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    Deutscher Bundestag 25. Sitzung Bonn, den 24. April 1958 Inhalt: Abg. Leukert (CDU/CSU) tritt als Nachfolger des Abg. Klausner in den Bundestag ein 1361 A Große Anfrage der Fraktion der SPD betr Finanzielle Verpflichtungen aus dem Verteidigungshaushalt und ihre kassenmäßige Erfüllung (Drucksache 195) — Fortsetzung der Aussprache —. Dr. Schellenberg (SPD) 1361 C, 1379 B, 1382 D Blank, Bundesminister 1368A, 1381 B, 1383 A Frau Schanzenbach (SPD) . . . . 1371 B Dr. Wuermeling, Bundesminister . 1374 B Stingl (CDU/CSU) . . . . . . . 1376 C Seuffert (SPD) 1383 B, 1394 C Krammig (CDU/CSU) 1385 D Etzel, Bundesminister 1388 A Dr. Deist (SPD) . . . . . . . 1393 C Strauß, Bundesminister 1395 D Wehner (SPD) . . . . . . . 1405 D Entwurf eines Gesetzes zur Volksbefragung wegen einer atomaren Ausrüstung der Bundeswehr (SPD) (Drucksache 303) — Erste Beratung — Dr. Menzel (SPD) 1412 D Dr. Barzel (CDU/CSU) 1421 A Dr. Schröder, Bundesminister . . 1430 A Dr. Bucher (FDP) 1433 C Euler (DP) . . . . . . . . . 1437 D Blachstein (SPD) 1441 B Dr. Jaeger (CDU/CSU) 1448 B Nächste Sitzung . . . . . . . . . 1456 D Anlage 1457 A Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1958 1361 25. Sitzung Bonn, den 24. April 1958 Stenographischer Bericht Beginn: 9 Uhr. Vizepräsident Dr. Becker (nach seiner Genesung mit Beifall begrüßt) : Die Sitzung ist eröffnet. Meine Damen und Herren, für unseren verstorbenen Kollegen Klausner ist mit Wirkung vom 21. April 1958 der Abgeordnete Leukert in den Bundestag eingetreten. Ist der Kollege anwesend? (Abg. Leukert: Ja!) — Dann darf ich ihn herzlich begrüßen. Ich wünsche ihm eine gute Mitarbeit. (Beifall.) Eine weitere amtliche Mitteilung wird ohne VerLesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen: Der Stellvertreter des Bundeskanzlers hat mit Schreiben vom 22. April 1958 mitgeteilt, daß sich die Verkündung der vom Bundestag in seiner 16. Sitzung beschlossenen Fünfzehnten Verordnung über Zolltarifänderungen zur Durchführung des Gemeinsamen Marktes der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl — Drucksachen 108, 239 — erübrige. Sein Schreiben wird als Drucksache 346 verteilt. Die Aussprache zur Großen Anfrage der Fraktion der SPD betreffend finanzielle Verpflichtungen aus dem Verteidigungshaushalt konnte in der gestrigen Sitzung nicht mehr abgeschlossen werden. Auf Vorschlag des amtierenden Präsidenten wurde beschlossen, diesen Gegenstand erneut als Punkt 1 auf die Tagesordnung der heutigen Sitzung zu setzen. Ich rufe daher auf: Große Anfrage der Fraktion der SPD betreffend Finanzielle Verpflichtungen aus dem Verteidigungshaushalt (Einzelplan 14) und ihre kassenmäßige Erfüllung (Drucksache 195) . Nach § 33 der Geschäftsordnung hat der Präsident darauf zu achten, daß eine sachgemäße Erledigung des Gegenstandes, d. h. auch eine entsprechende Gