von sozialpolitischen Bedürfnissen hat der Herr Bundesfinanzminister nicht gesprochen. (Abg. Horn: Das war ja auch nicht das Thema des Tages!) — Das war nicht das Thema des Tages. Das gehört zum Thema Rüstungsausgaben, meine Damen und Herren. (Lebhafter Beifall bei der SPD.) Sie können diese Zusammenhänge nicht vom Tisch wegwischen, wenn Sie es vielleicht auch möchten. Aber auch der Herr Bundeswirtschaftsminister hat Erklärungen abgegeben, in denen er die Sozialausgaben zwar nicht ausdrücklich erwähnt, in denen er aber doch in geradezu erschütternder Weise unter Beweis gestellt hat, wie gering sein Verständnis für die sozialen Belange ist. (Zurufe von der CDU/CSU.) Ich möchte das wörtlich zitieren. Ich habe es mir nämlich aufgeschrieben, Sie können es im Protokoll nachlesen. Der Herr Bundeswirtschaftsminister hat erklärt: Wir haben zwar das eine oder das andere zurückstellen müssen. Aber niemand ist dabei zu kurz gekommen. — Das wurde wörtlich gesagt, und ich glaube, treffender konnte der Herr Bundeswirtschaftsminister sein mangelndes Verständnis für die sozialen Belange von Millionen Menschen nicht kennzeichnen. (Beifall bei der SPD. — Abg. Horn: Aber, aber! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU.) Diese Ausführungen des Herrn Bundeswirtschaftsministers reihen sich würdig an seine Erklärungen im Zusammenhang mit der Rentenneuregelung. Er hat nämlich gesagt, er werde die Giftzähne aus der Rentenreform herausbrechen. (Zurufe von der CDU/CSU.) Das ist die gleiche Melodie. Meine Damen und Herren, so billig kommen Sie nicht davon! (Abg. Horn: So billig!) Dazu ist die Angelegenheit zu teuer. (Beifall bei der SPD. — Zurufe von der CDU/CSU.) — Ich werde das konkret beweisen, Herr Kollege Hellwig, selbstverständlich! Wie ist die Lage im sozialpolitischen Bereich? Bei allen sozialpolitischen Auseinandersetzungen in diesem Hause ging es und geht es im Grundsatz immer darum, welcher Anteil der gesamten Bundesausgaben für Sozialausgaben bereitgestellt wird und welcher Anteil vom gesamten Sozialprodukt auf die Sozialleistungen entfallen soll. Das ist die grundsätzliche Auseinandersetzung, die wir in diesem Hause immer geführt haben. Hierüber gibt es zwischen uns erhebliche Meinungsverschiedenheiten. Im Gegensatz zu Ihnen waren wir immer der Auffassung, daß in den Bundesausgaben der Anteil an Sozialausgaben zu niedrig ist und daß die Verteilung des Sozialprodukts ungerecht ist. Wir waren und sind der Meinung, daß die Bundesrepublik leider weit entfernt davon ist, ein Sozialstaat zu sein, wie es in Art. 20 des Grundgesetzes festgelegt ist. Sie haben Ihre Auffassungen über die Bundesrepublik als Sozialstaat im wesentlichen auf zweierlei Weise begründet. Sie haben erstens immer erklärt, die Sozialausgaben bildeten den größten Block der Bundesausgaben, und Sie haben zweitens stets die Behauptung aufgestellt, der Anteil der Sozialleistungen wachse laufend mit der Zuwachs- Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1958 1363 Dr. Schellenberg rate des Sozialprodukts. Heute sind Sie im Zusammenhang mit dem Rüstungsaufwand bereit, diese Ihre Konzeption vom Sozialstaat über Bord zu werfen. Ich möchte Ihnen das an Hand Ihrer eigenen Angaben und nicht an Hand meiner Berechnungen beweisen. Die Behauptung, daß die Sozialausgaben der größte Posten im Bundeshaushalt seien, läßt sich auf Grund Ihrer eigenen Zahlenangaben für das Jahr 1958 nicht mehr aufrechterhalten. An dem Trick, den Sozialleistungen die Ausgaben für die 131er und die Ausgaben für die Versorgung der Berufssoldaten der früheren Wehrmacht hinzuzurechnen, haben Sie in den Vorbemerkungen zum Haushalt teilweise selber nicht mehr festgehalten. Sie haben — lesen Sie nach auf Seite 164! — den Sozialausgaben zwar die Ausgaben für die Kriegsopferversorgung und die Ausgaben für die Umsiedlerhilfe und die Ausgaben für die Kriegsfolgenhilfe hinzugerechnet, aber selbst bei dieser weiten Fassung des Begriffes der Sozialleistungen steht in Ihren Vorbemerkungen zum Bundeshaushalt schwarz auf weiß, daß die Ausgaben für Sozialleistungen im Rechnungsjahr 1958 um 300 Millionen DM niedriger sind als im Jahre 1957. (Abg. Horn: Ja, was soll das?) — Das ist ein wichtiger Tatbestand! Zum erstenmal seit Bestehen der Bundesrepublik geht im Bundeshaushalt der Anteil der Sozialausgaben auch in der absoluten Höhe zurück. Wir müssen feststellen, daß nach Ihren eigenen Vorbemerkungen zum Bundeshaushalt zum erstenmal seit Bestehen der Bundesrepublik die Ausgaben für die Rüstung höher als die Sozialausgaben — selbst in dieser weiten Fassung — sind. Meine Damen und Herren von den Regierungsparteien, ich frage Sie: kann man einen Staat, bei dem die Rüstungsausgaben höher sind als die Ausgaben für soziale Zwecke, als Sozialstaat bezeichnen? (Abg. Horn: Jawohl!) Prüfen Sie das selbst, prüfen Sie das in Ihrem Kämmerlein! Und nun ein Zweites! Sie haben nach harten Auseinandersetzungen zugestanden — auch auf Grund unserer Initiative —, daß der Gedanke des Sozialstaates erst dann verwirklicht sei, wenn auch die Sozialleistungsempfänger laufend am Zuwachs des Sozialprodukts teilnähmen. Das war Ihr zweites Fundament für die Konzeption des Sozialstaats, wie Sie ihn sehen. Diese Konzeption haben Sie in diesem Jahr zum erstenmal aufgegeben. (Zuruf des Abg. Schütz [München].) — Herr Kollege Schütz, Sie haben den Haushalt offenbar nicht gelesen; ich empfehle Ihnen dringend, das über das Wochenende zu tun, bevor Sie weiter in Versammlungen gehen. Bei der Aufstellung des Bundeshaushalts — und das steht auch in der finanzpolitischen Begründung — wurde von einer Zuwachsrate des Sozialprodukts von 7 % ausgegangen. Man kann sich darüber streiten — und das wurde gestern getan —, ob diese Zuwachsrate richtig angesetzt ist. Jedenfalls geht die Bundesregierung von einer solchen Zuwachsrate aus. Dementsprechend müßte sie auch bei den Sozialleistungen die gleiche Zuwachsrate zugrunde legen, wenn die Auffassung aufrechterhalten werden soll, daß die Sozialleistungen nicht hinter der Entwicklung des Sozialprodukts zurückbleiben sollen. Wenn Sie zu den Sozialausgaben des Bundes von 1957 die Zuwachsrate von 7 % hinzurechnen, wie Sie es bei Ihrer gesamten Haushaltskonzeption getan haben, dann müßten im Haushalt 10,7 Milliarden DM und nicht 9,7 Milliarden DM für Sozialausgaben vorgesehen sein. Sie sind also bei den Sozialausgaben, gemessen an der Entwicklung des Sozialprodukts, schon in diesem Rechnungsjahr um 1 Milliarde DM unter den Ansätzen des Vorjahres geblieben. Das bedeutet, daß die Sozialleistungsempfänger nicht an der Entwicklung des Sozialprodukts teilnehmen sollen und von der Kaufkraftverschlechterung betroffen werden. Wo ist diese 1 Milliarde hingewandert? In den Rüstungshaushalt! (Sehr wahr! bei der SPD. — Abg. Schütz [München] : Ist die Freiheit gar nichts wert?) — Darüber wollen wir sprechen! Aber Sie müssen doch erst einmal diesen Tatbestand zugeben und dürfen ihn nicht verschleiern, (Beifall bei der SPD) indem Sie erklären, zu den Sozialausgaben gehörten auch die Leistungen für die 131er und die Versorgung der früheren Soldaten. Wir wollen erst einmal die Tatbestände klären! Ich beziehe mich in meiner Argumentation auf Ihre eigene Konzeption Wir stehen auf dem Standpunkt, daß die Verteilung des Sozialprodukts ungerecht ist. Sie haben erwidert: Wir lassen die Sozialleistungsempfänger an der Entwicklung dos Sozialprodukts teilnehmen. Mit dieser Ihrer eigenen Konzeption brechen Sie heute, und das ist doch ein wichtiger Tatbestand, eine Veränderung der Situation zu Lasten der sozial Schwachen. (Beifall bei der SPD.) Sie stellen die Weichen in eine bedenkliche, um nicht zu sagen in eine gefährliche Richtung. Diese Entwicklung ist um so verhängnisvoller, als die Folgen des vergangenen Krieges in sozialer Hinsicht noch längst nicht überwunden sind, auch wenn 10 000 einen Mercedes 300 fahren, auch wenn Herr Erhard erklärt, es sei niemand zu kurz gekommen. Meine Damen und Herren, Sie werden mir erwidern, Sie hätten im gegenwärtigen Haushaltsjahr keinen Eingriff in das geltende Sozialrecht vorgenommen. Bis jetzt noch nicht; im Augenblick gehen Sie bei den Einschränkungen der Sozialausgaben noch indirekt vor, indem Sie dringend notwendige Ausgaben für soziale, kulturelle und gesundheitliche Aufgaben unterlassen. Im Bundesgebiet fehlen beispielsweise noch 46 000 Klassenräume, weil Sie den Ländern nicht die finanzielle Möglichkeit geben, im Zusammenwirken mit den Kommunen einen solchen Bedarf zu befriedigen. (Zuruf von der Mitte: Reden Sie doch zum Thema!) 1364 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1958 Dr. Schellenberg — Das ist das Thema der Rüstungsausgaben. (Zuruf von der Mitte: Was wollen Sie denn?) — Sie wollen den Zusammenhang zur Rüstung vertuschen. (Zuruf von der Mitte: Alte Platte!) — Das ist für Sie eine alte Platte! Sie wollen wohl die 46 000 Schulräume ad calendas graecas fehlen lassen. (Zuruf von der Mitte: Sagen Sie mal, was Sie ausgeben wollen!) — Ich spreche dazu, welche Auswirkungen die Rüstung auf die sozialen Aufgaben des Bundes haben wird. Auf diese Frage müssen Sie eine Antwort geben. Mit der allgemeinen Bemerkung: Erst die äußere Sicherheit garantiert die innere Sicherheit, kommen Sie nicht weiter, wenn Sie die Ausgaben für die innere Sicherheit gleichzeitig in so bedenklicher Weise schwächen. (Beifall bei der SPD.) Ein anderes Beispiel! Nach den Mitteilungen der verantwortlichen Krankenhausärzte fehlen 4 Milliarden D-Mark für die Investitionen in den Krankenhäusern. Das ist ein gesundheitspolitisch bedauerlicher Tatbestand. (Zurufe von der Mitte.) Ich möchte Ihnen ein Beispiel aus dem praktischen Leben nennen. Die Presse ist voll von Berichten über die Erfindung einer Herz-Lungen-Maschine; sie kostet 160 000 DM. In welcher Lage sind wir? Wir müssen gewissermaßen öffentliche Sammlungen veranstalten, damit solche Maschinen beschafft werden können. Das ist eine peinliche Lage. (Beifall bei der SPD. — Abg. Dr. Stoltenberg: Bewilligen Sie sie doch in Nordrhein- Westfalen!) — Ich habe den Zusammenhang zwischen Bundeshaushalt und Länderhaushalten aufgezeigt, auf den meine Kollegen schon bei der Haushaltsberatung hingewiesen haben. Meine Damen und Herren, Sie unterlassen es nicht nur, dringend notwendige Ausgaben für soziale Zwecke einzusetzen, sondern Sie haben — das ist ein höchst bedenklicher Tatbestand, den Sie sich sorgfältig überlegen sollten — an jeder Position des gegenwärtigen Bundeshaushalts, die soziale Ausgaben betrifft, Kürzungen vorgenommen. So sind beispielsweise die Ausgaben, die für die Kriegsfolgenhilfe, für die Heimatvertriebenen, für die Rückgeführten, für die Flüchtlinge von großer Bedeutung sind, um 72 Millionen D-Mark gekürzt worden; das ist ein Tatbestand. (Zuruf von der Mitte: Warum?) — Sie fragen: Warum? — Wir alle hoffen, daß auf Grund der Repartriierungsverhandlungen die Zahl der Menschen, die aus den Ostgebieten zurückkehren, größer werden wird. Zu diesem Zeitpunkt nehmen Sie eine solche Kürzung von 72 Millionen D-Mark vor; (Hört! Hört! bei der SPD) das ist der Tatbestand. Etwas anderes! Sie haben die Bundeszuschüsse für die Arbeitslosenhilfe um 34 Millionen D-Mark gesenkt. (Zuruf des Abg. Schütz [München].) — Herr Kollege Schütz, sollte Ihnen unbekannt sein, daß die Zahl der älteren arbeitslosen Arbeiter und Angestellten in den Notstandsgebieten noch erschreckend hoch ist? Wollen Sie das leugnen? Statt die Mittel für eine produktive Erwerbslosenhilfe zu belassen und zu erhöhen, nehmen Sie im Haushalt eine Kürzung der .Arbeitslosenhilfe um 34 Millionen DM vor. Herr Kollege Schütz, Sie interessiert ja besonders der Lastenausgleich. Die Zuschüsse des Bundes zum Lastenausgleich sind um insgesamt 94 Millionen DM gekürzt worden. (Zuruf des Abg. Schütz [München].) Das bedeutet doch, daß sich die Abwicklung des Lastenausgleichs zeitlich noch mehr verzögert als ohnehin schon. (Erneuter Zuruf des Abg. Schütz [München]. — Weitere Zurufe von der Mitte.) — Meine Damen und Herren, das sind Tatbestände, an denen Sie nicht vorübergehen können. Sie müssen sich mit dieser Frage im Zusammenhang mit dem Rüstungsaufwand auseinandersetzen. (Abg. Schütz [München] : Das beruht doch auf § 6 des Lastenausgleichsgesetzes!) — Aber kommen Sie doch nicht mit diesem und jenem Paragraphen! Die praktischen sozialpolitischen Auswirkungen sind für die Menschen entscheidend. (Beifall bei der SPD. — Zuruf des Abg. Schütz [München].) Mein Freund Schoettle hat - ich erwähne das, um nun zu einer anderen Position zu kommen — schon darauf hingewiesen, daß die Ansätze in der Kriegsopferversorgung um 60 Millionen DM niedriger sind als im Vorjahr. (Abg. Horn: Sie wissen doch, warum!) — Ja, ich weiß warum. Aber, Herr Kollege Horn, bitte, sagen Sie Ihren Freunden, daß darin auch die Streichung von 42 000 Elternrenten in der Kriegsopferversorgung durch Anrechnung enthalten ist. (Sehr richtig! bei der SPD.) Meine Damen und Herren, das sind Auswirkungen, mit denen Sie sich auseinandersetzen müssen. Was hat der Herr Bundeskanzler über diese Anrechnung gesagt? Sie vergessen es immer. Deshalb muß ich wieder daran erinnern. Am 12. September 1957, drei Tage vor der Bundestagswahl, sagte er: Es wird im nächsten Bundestag eine unserer dringendsten Aufgaben sein, sämtliche noch vorhandenen Unstimmigkeiten auf diesem Gebiet zu beseitigen, damit die Rentner wirklich Dr. Schellenberg auch in den Genuß der Rentenerhöhung kommen. Es muß unter allen Umständen vermieden werden, daß die vorgesehenen Verbesserungen durch eingehende Anrechnungsbestimmungen in vielen Fällen kaum zur Auswirkung kommen. Das hat der Herr Bundeskanzler versprochen. Statt diese Härten zu beseitigen, meine Damen und Herren, schicken Sie sich an, noch größere Härten im sozialen Bereich eintreten zu lassen. (Beifall bei der SPD.) Der Herr Kollege Vogel hat von den Mehrleistungen im Zusammenhang mit der Rentenneuregelung gesprochen. Ich will keine Rentendebatte eröffnen, sonst würden wir noch bis heute abend diskutieren. Der Herr Präsident hat darum gebeten, die Diskussion zu straffen. Aber nachdem der Herr Kollege Vogel das Thema angeschnitten hat, muß ich dazu eine Bemerkung machen. Herr Dr. Vogel hat nicht erwähnt, daß die Mehrleistungen aus der Rentenneuregelung zu 82 % aus den Beiträgen und nur zu 18 % aus Bundeszuschüssen stammen. (Sehr richtig! bei der SPD. — Zuruf des Abg. Horn. — Weitere Zurufe von der Mitte.) — Aber, meine Damen und Herren, das ist doch wichtig. (Abg. Horn: Das weiß jeder!) — Das weiß jeder? Sagen Sie es mal der Bevölkerung sehr deutlich! (Beifall bei der SPD.) Dann sagen Sie der Bevölkerung auch, Herr Kollege Horn, daß der Herr Bundesfinanzminister es ungeachtet der im Gesetz festgelegten höheren Bundeszuschüsse, die sich in bestimmter Weise entwickeln sollen, durch Kürzung der Zuschüsse für die knappschaftliche Rentenversicherung, der Erstattungsbeträge für die Mindestrenten von 14 und 21 DM im Schlußergebnis fertiggebracht hat, 37 Millionen DM für Bundeszuschüsse zur Sozialversicherung weniger einzusetzen als im Vorjahr. Das ist auch für den Rüstungs- und Sozialhaushalt ein wichtiger Tatbestand. Herr Kollege Vogel — ich sehe ihn nicht im Saal; dann mag er es im Protokoll nachlesen — ist der Haushaltsexperte Ihrer Bundestagsfraktion und hat die Rentenneuregelung im Zusammenhang mit dem Bundeshaushalt erwähnt. Ich muß Herrn Kollegen Vogel und die Offentlichkeit über etwas anderes unterrichten. Als es nämlich um diese Dinge ging, hat der damalige Herr Bundesfinanzminister, dessen sachverständiger Berater der Finanzexperte der Fraktion sein sollte, folgendes an die Bundesregierung geschrieben: Nachdem nunmehr eine nicht unbeträchtliche Zahl von Mitgliedern der CDU/CSU-Fraktion wie auch Mitgliedern der übrigen Fraktionen der Regierungskoalition den Regierungsentwurf zur Rentenreform nicht mehr uneingeschränkt bejahen, schlage ich vor, das Kabinett möge wie folgt beschließen: Der Bundeskanzler wird gebeten, mit der Regierungskoalition Verhandlungen dahingehend zu führen, daß die Beratungen über die Bundestagsdrucksache 2437 — Rentenneuregelung — einstweilen zurückzustellen sind und statt dessen zum 1. Januar 1957 ein Überbrückungsgesetz verabschiedet wird. Wenn Herr Kollege Vogel im Zusammenhang mit dem Rüstungshaushalt die Rentenversicherung erwähnte, dann sollten Sie von diesen Tatbeständen Kenntnis nehmen und zugeben, wie es überhaupt zur Rentenneuregelung gekommen ist: gegen den Widerstand des Finanzministers und gegen den Widerstand des Herrn Bundeswirtschaftsministers, der in diesem Punkt mit Teilen Ihrer Fraktion die gleiche Auffassung vertreten hat. Herr Kollege Vogel, Sie waren doch sicher unter den Sachverständigen, die für die Zurückziehung des Regierungsentwurfs zur Rentenneuregelung sind. Haben Sie sich vielleicht einmal überlegt, daß es im Zusammenhang mit den Rüstungsausgaben auch angebracht wäre, zu erwägen, ob man die Vorlagen über die Rüstungsausgaben noch einmal überprüfen und zurückziehen sollte? (Beifall bei der SPD.) Bei den finanziellen Auswirkungen der Rüstungskosten ist es sozialpolitisch von entscheidender Bedeutung, daß wir jetzt, wo die Aufrüstung auf volle Touren kommt, erst am Anfang der Auswirkung auf die Sozialausgaben stehen. Der Herr Bundesfinanzminister hat sich in seinen Angaben über die zukünftigen Rüstungsausgaben gestern außerordentlich zurückgehalten, (Zuruf von der Mitte: Er hat sich präzise ausgedrückt!) — sehr zurückgehalten. Er hat nämlich praktisch nur das gesagt, was die Öffentlichkeit schon wußte. (Abg. Dr. Dollinger: Er hat Ihre Fragen beantwortet!) — Ja, formell! Darüber werden meine Freunde nachher noch sprechen. Meine Damen und Herren, man muß sich darüber klar sein — und die Offentlichkeit muß es ebenso —, daß sich aus einer Erhöhung der Rüstungsausgaben auch eine Einschränkung des Sozialhaushalts ergeben muß. Sie wissen schon heute nicht, wie Sie aus dieser Zange herauskommen sollen. Sonst hätten Sie nicht schon im ersten Jahr nach den Bundestagswahlen den Sozialhaushalt gekürzt. Das ist leider eine Entwicklung, mit der man sich auseinandersetzen muß. In diesem Jahr finanzieren Sie schon einen Teil des Zuwachses an Rüstungskosten aus dem Sozialhaushalt. Meine Damen und Herren, Sie wollen diese Entwicklung auf indirektem und direktem Wege fortsetzen. Sie werden sie nicht nur dadurch fortsetzen, daß Sie wichtige Ausgaben unterlassen, und dadurch, daß Sie die Anrechnungsvorschriften schärfer anwenden, sondern Sie werden auch zu direkten Eingriffen in das Sozialrecht kommen. Das ist keine Prophezeiung, die ich mache, sondern ich stütze mich auf Mitteilungen, die aus dem Arbeitsministerium kommen. Ich sehe gerade den Herrn Bundesarbeitsminister, er ist inzwischen gekommen, 1366 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1958 Dr. Schellenberg und er wird sich vielleicht selbst dazu äußern können, wofür ich außerordentlich dankbar wäre. Diese Tendenz ist auch an all dem zu erkennen, was wir über die weitere Entwicklung der sogenannten Sozialreform hören. Es ist noch nicht sehr lange her, da haben Sie, meine Damen und Herren, hier und in der Öffentlichkeit sehr großartig von einer umfassenden Sozialreform gesprochen, durch die der soziale Leistungsstand in der Bundesrepublik verbessert werden solle. Jetzt nehmen Sie eine Wendung in den Formulierungen vor, Sie werfen nachdrücklicher das Schlagwort von der Verstärkung des Verantwortungsbewußtseins des einzelnen in die sozialpolitische Debatte. Ich möchte darauf eingehen, und zwar an Hand von Erklärungen noch nicht offizieller, aber offiziöser Art. Da spielt beispielsweise die Frage einer wesentlichen Erhöhung der Kostenbeteiligung in der Krankenversicherung eine Rolle. Was bedeutet das wirtschaftlich? (Abg. Horn: Haben wir eine Sozialdebatte hier oder was haben wir? — Weitere Zurufe von der Mitte.) — Aber, meine Damen und Herren, Sie kürzen doch die Sozialausgaben zugunsten der Rüstungsausgaben! (Abg. Arndgen: Ist doch gar nicht wahr! Wo denn?) — In Ihrem Haushalt! Haben Sie ihn nicht gelesen? (Beifall bei der SPD. — Anhaltende Zurufe von der Mitte.) Sie wollen im Zusammenhang mit der weiteren sozialpolitischen Entwicklung schwerwiegende Eingriffe in das Sozialrecht vornehmen. Da ist doch ein Kausalzusammenhang mit der Entwicklung der Rüstungsausgaben vorhanden, daran kommen Sie nicht vorbei. Sie müssen sich diesen Fragen stellen! (Abg. Schütz [München]: Wir wollen dem nicht ausweichen! — Weitere Zurufe von der Mitte. — Unruhe.) — Ich verstehe, daß Ihnen das peinlich ist. (Zurufe von der Mitte: Nein, gar nicht! — Gegenruf des Abg. Wienand: Das ist Ihnen sehr peinlich!) Sie möchten die Zusammenhänge gern tarnen. (Zuruf von der Mitte: Sie weichen mit dieser Debatte aus!) — Nein, meine Damen und Herren, wir sind hier in einer Debatte über die zukünftige Entwicklung der Rüstungsausgaben, und da kann man es nicht allgemein damit abtun, daß man sagt: Sozialausgaben werden nicht berührt. Sie müssen sich schon selbst zu dem bekennen, was Sie in das sozialpolitische Gespräch bringen, und Sie erörtern eine Kostenbeteiligung in der Krankenversicherung. Was bedeutet das wirtschaftlich? Ich will jetzt mit Ihnen keine große sozialethische Auseinandersetzung führen; das machen wir dann, wenn es soweit ist. (Abg. Schütz [München]: Worauf Sie sich verlassen können!) Die Kostenbeteiligung bedeutet, daß der einzelne, der bisher eine bestimmte Leistung als Sozialleistung erhalten hat, diese Leistung in Zukunft aus seinem Arbeitsverdienst bestreiten soll. Das ist doch der wirtschaftspolitische und realpolitische Inhalt Ihrer Vorschläge, das bedeutet eine Beeinträchtigung des Lebensstandards der betreffenden Menschen. (Zuruf von der Mitte: Das liegt auf einen ganz anderen Gebiet!) Sie können sagen, Sie halten eine solche Verlagerung für richtig. Aber Sie dürfen die Offentlichkeit nicht über das hinwegtäuschen, um was es sich auch sozialpolitisch handelt. Sie können sagen, die Eingriffe in das Sozialrecht seien noch nicht festgelegt, wir befänden uns erst in der Diskussion hierüber. Ich billige dem Herrn Bundesarbeitsminister gern zu, daß er in diesen Dingen vorsichtiger ist als sein Vorgänger. Er kann sich darauf berufen, daß er diese Eingriffe erst zur öffentlichen Diskussion gestellt hat. Was ist darüber von dem zuständigen Referenten im Bundesarbeitsministerium konkret gesagt worden? Es ist eine Kostenbeteiligung vorgeschlagen worden, (Zurufe von der CDU/CSU: Zur Sache!) nicht nur erhöht für Arzneien, sondern auch für ärztliche Behandlung und für Krankenhausbehandlung. Es sind ganz konkrete Vorschläge in Größenordnungen zwischen 75 Pfennig und 1,50 DM für jede ärztliche Inanspruchnahme — da schwanken Sie noch —, für jeden Krankenhaustag ohne Hausgeldbezug in der Größenordnung von 1,50 DM gemacht worden. Meine Damen und Herren, überlegen Sie sich das einmal in den wirtschaftlichen Auswirkungen! Ich will Ihnen Ihre Überlegungen erleichtern. Sie können mich berichtigen, wenn ich falsch gerechnet habe. Nach dem, was der Referent im Bundesarbeitsministerium darüber gesagt hat, soll die Kostenbeteiligung einen Betrag von 650 Millionen ausmachen, die vom Sozialaufwand abgehen und den Lebensstandard des einzelnen belasten sollen. Das kann man vorrechnen. Ich will hier keine sozialpolitische Debatte im Detail führen. (Lachen bei der CDU/CSU. — Zurufe von der CDU/CSU: Sie sind ja mitten drin!) — Wollen Sie es hören? Ich kann es Ihnen vorrechnen. Glauben Sie nicht, daß ich, wenn ich hier so etwas sage, das nicht vorher genau überlegt habe! Ich will Ihnen die Größenordnungen sagen. Die Beteiligung an den Krankenhauskosten macht, wie der Referent des Bundesministeriums sagte, 150 Millionen aus, an Arztkosten 400 Millionen, Arzneien 100 Millionen. (Zurufe von der CDU/CSU: Zur Sache!) — Ach, „zur Sache"? Die Soziallasten hängen nicht mit den Rüstungsausgaben zusammen? Ja, meine Damen und Herren, Sie kommen nicht so leicht davon. Zwischen Rüstungsausgaben, Sozialausgaben und wirtschaftlichen Belastungen des einzelnen besteht kein Zusammenhang? Ihr eigener Sprecher, Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1958 1367 Dr. Schellenberg Herr Dr. Hellwig, hat gestern selbst von Opfern gesprochen und auf den Zigarettenkonsum und auf den Bierkonsum Bezug genommen. Aber klären Sie die Dinge vorher bitte erst mal in Ihrem Kreise. Die einen sagen nämlich, der Zigaretten- und Bierkonsum solle eingeschränkt werden zugunsten der Kostenbeteiligung, und Herr Dr. Hellwig hat gesagt: im Zusammenhang mit den Rüstungsaufwendungen. Und die Frage des Bierkonsums erörtern Sie erst mal in der CSU-Fraktion! (Beifall bei der SPD. — Heiterkeit.) Ich weise also nur darauf hin, daß es sich nach den Vorstellungen der Regierungsvertreter beispielsweise in der Frage der Kostenbeteiligung um wirtschaftlich bedeutsame Größenordnungen handelt. Der Bundesarbeitsminister hat dankenswerterweise auch einen Entwurf zur Unfallversicherung als Referentenentwurf vorgelegt, gewissermaßen als Versuchsballon. Was steht darin? Daß für Unfälle mit einer Beschädigung unter 25 % in Zukunft keine Rente mehr gewährt werden soll, (Hört! Hört! bei der SPD) was praktisch bedeutet, daß fast die Hälfte aller Arbeitsunfälle in Zukunft ohne eine Entschädigung bleiben soll. (Zuruf von der SPD: Unerhört!) Meine Damen und Herren, das ist ein Tatbestand, von dem Sie nicht leugnen können, daß er im Zusammenhang mit den Notwendigkeiten steht, (Abg. Schütz [München]: „Mit den Notwendigkeiten"!) — ja, den Notwendigkeiten, die sich aus Ihrer Konzeption des steigenden Rüstungsaufwands ergeben. Jetzt gehen Sie daran, die Sozialausgaben einzuschränken. Wir halten das für eine gefährliche Entwicklung; und deshalb weisen wir mit Ernst darauf hin. Sie können mir erwidern: „Ja, bei der weiteren sozialpolitischen Entwicklung werden wir auch Leistungsverbesserungen vornehmen!" Deshalb gebe ich Ihnen darauf gleich die Antwort. Auf die wirtschaftliche Größenordnung kommt es an! Bezüglich der Leistungsverbesserungen sind die Stimmen aus dem Bundesarbeitsministerium wesentlich vorsichtiger als das, was in bezug auf Beschränkung des Umfanges der sozialen Leistungen gesagt wird. Sie haben in bezug auf die Leistungsverbesserung sich sehr unverbindlich ausgedrückt; aber bezüglich der Kostenbeteiligung haben Sie schon sehr präzise Vorstellungen. Sie sprechen von einer Umschichtung des Sozialaufwands, und Sie meinen damit eine Verlagerung von den Sozialleistungen auf die eigenen Mittel und damit den Lebensstandard des einzelnen. Sie werden den Lebensstandard dadurch verschlechtern, um auch damit die erhöhten Rüstungskosten zu finanzieren. An diesem Tatbestand kommen Sie nicht vorbei. Das hat zwangsläufig verhängnisvolle Auswirkungen auf den sozialen Status der Bundesrepublik. (Sehr wahr! bei der SPD.) Meine Damen und Herren, wohin kommen Sie denn mit den ansteigenden Rüstungskosten? Sie kommen dazu, die Sozialausgaben weniger von der sozialen Notwendigkeit her bestimmen zu lassen als vielmehr von dem Restbetrag, der nach Durchführung und Finanzierung Ihrer Rüstungspläne übrigbleibt. Deshalb hat Herr Dr. Hellwig von Opfern gesprochen, der Herr Finanzminister in seinen Erklärungen von materiellen Anstrengungen, die erbracht werden müssen. Es wurde aber nicht gesagt, wer diese Opfer und diese Anstrengungen erbringen soll, die wirtschaftlich Starken oder — wie hier im sozialen Bereich — die wirtschaftlich Schwachen. Zur Belastung und Verschlechterung des Lebensstandards der wirtschaftlich Schwachen haben Sie schon Konzeptionen entwickelt. Entwickeln Sie uns Ihre Vorschläge zur Rüstungsfinanzierung durch Inanspruchnahme der wirtschaftlich Starken! (Beifall bei der SPD.) In diesem Jahre werden in bezug auf die Sozialausgaben die Weichen gestellt, weil die Sozialleistungen niedriger sind als die Rüstungsausgaben. Sie müssen sich dann mit der Frage auseinandersetzen, was Sie auf sozialem Gebiet in der Ära der Aufrüstung noch leisten können. Wie ist die Lage? Ein Staat, der die Sozialausgaben niedriger ansetzt als die Rüstungsausgaben, ein Staat, der die Sozialleistungsempfänger, die Schwächsten in unserem Volke, nicht anteilmäßig an der Entwicklung des Sozialprodukts teilnehmen läßt, ein Staat, bei dem nicht die Sozialausgaben, sondern die Rüstungsausgaben den Angelpunkt des Bundeshaushalts bilden! Ich frage Sie: kann man einen solchen Staat noch als einen Sozialstaat bezeichnen, oder ist dafür nicht die Bezeichnung Militärstaat angebrachter? (Oh!-Rufe bei der CDU/CSU. — Abg. Horn: Das ist der Gipfel der Polemik, das ist sogar demagogisch! Jetzt hören Sie aber auf, mein Lieber!) Überlegen Sie diese Entwicklung sehr sorgfältig. (Anhaltende Zurufe von der CDU/CSU.) — Ich habe an Sie eine Frage gestellt. (Weitere Zurufe von der CDU/CSU.) — Sie sollten diese Frage beantworten. (Abg. Horn: Das war eine demagogische Frage!) Herr Dr. Vogel und Herr Dr. Hellwig, Sie haben davon gesprochen, daß steigende Rüstungsausgaben erforderlich sind — das ist Ihre Vorstellung —, um auch die soziale Sicherheit zu schützen. Aber, meine Damen und Herren, indem Sie durch eine forcierte Rüstungspolitik zur Einschränkung des sozialen Leistungsbereichs gezwungen sind, beeinträchtigen Sie die soziale Sicherheit, die ein unerläßliches Fundament für Freiheit und Demokratie bildet. (Sehr wahr! bei der SPD.) Die militärische Sicherheit, die Sie, meine Damen und Herren, zu schaffen meinen, steht auf schwan- 1368 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1958 Dr. Schellenberg kendem Boden, wenn sie durch eine Beeinträchtigung der sozialen Sicherheit erkauft werden muß. (Beifall bei der SPD.) Ihre Politik der zunehmenden Rüstungsausgaben gefährdet damit den sozialen Gehalt unserer Demokratie. Meine Damen und Herren, ich frage Sie: nützt nicht eine solche Politik denen, die darauf warten, daß unser soziales Gefüge ins Schwanken gerät? (Erneuter Beifall bei der SPD. — Zurufe von der CDU/CSU.)
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      Anlage Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich Frau Albrecht 31. 5. Altmaier 26. 4. Bauer (Wasserburg) 26. 4. Bauereisen 26. 4. Bauknecht 10. 5. Frau Berger-Heise 3. 5. Birkelbach 25. 4. Dr. Birrenbach 25. 4. Frau Bleyler 26. 4. Dr. Böhm 26. 4. Brese 24. 4. Frau Dr. Brökelschen 26. 4. Dr. Dehler 25. 4. Diel (Horressen) 5. 5. Frau Dr. Diemer-Nicolaus 30. 4. Dr. Dittrich 26. 4. Döring (Düsseldorf) 24. 4. Dr. Eckhardt 30. 4. Eichelbaum 3. 5. Engelbrecht-Greve 26. 4. Felder 30. 4. Dr. Frey 26. 4. Dr. Friedensburg 30. 4. Frau Friese-Korn 31. 5. Gaßmann 26. 4. Geiger (München) 26. 4. Frau Geisendörfer 23. 5. Dr. Gülich 26. 4. Hahn 25. 4. Hamacher 25. 5. Dr. von Haniel-Niethammer 26. 4. Dr. Harm 24. 4. Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich Häussler 30. 4. Heinrich 15. 5. Frau Herklotz 1. 5. Höcherl 10. 5. Dr. Hoven 25. 4. Frau Dr. Hubert 17. 5. Hufnagel 26. 4. Iven (Duren) 26. 4. Jacobs 25. 4. Frau Kipp-Kaule 26. 4. Kunze 15. 5. Dr. Lindenberg 25. 4. Frau Dr. Dr. h. c. Lüders 30. 6. Dr. Maier (Stuttgart) 26. 4. Mattick 26. 4. Mellies 23. 5. Memmel 25. 4. Meyer (Oppertshofen) 26. 4. Mischnick 24. 4. Frau Niggemeyer 30. 4. Frau Renger 10. 6. Richarts 25. 4. Ruf 25. 4. Scharnberg 26. 4. Scharnowski 26. 4. Scheppmann 2. 5. Dr. Schmid (Frankfurt) 26. 4. Schneider (Hamburg) 24. 4. Storch 25. 4. Sträter 31. 5. Struve 7. 5. Dr. Wahl 15. 5. Frau Dr. h. c. Weber (Essen) 24. 4. Weimer 31. 5. Dr. Zimmer 26. 4.
    • insert_commentVorherige Rede als Kontext
      Rede von Peter Blachstein


      • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
      • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

      Herr Dr. Barzel, mir ist dieses Detail der gewaltigen Kundgebung der Hamburger nicht bekannt. Aber ich kann darin kein Unglück sehen.

      (Zurufe von der CDU/CSU: Aha! — Das ist es ja eben! — Da unterscheiden wir uns! — Gegenrufe von der SPD.)

      Noch ein Wort zur Einschätzung der Kundgebung durch den Herrn Dr. Barzel, der sich hier zu der grotesken Behauptung verstiegen hat, durch diese Kundgebung seien die Chancen der Kommunisten gestiegen! Herr Dr. Barzel, vielleicht ist es wirklich gut, daß Sie sich Hamburg einmal ansehen. Im Hamburger Hafen und auf den Hamburger Werften, die einmal Hochburgen der Kommunisten waren, gab es selbst nach 1945 noch z. B. bei Betriebsratswahlen nicht unbeträchtliche kommunistische Minderheiten,
      an manchen Stellen sogar Mehrheiten. Wenn das heute nicht mehr so ist, dann nicht etwa durch Ihr törichtes Verbot der KPD, sondern durch einen offensiv geführten Kampf um die Hamburger Bevölkerung, um die Hamburger Arbeiterschaft, wie ihn die Sozialdemokratie seit 1945 ausgefochten hat. Wenn heute die Mehrheit der Arbeiter, der Angestellten und der Bürger dieser Stadt hinter der Sozialdemokratie steht, so ist das eine Leistung, die nicht dadurch in Frage gestellt wird, daß man die Menschen heute auffordert, sich gegen die Atombewaffnung zu wehren. Die Anfälligkeit für Rückfälle in kommunistische Neigungen wird vielmehr durch einen wirklichen, effektiven Widerstand gegen eine Katastrophenpolitik in der Bundesrepublik nur vermindert.
      Ein letztes Wort zu Ihnen, Herr Dr. Barzel. Sie haben eine ganze Theorie erfunden vom „Ohnemich" über die Paulskirche zur Bewegung gegen den Atomtod bis zum Generalstreik gegen die Regierung. Wo haben Sie das eigentlich her? Wer hat Ihnen das aufgeschrieben, oder ist das ganz frei erfunden?

      (Lachen bei der SPD. — Zurufe von der Mitte.)

      Ich frage Sie. Der Sprecher der CDU hat hier eine, wie er behauptet hat, strategische Linie der SPD in diesem Kampfe entwickelt. Ich frage Sie: wo haben Sie das her, wie können Sie eine solche Behauptung in dieser Form aufstellen?

      (Zuruf von der Mitte: Lesen Sie keine Zeitung?)

      Es hat keine sozialdemokratische Ohne-Mich-Bewegung gegeben,

      (Lachen in der Mitte)

      es hat eine Bewegung der Paulskirche gegen die Einführung der Wehrpflicht im geteilten Deutschland gegeben.

      (Zuruf von der Mitte: Das praktizieren Sie gerade wieder!)

      Es gibt heute den Kampf gegen den Atomtod,

      (Zuruf von der Mitte: Daran Sind Sie auch nicht beteiligt?!)

      der im übrigen nicht eine Sache der Sozialdemokratischen Partei ist

      (Lachen in der Mitte)

      — ich weiß, daß Ihre Hochschätzung all derer, die nicht zu Ihrer Partei gehören, nicht sehr groß ist oder nur so lange anhält, wie sie bei Ihnen stehen —, sondern an dieser Bewegung sind breite Schichten unseres Volkes beteiligt — sonst würde Sie das Ganze auch nicht so erregen —, die nicht zur Sozialdemokratischen Partei, ja noch nicht einmal zu ihren Wählern gehören. Es geht hier um eine Bewegung, von der wir meinen, daß sie notwendig ist, um die Atombewaffnung der Bundesrepublik zu verhindern, und zwar durch die Zusammenarbeit von Menschen beider Bekenntnisse, verschiedener Parteien, der Gewerkschaften, von Schriftstellern, Wissenschaftlern und anderen, die gemeinsam hier



      Blaustein
      in einer Frage, allerdings in einer Frage, von der wir glauben, daß sie entscheidend ist, versuchen, einen Einfluß in der Öffentlichkeit zu gewinnen und die Regierung und die Mehrheit davon abzuhalten, den Weg, den Sie hier im vorigen Monat aufgezeigt haben, zu gehen.
      Ich hatte eigentlich die Absicht gehabt — ich will es nun tun —, mit einem Dank an die Wissenschaftler zu beginnen, die in Deutschland und anderswo aus dem Wissen um die Entwicklung der neuen Massenvernichtungsmittel, aus ihrem Wissen um die Waffentechnik und ihre Wirkung, das Wort genommen haben, um die Politiker und die Völker zu warnen und ihnen zu sagen, was auf dem Spiele steht. Einer hat es so ausgedrückt:
      Wenn es gelingt, die Wissenschaftler davon zu überzeugen, daß sie der Menschheit die sie selbst quälenden Gedanken vortragen müssen, dann besteht die Hoffnung, daß diese entsetzlichen Explosionen aufgegeben und die Machthaber unter Druck gesetzt werden. Aber die Wissenschaftler müssen das Wort ergreifen. Nur sie besitzen die Autorität, zu erklären, daß wir nicht länger die Verantwortung für diese Experimente tragen können. Nur sie können es sagen.
      Dieses Zitat stammt aus einem Brief von Albert Schweitzer, der nun wahrscheinlich auch des Bolschewismus verdächtig sein wird.

      (Zurufe von der Mitte: Nein!)

      — Nein? Dann haben Sie schon etwas dazugelernt.
      Wir sind dankbar — und das unterscheidet die Atomdebatte dieses Hauses in diesem Jahre von der Atomdebatte, die wir hier im Sommer 1955 geführt haben —,

      (Zuruf von der Mitte: Also noch vor den Bundestagswahlen!)

      daß in der deutschen und internationalen Öffentlichkeit eine ganze Menge geschehen ist, um den Völkern und, wenn Sie wollen, auch den Politikern die Augen für die Konsequenzen des Atomwettrüstens zu öffnen. Ich möchte in meinen Dank auch die Ärzte und die Publizisten einschließen, die in diesen Jahren — —

      (Abg. Pelster: Auch die Wissenschaftler, die die Atomkraft entdeckt haben?)

      — Auch die Wissenschaftler, die sie erfunden haben, Herr Kollege, wenn die Dinge für friedliche Zwecke, nämlich zum Nutzen der Menschheit, zur Verwendung kämen.

      (Beifall bei der SPD.)

      Ich möchte in meinen Dank auch die Ärzte und Publizisten einschließen, daß sie in alle Versuche in der Bundesrepublik — und die Bundesrepublik ist in guter Gesellschaft ihrer amerikanischen Obermeister und anderer — der Verdunkelung, der Verniedlichung, der Bagatellisierung, das sei wie ein Gewitter und ziehe wieder weg, der Verbreitung von halben Wahrheiten und der ganzen Unwahrheiten durch eine breite Schneise Licht gebracht haben. Das steht im Gegensatz zur Politik der Bundesregierung, die bis zum heutigen Tage in diesem Hause keine wirkliche Planung vorgenommen, keine wirkliche Darlegung dessen gebracht hat, was sie für notwendig hält, sondern sich einfach darauf zurückzieht, uns zu erklären, sie werde, wenn die allgemeine, kontrollierte Abrüstung im Weltmaßstab nicht zustande komme, die Maßnahmen treffen, die die NATO für notwendig hält. Aber eine Darlegung in diesem Hause darüber, was für unser Land notwendig ist, das Weißbuch, das wir im vorigen Monat von der Bundesregierung gefordert haben — ich weise darauf hin, daß sich die englische Regierung selbstverständlich verpflichtet fühlte, dem Parlament und dem englischen Volk Rechenschaft über das ganze Problem und die Einstellung der Regierung dazu zu geben —, haben Sie abgelehnt, weil eine ernsthafte Befassung mit den Notwendigkeiten, Möglichkeiten und Konsequenzen einer atomaren Bewaffnung von Ihnen vorläufig nicht gewünscht wird und weil die Regierung das weiterhin im Schoße der NATO allein beraten und beschließen will. Dafür hat dieses Haus bereits eine Art Generalvollmacht erteilt.

      (Abg. Euler: Unerträglich, diese Verlogenheit! — Lebhafte Gegenrufe von der SPD.)

      Meine Damen und Herren, wir müssen uns darüber im klaren sein — alle wissen es oder könnten es wissen —, daß der Einsatz atomarer Waffen bis zu den Wasserstoffbomben die erklärte Politik der NATO ist. Eine der vielen Erklärungen über diesen Punkt lautet z. B.: Es ist ganz eindeutig, sie werden eingesetzt, wenn man uns angreift.
      Der Bundeskanzler hat hier in der letzten großen Atomdebatte ein sehr wahres Wort gesprochen: wenn eine Weltkatastrophe käme, würde Deutschland in sie hineingerissen werden, gleichgültig, ob es bewaffnet ist oder ob es nicht bewaffnet ist.

      (Abg. Majonica: Deshalb müssen wir das verhindern!)

      — Meine Damen und Herren, mich wundert, daß Sie nicht schreien. Wenn ein Sozialdemokrat das gesagt hätte, hätte ein fürchterliches Geschrei angehoben. Aber es steht im Stenographischen Bericht.

      (Abg. Majonica: Es ist ja auch richtig!)

      — Wenn Sie sagen, es ist richtig, möchte ich fragen: Wie steht es dann mit dem Ausspruch des Bundeskanzlers bei der Begründung des Eintritts in die NATO, daß durch den Eintritt der Bundesrepublik in die NATO Deutschland kein Kriegsschauplatz würde?

      (Abg. Majonica: Eben weil wir die Katastrophe verhindern! Das ist doch sehr logisch!)

      — Das ist wirklich schwarze Dialektik, der ich nicht folgen kann.

      (Beifall bei der SPD. — Zurufe von der Mitte.)




      Blachstein
      Sie erklären, daß Ihre Ermächtigung zur Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen nur dem Zweck diene, den Atomkrieg zu verhindern.

      (Sehr richtig! in der Mitte.)

      Alle Rüstungsprogramme in unserer Geschichte, von den Flottenvorlagen vor dem ersten Weltkrieg über die Luftgeschwader vor dem zweiten Weltkrieg bis zur Atombewaffnung heute, sind damit begründet worden, man müsse so stark werden, daß man nicht angegriffen werde, und auf diese Weise werde der Frieden erhalten.

      (Zurufe von der CDU/CSU: Völlig andere Voraussetzungen! — Wollen Sie gar nichts tun? — Weitere Zurufe von der Mitte.)

      Zweimal ist diese Rüstungstheorie und diese Politik gescheitert und hat uns hart an den Abgrund gebracht. Ja, meine Damen und Herren, leben wir nicht immer noch in einer Katastrophe, trotz des chromglitzernden Wohlstandes in der Bundesrepublik? Empfinden Sie es nicht heute noch als eine nationale Katastrophe, daß Deutschland als Folge dieses zweiten Weltkrieges gespalten ist?

      (Beifall bei der SPD.)

      Sie werden sehr unwillig, wenn wir Ihnen sagen, daß nach unserer Überzeugung der dritte Versuch mit der Theorie, so stark zu werden, daß ein Angreifer entmutigt wird, ein Risiko für das geteilte Deutschland in sich schließt, das zu seinem Untergang führen kann. Sie werden unruhig, wenn wir sagen, daß wir darin eine Kriegsgefahr und eine Kriegsmöglichkeit sehen. Wenn Sie die Drohung mit einem Gegenschlag nicht ernst meinen, dann ist sie überflüssig. Sie können zwar uns in diesem Hause bluffen, Sie können auf eine Weile vielleicht das deutsche Volk bluffen, aber die Russen werden Sie nicht bluffen.

      (Abg. Kraft: Wollen Sie denn kapitulieren? — Weitere Zurufe von der CDU/CSU.)

      Wir sind der Meinung, daß die Atomwaffen und die Wasserstoffbomben keine Waffen mehr, sondern Massenvernichtungsmittel sind, und mir scheint die Feststellung richtig und berechtigt, daß es keinen denkbaren Zweck gibt, der den Einsatz dieser Massenvernichtungsmittel rechtfertigen könnte.

      (Abg. Metzger: Sehr gut!)

      Das stammt nicht von mir; wenn Sie neugierig sind, sage ich Ihnen, woher das stammt.

      (Zuruf von der CDU/CSU: Sagen Sie es den Russen!)

      — Wir sagen es den Russen. Wir reden ja nicht
      nur nach einer Seite, wir reden nach beiden Seiten.

      (Zuruf von der CDU/CSU: Um unser Volk zu isolieren!)

      Gerade weil wir wissen, daß wir es den Russen sagen müssen, daß sie es hören und daß sie darauf eingehen müssen, wenn diese Katastrophe nicht eines Tages über uns kommen soll, meinen wir, daß Ihre Politik so schlecht ist, wie sie in Wirklichkeit ist.

      (Beifall bei der SPD.)

      Wir sind der Meinung, daß die Einbeziehung der Bundesrepublik und anderer NATO-Mächte in die Gruppe der Atommächte neben den heute bereits vorhandenen drei großen Atommächten größere Gefahren und größere Risiken in sich schließt, als mögliche Sicherungen darin enthalten sein können. Wir fürchten eine Atomanarchie, die aus dem Atomwettrüsten nach Europa und in die Welt getragen wird.
      Sie haben vorhin die Zwischenfrage gestellt: Wollen Sie denn gar nichts machen? Wir meinen, daß in dieser Lage, in der mit so verdächtiger Eile NATO-Beschlüsse über die Atomausrüstung nicht nur der Bundesrepublik, sondern aller Staaten, die es wünschen, gefaßt werden, daß in einer Zeit vor einer Gipfelkonferenz und angesichts eines Angebots der russischen Regierung, die Atomwaffenversuche einzustellen, eine solche Politik Möglichkeiten der Entspannung, die vielleicht in diesem Frühjahr gegeben sind, wieder zu zerschlagen droht. Wir fürchten sogar, daß einige Initiatoren dieser Politik, die nicht nur in der Bundesrepublik sitzen, wünschen, daß solche Möglichkeiten, ein Abrüstungsabkommen zu schließen, zerschlagen werden.

      (Abg. Frau Döhring [Stuttgart] : Leider wahr!)

      Meine Damen und Herren, die einfallslose Politik des Westens von Dulles bis zu Adenauer — wenn Sie wollen, können Sie auch Paul Henri Spaak in diese Reihe stellen;

      (Zuruf von der Mitte: Sagen Sie es nicht so laut!)

      — ich habe gerade gesagt: wenn Sie wollen, können Sie auch den Generalsekretär der NATO, Paul Henri Spaak, in diese Reihe stellen —

      (Zuruf von der Mitte: Sie haben ihn doch gestern abend gehört!)

      ist eine Politik des Westens, die auf eigene Initiativen verzichtet, die die Politik den Russen überläßt und sich darauf beschränkt, mit Drohungen und mit Fortsetzung der Rüstung zu antworten.

      (Zuruf von der Mitte: Woher kommen denn die Drohungen?)

      Es ist eine tiefbedauerliche Situation, daß der Westen sich in eine solche Passivität hat drängen lassen, während die russische Politik in vielen Fragen Fortschritte gemacht hat. Wir bedauern, daß auch von der Bundesrepublik aus zu dem sehr bescheidenen Teil, zu dem wir auf die Dinge einwirken könnten, nichts geschieht in Richtung auf Abrüstungsverhandlungen, auf ein Eingehen auf den Rapacki-Plan und den Versuch, zu einer Abmachung über die Einstellung der Versuchsexplosionen und zu einer allgemeinen Abrüstung zu kommen. Aber wenn man etwa von der Konzeption des Herrn Dr. Jaeger ausgeht, daß die Endauseinandersetzung zwischen den USA und Rußland auf jeden Fall komme — —

      (Zurufe von der Mitte.)

      — Nun, ich gratuliere Herrn Dr. Jaeger zu der
      Übereinstimmung mit einer alten leninistischen
      These, die besagt, daß die Auseinandersetzung zwi-



      Blachstein
      schen Kommunismus und Imperialismus unvermeidlich sei. Ein solcher Fatalismus, der davon ausgeht, daß der große Atomkrieg unvermeidlich sei, ist allerdings ein katastrophaler Ratgeber in der Lage, in der sich unser Volk befindet.

      (Lebhafter Beifall bei der SPD. — Abg. Dr. Jaeger: Das habe ich aber nie behauptet!)

      — Ich habe es im Protokoll gelesen, Herr Dr. Jaeger.

      (Zuruf von der Mitte: Dann haben Sie es nicht verstanden!)

      Wir wünschten, daß bei der Frage der Atombewaffnung der Bundeswehr mehr Rücksicht genommen würde auf die besondere Lage, in der sich die Bundesrepublik befindet, auf die besonderen Probleme unseres Volkes und unseres Landes als eines gespaltenen Volkes und eines geteilten Landes.
      Der Herr Bundesverteidigungsminister hat heute u. a. darüber gesprochen, wie man sich das vorstelle, daß die Bundesrepublik die Atombewaffnung in der NATO etwa nicht mitmachen würde, ob das nicht ein Bruch der Loyalität gegenüber der NATO und ihrem Geist sei, selbst wenn es vertraglich möglich wäre. Ich habe ihn daraufhin gefragt, wie es denn mit der Loyalität der NATO-Mächte gegenüber den Bedürfnissen und Notwendigkeiten des gespaltenen Deutschlands sei, die die NATO-Mächte angeblich auch zu ihren eigenen gemacht hätten. Der Herr Bundesverteidigungsminister hat diese Frage bisher nicht beantwortet; ich nehme an, daß er das noch tun wird. Ich bin der Meinung, daß die Politik der Bundesregierung mit Rücksicht auf die besondere Lage unseres Landes und die sich daraus ergebende Notwendigkeit der Sicherung die Möglichkeiten der Wiedervereinigung nicht noch mehr verbauen darf, als es durch eine falsche Rüstungspolitik in den letzten Jahren schon geschehen ist. Berücksichtigen Sie, wenn für die Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen eines Ihrer Hauptargumente ist, die Bundesrepublik leiste damit ihren Beitrag zur gesamten atlantischen Verteidigung, daß die atomare Ausrüstung der Bundeswehr zwangsläufig zu einer Umrüstung von Staaten wie Polen, Tschechoslowakei und DDR führen wird!
      Welche Vorteile ergeben sich eigentlich aus diesem Aufmarsch mit Atomwaffen in Mitteleuropa auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs? Welches Mehr an Sicherheit, das ja nach Ihren Worten das Ziel Ihrer Politik ist, erreichen Sie dadurch, daß Sie mitten in Europa ein Arsenal von Atomwaffen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs schaffen? Wir meinen, daß der Krisenherd Mitteleuropa durch eine solche Politik nur noch gefährlicher wird, als er es heute schon ist.

      (Sehr wahr! bei der SPD.)

      Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zur Begründung unseres Gesetzes zur Durchführung einer Volksbefragung noch einige andere Gesichtspunkte nennen, Gesichtspunkte, die mir wesentlich
      erscheinen — mein Freund Walter Menzel hat sie schon gestreift —, die den einzelnen und seine Existenz betreffen. Ich meine die Strahlungsfolgen, die Erbschäden und andere gesundheitliche Schädigungen, die heute schon beim bisherigen Umfang der Atomwaffenversuche in der Welt — damit Sie mir nicht wieder zurufen: „Sagen Sie es den Russen!": ich sage es den Russen, den Amerikanern und den Engländern, die bisher solche Versuche gemacht haben, allen zusammen — zu einer ernsten Bedrohung der Gesundheit der ganzen lebenden Menschheit geworden sind.

      (Zuruf von der CDU/CSU: Ohne unser Zutun!)

      — Ich habe es nicht behauptet. Ich habe nicht behauptet, daß wir, die Bundesrepublik, daran teilhätten. — Wir glauben, daß diese Dinge so weit in das Leben des einzelnen hineingehen, ja, daß die Strahlungsschäden eine solche Wirkung haben, daß sie an die Verfluchungen aus der Bibel erinnern, bis in ferne Geschlechter hineinwirken, nicht mehr als eine biblische Geschichte, sondern als eine wissenschaftlich erwiesene Folgewirkung bestimmter Stoffe, die bei diesen Explosionen, Versuchen — um wieviel mehr noch bei solchen Explosionen im Ernstfall —, die Menschheit bedrohen.
      Lassen Sie mich ein kurzes Zitat von Professor Holthusen über die Folgen der Versuche hier vortragen. Er sagt:
      Immer gab es durch Umweltstrahlungen bedingte spontane Mutationen, ausgesprochene Mißbildungen, krankhafte Entartungen. Die mit der Auslösung von Mutationen eintretende potentielle Schädigung geht auf die Nachkommen über. Die genetische Strahlenschädigung und die durch sie bedingte Strahlengefährdung sind überindividuell. Nicht das Individuum, also nicht die heute Lebenden selbst, erleiden diese Schädigung, sondern die Nachkommenschaft ist damit belastet.
      Und in ähnlicher Weise der amerikanische Nobelpreisträger Muller:
      Durch die Strahlenbelastung aus den Atomwaffenversuchen werden bei den Kindern der jetzt lebenden Amerikaner Erbschäden auftreten, und zwar sind 80 000 erbgeschädigte Kinder für die jetzt lebenden 150 Millionen Amerikaner als Folge der bisherigen Atomwaffenversuche zu erwarten.
      Ein medizinischer Kongreß in Nagasaki, einer der beiden unglücklichen japanischen Städte, die die Explosion einer Atombombe erlebt haben, stellte im November 1957 fest, daß von 7000 Überlebenden 10 % der stärker Strahlengeschädigten geisteskrank waren. Unter den leichter Strahlengeschädigten betrug die Zahl der Geisteskranken 6 %.
      Ich will nicht weitere Einzelheiten hier ausbreiten. Aber wenn Sie von der Furcht sprechen, die die Völker erfaßt hat, so sollten Sie doch, statt von „Panikmache" zu reden, Verständnis dafür haben, daß diese Dinge, die sich ja schon ein-



      Blachstein
      mal ereignet haben, und zwar in unserem „goldenen Westen" ereignet haben, die Völker mit Recht
      und mit Notwendigkeit auf das tiefste beunruhigen.
      Aber zu den Kriegsvorbereitungen auch im Westen gehören Überlegungen über die Zivilbevölkerung, die ebenso alarmierend sind wie die durch Strahlungsschäden und andere Folgen von Atomexplosionen.
      Man hat hier schon von den merkwürdigen Spielen gesprochen — die angeblich keine offiziellen und keine amtlichen waren, die da in der „Wehrkunde" geschildert wurden — mit den 15 Millionen Flüchtlingen und was mit ihnen geschehen soll, nicht zu vergessen, daß sie gut bewacht werden, damit alles in Ordnung verläuft. Der Stabschef der alliierten Streitkräfte in Europa, General Shuyler, hat vor einiger Zeit erklärt, in einem künftigen Kriege müsse mit einer zeitigen Massenflucht der Zivilbevölkerung gerechnet werden. Was antwortet der Stabschef der alliierten Streitkräfte?
      In einem solchen Fall helfen nur Radikalmaßnahmen: die Zernierung aller großen Städte durch Verbarrikadierung ihrer Ausgänge, Herunterkämmen aller zivilen Verkehrsteilnehmer von der Landstraße mit Hilfe von Spezialpanzern und Gewaltanwendung beim Durchstoßen von Autoknäueln.

      (Zuruf von der SPD: Furchtbar! — Abg. Schröter. [Berlin]: Alles zur Sicherung der Freiheit!)

      Es ist eine grauenhafte Perspektive, die hier von ernstzunehmenden Militärs in aller Offenheit vor der Bevölkerung entwickelt wird, und ich glaube, es kann nur eine Konsequenz aus diesen Tatsachen geben: den Entschluß, die Atomwaffen von unserem Lande fernzuhalten und jede Anstrengung zu machen, um diese Waffen zu begrenzen, zu kontrollieren und möglichst aus der Welt zu schaffen.

      (Zuruf von CDU/CSU: Wollen wir ja!)

      — Auch bei den Russen; damit sie Ihren interessanten Zuruf nicht wieder für notwendig halten.

      (Beifall bei der SPD und bei der FDP.)

      Meine Damen und Herren, wir haben hier im Sommer 1955 über das Manöver „Carte Blanche" gesprochen. Inzwischen haben eine Reihe von anderen Manövern mit Atomwaffen stattgefunden. Bei diesem Kriegsspiel gab es 335 Atomtreffer auf die Bundesrepublik. Nach ernst zu nehmenden und von den Ministerien nicht bestrittenen Schätzungen hat man bei einem solchen Angriff auf die Flugzentren in der Bundesrepublik zur Niederschlagung eines Gegenschlags, wie er vom Feind für möglich gehalten worden wäre, als Folge dieser 335 ganz kleinen Atombomben — nämlich so klein wie die von Hiroshima und Nagasaki — mit 1,7 Millionen Toten und 3,5 Millionen Verwundeten gerechnet.
      Meine Damen und Herren, wenn man das hier sagt, so sind das wahrscheinlich „Versuche der Panikmache". Nein! Wir setzen nicht auf die Karte der Panik, weder hier noch draußen. Denn eine Partei, die das versuchte, hätte das Zutrauen verloren, das Volk für eine vernünftige Politik zu gewinnen.

      (Beifall bei der SPD.)

      Das einzige Volk, das bisher in seinem Lande Atomexplosionen erlitten hat, das japanische Volk, hat Konsequenzen aus dem grauenhaften Erlebnis der Zerstörung zweier Städte und ihrer Menschen gezogen. Die konservative japanische Regierung widersetzt sich der Atombewaffnung und den Atomversuchen, und das japanische Volk hat zu Millionen und aber Millionen einen Protest unterschrieben gegen die Fortsetzung der Atomrüstungen in der Welt und die Bedrohung Japans durch Atomwaffen. Es ist selten, daß Völker von anderen Völkern lernen. Aber, meine Damen und Herren, ich habe den Eindruck, daß wir noch nicht einmal aus den eigenen geschichtlichen Erfahrungen lernen. Denn wenn wir auch zu unserm Glück in diesem furchtbaren zweiten Weltkrieg nicht noch Atombomben auf Deutschland erlebt haben, so müßte das, was wir hier erlebt haben, eigentlich reichen, um gewarnt zu sein, diesen Weg des Wettrüstens und des Atomwettrüstens weiterzugehen.

      (Beifall bei der SPD.)

      Meine Damen und Herren! Wir sind der Meinung, daß die Volksbefragung legal und legitim ist. Aber auf diese Rechtsfrage werden meine juristischen Freunde antworten. Wir sind der Meinung, daß die Volksbefragung ein sinnvolles Mittel ist, um zu erfahren, wie das deutsche Volk zu der von Ihnen eingeleiteten Politik steht, und wir halten sie für politisch notwendig, weil das Unglück, das, wie wir fürchten, durch diese Politik eingeleitet wird, so groß ist, daß die Wege gefunden werden müssen, damit das Volk seine Stimme abgeben kann, um diese Politik noch zu verhindern, solange es Zeit ist.

      (Beifall bei der SPD.)

      Es gibt nicht nur das Recht zum Protest, sondern wir meinen, es gibt gegen eine solche Bedrohung der Existenz eines Volkes und eines Staates auch die Pflicht zum Protest.

      (Erneuter Beifall bei der SPD.)

      Wir fürchten, daß, je kompletter, je effektiver und je stärker die Bundeswehr mit Atomwaffen und Atomraketen ausgerüstet wird, nach den Erfahrungen in unserem Lande die Freiheit geringer, die Aggressivität der Politik unserer Regierung und der Mehrheit dieses Hauses wachsen wird und wir damit der Kriegsgefahr in der Welt näherkommen, statt zu ihrer Beseitigung beizutragen.
      Herr Innenminister Dr. Schröder hat vorhin warnend zu den Sozialdemokraten gesagt: Sie kennen den Anfang dieses Weges; er würde zu einer Radikalisierung führen, die auch Sie nicht wünschen können und deren Ende Sie nicht kennen. Meine Damen und Herren, ich glaube, dieses Wort ist in vollem Umfang richtig; nur ist es zu richten an die Adresse derjenigen in diesem Hause und in der Bundesregierung, die heute eine Vollmacht zur



      Blachstein
      Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen fordern oder sie bereits erteilt haben.

      (Beifall bei der SPD.)

      Es geht hier um einen Anfang, das Ende kennen Sie nicht. Aber wir fürchten, das Ende würde nicht nur das gleiche wie bei dem Rüstungswahnsinn vor dem ersten und dem zweiten Weltkrieg sein, es würde viel schlimmer sein und zur Vernichtung unserer staatlichen und volklichen Existenz führen.
      Wir möchten aus diesen Gründen, die ich Ihnen darzulegen versucht habe, jeden einzelnen jungen und älteren deutschen Mann und jede Frau zur Mitverantwortung aufrufen, nicht um die Demokratie zu unterwandern, sondern um sie mit Leben zu erfüllen, mit dem Leben, das die Menschen behalten wollen und für das sie sich einsetzen wollen. Vielleicht hat unser Volk aus den letzten Jahrzehnten unserer Geschichte eines gelernt: daß man nicht warten darf, bis es zu spät ist, sondern daß man sich gegen eine falsche und unheilvolle Politik wehren muß, solange es Zeit ist. Wir werden diesen Kampf mit allen gesetzlichen Mitteln führen, die uns zur Verfügung stehen. Wir werden diesen Kampf führen, weil wir meinen, daß er sinnvoll und notwendig ist. Sorgen Sie dafür, daß diese Auseinandersetzung hier und in unserm Volk nicht mit der Feststellung begleitet werden muß, daß, als Adenauer die Atomwaffen in der Bundeswehr einführte, dem Volk der Maulkorb umgehängt wurde.

      (Zurufe von der CDU/CSU: Oho! Unverschämtheit! — Weitere Zurufe.)

      Hüten wir uns vor diesem lebensgefährlichen Experiment!

      (Abg. Wehner: Sehr gut! — Zuruf von der CDU/CSU: Wir sprechen uns bei der nächsten Wahl wieder!)

      Stimmen Sie der Volksbefragung zu! Lassen Sie das Volk sprechen!

      (Anhaltender lebhafter Beifall bei der SPD. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Jaeger. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich mit einer persönlichen Vorbemerkung beginnen, die dadurch bedingt ist, daß Herr Kollege Blachstein in der Rede soeben gemeint hat, mich zitieren zu müssen, und wohl auch geglaubt hat, mich richtig zitiert zu haben. Er hat mir unterstellt, ich hätte gesagt, wie es auch komme, immer sei die Auseinandersetzung zwischen West und Ost in Form des totalen Atomkrieges unvermeidlich. Das würde allem, was ich gesagt habe und was meine politischen Freunde mit mir vertreten, ins Gesicht schlagen. Gesagt habe ich in der letzten Debatte etwas ganz anderes. Ich habe im Hinblick auf King-Hall und seine deutschen Nachahmer gesagt: Selbst wenn wir kapitulieren würden, würden wir uns den Krieg nicht ersparen; denn wenn die Sowjets erst Europa besetzt haben, dann ist der totale Atomkrieg zwischen West und Ost, zwischen Amerika und Rußland bestimmt nicht zu vermeiden, während er durch unsere Politik des Nichtkapitulierens, des Bündnisses der westlichen Welt und des Schaffens eines großen Risikos für den Angreifer vermieden werden kann. (Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von der SPD.)


    Rede von Dr. Eugen Gerstenmaier
    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
    • insert_commentNächste Rede als Kontext
      Rede von Dr. Richard Jaeger


      • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
      • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)

      Damit komme ich zu dem heutigen Thema; ich glaube, wir wollen nicht die Atomdebatte von neulich nachholen, wie es mir bei den Ausführungen des Herrn Kollegen Blachstein mindestens zeitweise erschien. Es geht hier um die Frage, ob wir den Gesetzentwurf über die Volksbefragung annehmen sollen oder nicht annehmen sollen, ob wir ihn, weil er verfassungswidrig ist und weil wir ihn für politisch höchst bedenklich halten, hier in diesem Hause ablehnen werden, nachdem der Rechtsausschuß die Gründe genau geprüft hat, die für die Verfassungsmäßigkeit und ,die gegen die Verfassungsmäßigkeit sprechen.
      Es mag im allgemeinen in den Verfassungen der Demokratien ein Grundsatz gelten, daß das, was nicht verboten ist, erlaubt ist. Aber gerade die Sozialdemokratie hat im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um den EVG-Vertrag diesen Gedanken durchaus nicht vertreten. Was hier die unmittelbare, die plebiszitäre Demokratie betrifft, so hat sie unzweifelhaft der Parlamentarische Rat bewußt nicht gewollt. Das geht nicht zuletzt aus den Worten hervor, die der Herr Kollege Professor Carlo Schmid in seiner Eigenschaft als Berichterstatter im Parlamentarischen Rat gesprochen hat. Die unmittelbare Demokratie, der Volksentscheid und ebenso das Volksbegehren, ist beschränkt auf die Fragen der Neugliederung. Man wollte nach Möglichkeit das Volk nur in den Wahlen zum Bundestag entscheiden lassen und hat deshalb die unmittelbare Demokratie, die die Weimarer Republik kannte, aus dem Grundgesetz eliminiert, auch in der Wahl des Staatsoberhauptes; denn der Bundespräsident wird im Gegensatz zum Reichspräsidenten nicht durch das Volk gewählt. Lassen Sie mich statt vielen einen der bekanntesten Staatsrechtslehrer, den Münchener Professor Maunz zitieren. Er sagt in seinem „Deutschen Staatsrecht", daß man sich bei uns „in betontem Ausmaß für die Staatsform der repräsentativen Demokratie entschieden" hat, in einem betonten, das andere geradezu ausschließenden Ausmaß.
      Niemand anders als Paul Sethe — also ein Mann, der uns gar nicht nahesteht — hat unbefangen, nämlich am 19. Januar 1957, in einem Artikel sehr richtig ausgedrückt:
      Als man das parlamentarische System schuf, ging man von dem Gedanken aus, daß mehrere hundert fähiger und erfahrener Leute das Vertrauen des Volkes genössen, daß sie einige Jahre nach ihren Vorstellungen und ihrem Gewissen Politik machten und dann vor die Nation träten, um von neuem ihr Vertrauen zu erbitten.



      Dr. Jaeger
      Anschließend beklagt Sethe, daß man allzu sehr auf Volksbefragungen — in diesem Falle meint er nicht-amtliche Institute — schielt.
      Meine Damen und Herren, anders können Sie die Demokratie, zumal im Massenzeitalter und in größeren Räumen, auch gar nicht aufbauen. Sie müssen sie darauf aufbauen, daß Männer und Frauen für eine bestimmte Zeit mit der Vollmacht der Entscheidung für das Volk beauftragt werden. Sie können es gar nicht anders, weil sonst Demokratie etwa auf der Prophetie gegründet sein müßte. Man müßte schon am Tage der Wahl wissen, welche Probleme in den nächsten vier Jahren kommen. Nein, diejenigen, die gewählt sind, sind legitimiert für die Lösung aller Probleme, die in diesen vier Jahren anstehen.

      (Beifall bei der CDU/CSU.)

      In einem neuen Artikel, der im „Sonntagsblatt" vom kommenden Sonntag, dem 27. April, veröffentlicht ist, hat der bekannte evangelische Theologieprofessor Dr. Thielicke zu diesen Fragen aus seiner christlichen Verantwortung heraus Stellung genommen und gesagt, ein Abgeordneter, der immer und bei jeder Frage auf das zu schielen hätte, was die Volksmeinung oder Volksstimmung sei, sei nicht ein Delegierter, sondern nur ein Funktionär. Er sagt dann wörtlich:
      Mir hat noch niemand klarmachen können, wie jemand seinem Gewissen gehorchen soll, wenn dieses Gewissen unter allen Umständen nur populär reagieren darf.

      (Sehr gut! bei der CDU/CSU.)

      Solange die oft im Emotionalen begründete Massenmeinung nicht eo ipso auch die richtige und politisch beste ist, wird es also unpopuläre Entscheidungen geben müssen.
      Meine Damen und Herren, unpopuläre Entscheidungen hat die Christlich-Demokratische und Christlich-Soziale Union in diesem Hause in drei Wahlperioden oft gefällt. Am Ende ist sie allemal vom Volke bestätigt worden.

      (Beifall bei der CDU/CSU.)

      Lassen Sie mich aber auch noch einen praktischen Gesichtspunkt hinzufügen. Wo kämen wir hin, wenn wir die Volksbefragung allgemein einführen wollten! Das Volk kann doch nicht jeden Tag zusammentreten und seine Beschlüsse widerrufen, wenn die außenpolitische Lage das erfordert. Sie würden ja unsere Außenpolitik auf diese Weise in einem Ausmaß unbeweglich machen, wie Sie es bei Ihrer sonstigen Propaganda zur Außenpolitik bei uns geißeln.

      (Beifall bei der CDU/CSU.)

      Im übrigen ist es interessant, daß der Gesetzentwurf der Sozialdemokraten nicht nur, wie mein Freund Dr. Barzel sehr eingehend ausgeführt hat, heute verfassungswidrig nach unserem Grundgesetz ist, sondern daß er sogar nach der Verfassung der Weimarer Republik verfassungswidrig gewesen wäre; denn dort wurden der Volksgesetzgebung nur Gesetzentwürfe unterstellt, .aber nicht Fragen allgemeiner Art in der Innen- und Außenpolitik.
      Man sagt uns nun allerdings den Satz: Das ist ja gar kein Volksentscheid, sondern nur eine Volksbefragung, d. h. sie ist nicht konstitutiv, sondern nur konsultativ. Darin, meine Damen und Herren, kann man doch nichts anderes sehen als eine Umgehung der Verfassung. Ein bekannter Schweizer Staatsrechtler, der Professor Giacometti aus Zürich, hat in der Auseinandersetzung über die Bedeutung der Volksgesetzgebung in der Schweizer Eidgenossenschaft, also in einem Land, das die Volksgesetzgebung in Bund und Kantonen kennt, in der Schweizer Juristenzeitung Heft 20 vom 15. Oktober 1956 ausgeführt:
      Gleich der verbindlichen kann jedoch die unverbindliche Volksabstimmung meines Erachtens nur in den von der Verfassung ausdrücklich vorgesehenen Fällen rechtlich zulässig sein. ... Das Volk vermag daher seinen Willen nur auf Grund der Ausübung seiner verfassungsrechtlichen Zuständigkeiten zu äußern.
      Wenn schon in einem Land, das Volksbegehren und Volksentscheid als eine verbindliche Institution des demokratischen Lebens kennt, die unverbindliche Volksbefragung nicht möglich ist, wie soll sie dann bei uns möglich sein, die wir die Volksgesetzgebung überhaupt nicht kennen!

      (Beifall bei der CDU/CSU.)

      Er gebraucht auch das Wort, das ich vorhin gesagt habe, indem er wörtlich schreibt:
      Die Anordnung einer solchen angeblich informatorischen Volksabstimmung käme offensichtlich auf eine Umgehung des sich aus der Verfassung ergebenden Verbots der Veranstaltung von verbindlichen Volksabstimmungen, die verfassungsrechtlich nicht vorgesehen sind, hinaus. Auch in diesem Fall würde eine Abwälzung der behördlichen Verantwortung, die mit der der Volksabstimmung unterbreiteten Materie verbunden ist, auf das Volk erfolgen. Die Behörden haben jedoch die ihnen von der Verfassung zugewiesenen Kompetenzen in eigener ausschließlicher Verantwortung auszuüben. Die mit einer Organzuständigkeit verbundene Verantwortlichkeit kann, wie schon bemerkt, nicht ohne Verfassungsbruch davon getrennt werden.
      Wenn das schon von den Behörden der Schweiz gilt, dann erst recht vom Bundestag der repräsentativen Demokratie der Bundesrepublik Deutschland.

      (Beifall bei der CDU/CSU.)

      Nein, meine Damen und Herren, mit dieser Volksbefragung öffnen Sie der plebiszitären Demokratie die Hintertür, da der Haupteingang durch die Verfassung eindeutig verschlossen ist. Dazu bieten wir nicht unsere Hand.
      Im übrigen, meine Damen und Herren, auch wenn wir der Meinung sind, es sei verfassungswidrig — und das ist es —, wollen wir uns gar nicht darauf allein beschränken.



      Dr. Jaeger
      Mit Unrecht hat Herr Dr. Menzel heute in seiner
      Begründung gesagt, uns sei bei diesem Gesetz politisch so unwohl, daß wir uns hinausredeten auf die angebliche — ich sage: auf die wirkliche — Verfassungswidrigkeit. Nein, meine Damen und Herren! Ich gestehe Ihnen für meine Person und für meine politischen Freunde ganz offen: Wir wollen diesen Gesetzentwurf nicht. Wir würden ihn auch dann nicht wollen, wenn wir ihn verfassungsmäßig vielleicht gerade noch für zulässig hielten.

      (Beifall bei der CDU/CSU.)

      Wir haben nämlich gewichtige verfassungspolitische Gründe, da er ohne jeden Zweifel — und das müßten auch diejenigen einsehen, die bei Ihnen eine juristisch andere Meinung vertreten — gegen den Geist der Verfassung und den Willen des Verfassungsgesetzgebers verstößt.
      Herr Kollege Dr. Barzel hat in seinen Ausführungen darauf hingewiesen, daß es eine Volksbefragung als ein unverbindliches Institut im deutschen Recht erstmals im sogenannten Dritten Reich gegeben hat. Herr Kollege Blachstein hat dagegen protestiert, nicht indem er diese Tatsache bestritten hat, sondern indem er gesagt hat, daß die Nebeneinanderstellung nationalsozialistischer Gedankengänge und politischer Forderungen der Sozialdemokratie für die Sozialdemokratie eine Beleidigung sei.
      Meine Damen und Herren, daß die Sozialdemokratie im offenen Widerstand zum „Dritten Reich" gestanden ist, bestreitet niemand. Aber Sie können auch nicht bestreiten, daß es genug evangelische und katholische Männer und Frauen gegeben hat, die heute ihre politische Heimat in der Christlich-Demokratischen und Christlich-Sozialen Union gefunden haben, die genauso erbitterte Gegner des Nationalsozialismus waren, allen voran der Präsident dieses Hohen Hauses.

      (Zurufe von der SPD: Haben wir nie bestritten!)

      — Wenn Sie das nicht bestreiten, dann hätten Sie in der Atomdebatte gut daran getan, die Erinnerung an Goebbels und die Sportpalastversammlung im Zusammenhang mit unserer Außenpolitik auch zu unterlassen.

      (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe von der SPD.)

      Sie haben damals leider eine psychologische Drachensaat gesät, die nun allerdings auch aufgeht und nun auch einmal auf Sie zurückschlägt.

      (Zurufe von der SPD.)

      Ich wäre bereit, Ihnen den Vorschlag zu machen, daß man wechselseitig auf solche Reminiszenzen verzichtet, weil sie vielleicht im demokratischen Staat nicht allzu erfreulich sind und weil sich der eine oder andere — aber auf beiden Seiten und in gleicher Weise — dadurch beleidigt fühlen könnte.
      Meine Damen und Herren, der Antrag, den Sie einbringen, braucht gar nicht historisch widerlegt zu werden. Er kann mit der Feststellung widerlegt
      werden, daß er praktisch unsere Verfassung aus den Angeln hebt. Denn in unserer Verfassung sind der Weg der Gesetzgebung, der Weg der Wahlen und der Weg der politischen Willensbildung eindeutig festgelegt. Und diese Wege können nicht umgangen werden.
      Ich will Ihnen das einmal an einem sehr einfachen Beispiel zeigen. In unserer Verfassung steht, daß der Bundespräsident von der Bundesversammlung in geheimer Wahl gewählt wird. Wenn wir in etwa zwei Jahren vor der Aufgabe stehen, einen neuen Bundespräsidenten zu wählen, weil nach unserer Verfassung der jetzige Bundespräsident nicht ein drittes Mal wiedergewählt werden kann, — was würden Sie sagen, wenn dann die Sozialdemokraten eine Volksbefragung veranstalteten, etwa über die Frage: Wollen Sie, daß der Genosse Ollenhauer zum Bundespräsidenten gewählt wird?

      (Zuruf von der SPD: Unsinn!)

      — Das ist Unsinn, jawohl! Und genauso ein Unsinn ist Ihr Gesetzentwurf jetzt!

      (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe von der SPD.)

      — Ach, über Demagogie, verehrter Herr Kollege Metzger, wollen wir uns auf Grund dieses Ihres Antrages noch einmal in einem späteren Stadium meiner Ausführungen unterhalten!
      Die Umgehung der verfassungsmäßigen Zuständigkeit und die Ausübung eines psychologischen Drucks auf das Organ, das allein berufen ist — die Bundesversammlung bei der Wahl des Bundespräsidenten, den Bundestag bei der Entscheidung über die Ausrüstung der Bundeswehr —, sind verfassungswidrig, verstoßen aber zu allermindest gegen den Geist unserer Verfassung.

      (Beifall bei den Regierungsparteien.)

      Herr Kollege Carlo Schmid hat Herrn Kollegen Rasner in der Geschäftsordnungsdebatte am letzten Freitag, als dieser sagte, eine Volksbefragung solle ja wohl nicht rechtlich verbindlich sein, zugerufen, sie sei aber moralisch verbindlich. Er hat es dann allerdings — Herr Kollege Schmidt (Hamburg) spricht ja immer so gern vom korrigierten Protokoll! — im Protokoll mit Recht dahingehend korrigiert, daß er gesagt hat, sie sei nur moralisch bedeutsam, aber nicht verbindlich. Ich nehme das gern zur Kenntnis. Aber, meine Damen und Herren, die moralische Bedeutung dieser Sache würde doch auf dieses Parlament, ganz gleich, wie die Entscheidung ausfällt, jedenfalls einen sehr erheblichen Druck ausüben.
      Im übrigen bin auch ich der Meinung, daß man das Volk nicht unverbindlich befragen kann und daß das Volk als die schließlich letzte Instanz unseres Staatslebens, wenn sie gefragt wird, nur in der Form eines Entscheids gefragt werden sollte. Wir aber wollen uns vor allem dagegen wehren, daß unser Parlament unter einen Druck gesetzt wird, einen Druck, den wir unter allen Umständen vermeiden wollen.



      Dr. Jaeger
      Professor Thielicke sagt in seinem Artikel eindeutig:
      Beraubt man ein Parlament (oder auch eine Regierung) der Möglichkeit, unpopuläre Maßnahmen zu treffen, indem man den Populus von Fall zu Fall dagegen mobil macht, so erniedrigt man die Demokratie zur Farce, untergräbt das Ansehen des Parlaments, raubt dem Abgeordneten die ethischen Grundlagen seines Mandats und bläst dem sowieso fast erloschenen Staatsbewußtsein unseres Volkes den Rest seiner Flamme aus.
      Dieses Wort des bekannten evangelischen Theologie-Professors dürfte bei vielen Ihrer Freunde einen besonderen Widerhall finden, da Sie sich ja sonst so gern mit Recht auf Äußerungen bedeutender evangelischer Theologen berufen.

      (Abg. Metzger: Aber die anderen zitieren Sie nicht!)

      — Ich weiß nicht, ob Sie Herrn Dr. Thielicke in Ihrer nächsten Rede zitieren werden, Herr Kollege Metzger! Diesen Weg, das Parlament unter Druck zu setzen und die Bundestagswahlen nachträglich zu korrigieren, gehen wir nicht.
      Im übrigen darf ich mir erlauben, hier einmal auf eine Rundfunkrede des Professors Eschenburg hinzuweisen, eines Mannes, der bestimmt nicht in unseren Reihen steht, eines Mannes, der in derselben Rede unsere Fraktion in sehr harter und, wie ich meine, nicht zutreffender, zumindest aber in sehr übertriebener Weise kritisiert hat. Dieser Mann, von dem Sie nicht sagen können, daß er unser Parteigänger sei, hat in jener Rundfunkrede eindeutig erklärt:
      Wenn die SPD jetzt die Veranstaltung einer amtlichen Volksbefragung über die atomare Rüstung der Bundeswehr beantragt, so versucht sie dadurch, die unter ihrer Mitwirkung eingebauten Schranken der Betätigung des Volkswillens zu umgehen.
      Er führt aus, daß damit praktisch die Verfassung aus den Angeln gehoben werde.— Das kommt also immerhin von einer Seite, die sich nicht aus politischer Sorge oder Angst, wie Herr Dr. Menzel es meint, auf die Verfassungswidrigkeit beruft. Ja, es kommt von einem Mann, der sogar formal Ihr Vorgehen für verfassungsmäßig hält, aber schwerste verfassungspolitische Sorge hat. Er sagt noch weiter:
      Wer das Volk auf diese Weise befragt, will gar nicht eine Information, wie sie die Meinungsforschungsinstitute besorgen, sondern trachtet nach einer wirksamen Entscheidung des Volkes. Das aber will das Grundgesetz gerade nicht.
      Meine Damen und Herren, wenn Sie der Meinung sind, daß Volksbefragungen verfassungsmäßig sind, dann könnten Sie es uns nicht übelnehmen, wenn wir bei nächster Gelegenheit in einer anderen Frage das Volk befragen, was es meint. Es ist heute schon gesagt worden, daß wir dann natürlich das Recht haben, auch zu fragen, ob das Volk die Wiedereinführung der Todesstrafe bei Mord will oder nicht. Sie können nicht antworten, die Todesstrafe und ihre Wiedereinführung sei etwas ganz anderes als die Frage der atomaren Bewaffnung der Bundeswehr. Natürlich sind das ganz verschiedene Angelegenheiten, das wird niemand bestreiten. Aber die Frage, ob es eine Volksbefragung gibt, ist genau die gleiche Angelegenheit bei der Atombewaffnung wie bei der Todesstrafe.

      (Beifall bei der CDU/CSU.)

      In dem Zusammenhang der Auseinandersetzung um die Todesstrafe hat Herr Kollege Professor Carlo Schmid am 27. März 1950 vor dem ersten Deutschen Bundestag gesagt:
      Wenn man über die Frage, ob die Todesstrafe abgeschafft werden solle oder nicht, ein Piebiszit veranstaltet hätte, wäre die Wahrscheinlichkeit, daß die Mehrheit unseres Volkes sich für ihre Beibehaltung entschieden hätte, sehr groß gewesen.
      Trotzdem war er dagegen, wie er meinte, aus seinem besseren Gewissen. — Er sagte des weiteren:
      Wenn man Gesetze gibt, sollte man versuchen, sich vom Primitiven zu entfernen. Jedenfalls sollte man zumindest nicht ausgesprochenermaßen danach streben, Primitivität zu aktualisieren.

      (Abg. Dr. Hellwig: Das war auch ein aufgeklärter Asolutist!)

      — Ja, er hat den aufgeklärten Absolutismus des Parlaments bei der Todesstrafe verlangt, bei der Atomrüstung nach seiner Rede neulich offenbar nicht. Wieder zweierlei Recht in derselben Angelegenheit! Nein, meine Damen und Herren, Primitivität kultivieren werden alle die Redner, die für Ihre Volksbefragung draußen durch das Land ziehen; den Vorgeschmack haben wir bereits bekommen.

      (Beifall bei der CDU/CSU.)

      Wenn Professor Schmid meint, daß bei der Frage der Todesstrafe das Volk bereits überfordert sei, dann ist das Volk durch die Fragestellung heute doppelt überfordert. Wenn Professor Schmid glaubt, daß man nicht — und damit hat er sogar recht — aus der Erregung über einen besonders abscheulichen Mord im Augenblick eine solche Entscheidung durch das Volk treffen lassen darf, dann darf man sie auch nicht auf Grund einer augenblicklichen Erregung treffen, die ja jetzt noch viel größer ist, da es um den angeblich bevorstehenden eigenen Atemtod gehen soll.
      Nein, meine Damen und Herren, hier wird dem einzelnen zuviel zugemutet. Es wird ihm mit dem Gesetzentwurf der Sozialdemokratie zugemutet, komplizierteste ethische, außenpolitische, strategische und technisch-physikalische Probleme durch simple Formulierungen in ganz vereinfachender Weise zu beantworten. Das ist unmöglich. Die Fragestellung der deutschen Sozialdemokratie öffnet draußen im Lande und öffnet für die Zukunft unseres Staates der Demagogie Tür und Tor.
      1452 Deutscher Bundestag 3. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1958
      Dr. Jaeger
      Sie riefen Demagogie, meine Damen und Herren; ich darf das hier feststellen.
      Im übrigen: was würden Sie eigentlich sagen, wenn wir uns Ihren Standpunkt zu eigen machten, das sei verfassungsmäßig zulässig, wenn wir unsere verfassungspolitischen Bedenken zurückstellten und wenn wir die Fragen einmal variierten, wenn wir fragten: Wollen Sie, deutsche Wählerinnen und Wähler, daß unsere Soldaten nur mit Waffen ausgerüstet werden, mit denen sie weder sich selbst schützen noch unser Land verteidigen können? Oder sollten wir die Frage stellen: Wollen Sie, daß die Bundesrepublik zum Aufmarschgebiet der Roten Armee wird? Oder sollten wir die Frage stellen: Wollen Sie, daß die Bundesrepublik der sogenannten DDR angeschlossen wird? Wollen Sie, daß die demokratischen Freiheitsrechte abgeschafft, wollen Sie, daß wie in der DDR Lebensmittelkarten wieder eingeführt werden? Das wären die Fragen, die dem entsprechen würden, was Sie gefragt haben.

      (Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von der SPD.)

      Mit solchen Fragen, wie Sie sie stellen und wie ich sie gerade entworfen habe, können wir alle acht Tage zur Wahl gehen und wechselseitig für jede Seite die Mehrheit herausholen, die wir gerade wünschen.

      (Beifall bei der CDU/CSU.)

      Wir -warnen vor diesem Weg, denn mit diesem Weg der Volksbefragung mit solch simplen Fragen wird die Demokratie zur Demagogie und am Ende zur Anarchie, wo dann wieder der Ruf nach dem starken Mann ertönt. Man spielt nicht mit dem Volk, man spielt nicht mit den Leidenschaften des Volkes und man appelliert nicht an das Gewissen, wenn man bloß an das dumpfe Gefühl appellieren will!. Hier hat unser Bundespräsident als Abgeordneter des Parlamentarischen Rats jenes Wort gesagt, das man nicht oft genug wiederholen kann: daß diese Volksgesetzgebung die Prämie für jeden Demagogen ist; und wenn es beim Volksentscheid der Fall ist, ist es bei der Volksbefragung genauso, denn der Abstimmungskampf ist in beiden Fällen genau der gleiche.

      (Zuruf von der SPD.)

      — Nein, wir appellieren gar nicht an das Volk, wir begnügen uns mit der Wahl alle vier Jahre; es wäre gut, wenn auch Sie sich damit begnügten.
      Es ist in diesem Zusammenhang durch meinen Vorredner wieder auf die „einzigartige Frage" der atomaren Bewaffnung hingewiesen worden. Ich habe schon gesagt, daß ich nicht die Absicht habe, die Atomdebatte zu wiederholen. Idh habe aber die Absicht, zu sagen, was wir in Zusammenhang damit denken, indem ich wieder den ausgezeichneten Artikel von Professor Thielicke zitiere. Er schreibt:
      Es geht bei diesem Problem — der Volksbefragung —
      überhaupt nicht um die Frage, ob man für
      oder gegen die atomare Bewaffnung der
      Bundeswehr ist. Es geht so wenig um sie,
      daß -ich meine eigene Stellung zu dieser Frage überhaupt nicht einmal zu bekennen brauche. Sondern es geht nur und ausschließlich um die andere Frage, ob wir die staatliche Lebensform, die unser institutionelles Bekenntnis gegenüber der östlichen Diktatur ist, glaubwürdig erhalten oder ob wir sie zum Gespött machen wollen. Lassen wir sie zum Gespött werden, so haben wir mit oder ohne Atomwaffen vor dem Osten kapituliert.

      (Beifall bei der CDU/CSU.) Er fährt fort:

      Hinter der Geräuschkulisse des östlichen Beifalls, der unseren Appell an die Volksemotion und die Mobilmachung der Straße unüberhörbar umgibt,
      — „Mobilmachung der Straße" schreibt hier der Professor der Theologie
      verbirgt sich als Haupttenor vielleicht nicht einmal die Angst, wir möchten uns atomar aufrüsten, sondern die Hoffnung, wir möchten den Katalog unserer ethisch-politischen Werte zur Makulatur machen. Dann hätten die Ideologen von drüben nämlich so oder so gewonnen.
      Das ist etwas, was Sie, meine Damen und Herren von der Sozialdemokratie, sich einmal überlegen sollten!
      Im übrigen, meine Damen und Herren von der Sozialdemokratie, sind wir in den Regierungsparteien die letzten, die die Stimme des Volkes nicht hören wollen. Wir haben den Appell, den legitimen und verfassungsmäßigen Appell, an die Meinung unseres Volkes dreimal, in drei Wahlen, bestanden. Damit ist dieses Haus legitimiert, auch die Frage der Atombewaffnung der Bundeswehr zu entscheiden. Wir haben uns hierüber schon im 1. Bundestag unterhalten. Wir haben damals schon diese Meinung vertreten und wir sind, nachdem wir die Entscheidung über den Wehrbeitrag schon im 1. Bundestag grundsätzlich gefällt hatten, in der Wahl bestätigt worden. Wir vertrauen darauf, daß wir auch im Jahre 1961 erneut bestätigt werden; denn wenn unser Volk einmal aus der Panik, in die es jetzt gestürzt werden soll, heraus und zur ruhigen Überlegung kommt, dann wird es genauso reif sein, wie es 1949, 1953 und 1957 reif gewesen ist.

      (Beifall bei den Regierungsparteien.)

      Sie behaupten, es sei am 15. September nicht über die Frage entschieden worden, die hier zur Diskussion steht. Ich wiederhole, daß ein Parlament, wenn es einmal gewählt ist, das Recht hat, über jede Frage zu entscheiden, die während seiner Wahlperiode anfällt. Ich möchte aber außerdem noch politisch hinzufügen: der ganze Wahlkampf hat doch weitgehend unter dem Zeichen der atomaren Waffen gestanden. Es gab doch bei uns praktisch keine Rede, in der wir uns nicht mit dieser Frage auseinandergesetzt haben. Haben wir es einmal nicht getan, so haben die sozialdemokratischen Diskussionsredner die Frage aufgegriffen.



      Dr. Jaeger
      Die Göttinger Professoren haben im Frühjahr des letzten Jahres die Frage in unüberhörbarer Weise in die Diskussion unseres Volkes gestellt, und Sie, meine Damen und Herren, haben diesen Appell weidlich zu parteipolitischen Zwecken ausgenutzt. Seither ist das also in der Diskussion gewesen.
      Oder wollen Sie leugnen, daß Sie mit solchen Plakaten, wie dem, das den Atompilz enthält, in den Wahlkampf gezogen sind?

      (Der Redner zeigt dem Hause ein Wahlplakat mit dem Atompilz. — Beifall bei der CDU/CSU.)

      Ich erinnere mich, daß der Bundeskanzler im Juli vorigen Jahres auf dem Parteitag der CSU in Nürnberg durch ein Spalier solcher Plakate fahren mußte. Ich habe mich informieren lassen, daß in Bremen beim Besuch des Bundeskanzlers im Wahlkampf über Nacht die SPD umplakatiert hat mit lauter Plakaten gegen die Atomwaffen. „Atom — nur für den Frieden" ist auch ein solches Plakat, das zeigt, daß diese Sache im Mittelpunkt der Diskussion des Wahlkampfes gestanden hat. Oder: „Atomrüstung zeugt Massentod!"
      Die Frage ist wahrhaftig mitten in der Diskussion des Wahlkampfes gewesen. Wir haben in dieser Frage genau die richtige Stellung bezogen. Keiner von uns, zumindest keiner der verantwortlich ist für die Führung dieser Fraktion und dieser Partei, hat erklärt, daß wir grundsätzliche Gegner der atomaren Ausrüstung der Bundeswehr sind, sondern wir haben gesagt, daß wir hoffen, daß sie sich vermeiden läßt, aber daß diese Frage zur Entscheidung noch nicht aktuell ist. Das war richtig. Es hat damals die Londoner Abrüstungskonferenz getagt, und sie ist erst wenige Tage vor der Bundestagswahl gescheitert. Solange diese Konferenz tagte, haben wir mit Ihnen die Hoffnung gehabt, daß sie zu einem Erfolg führen und uns die Entscheidung über die atomare Bewaffnung der Bundeswehr, die uns weiß Gott nicht leicht gefallen ist und die wir weiß Gott nicht gern fällen, ersparen würde. Inzwischen, fast gleichzeitig mit der Bundestagswahl ist die Londoner Konferenz gescheitert. Damit ist die Hoffnung sehr dünn geworden, daß wir noch zu einer umfassenden Abrüstung kommen. Aber immer noch haben wir in diesem Augenblick die Hoffnung auf die Gipfelkonferenz, die in diesem Jahre stattfinden soll.
      Wenn wir verschiedentlich im Wahlkampf gesagt haben, daß aus politischen und technischen Gründen die Einführung der Atomwaffen vor zwei Jahren überhaupt nicht in Frage kommt, haben wir dann nicht recht gehabt? Der Verteidigungsminister hat im Ausschuß und vor der Presse erklärt, daß er die Matadore, die möglicherweise auch mit atomaren Sprengköpfen aufgefüllt werden können, erst in 18 Monaten, also mehr als zwei Jahre vom Tage der Bundestagswahl ab, bei uns in Deutschland einführen kann. Wir haben genau das richtige gesagt. Eine Korrespondenz soll geschrieben haben, die Entscheidung würde sogar erst im Jahre 1960 fallen. Auch das Jahr 1960 liegt noch in der Wahlperiode dieses Hohen Hauses, dieser Damen und Herren, die heute hier sitzen. Das Volk weiß, daß auf vier
      Jahre gewählt wird. Es hat auch gewußt, daß es uns wählt, damit wir notfalls während dieser Wahlperiode auch diese Frage entscheiden.

      (Abg. Metzger: Das hat es nicht gewußt!)

      — Natürlich hat es dies gewußt. Ich habe es doch jetzt gerade dargelegt. Wenn Sie, Herr Kollege Metzger, so erregt sind, daß Sie nicht zuhören können, kann ich nichts dafür. Vielleicht lesen Sie meine Rede in einer ruhigeren Stunde nach.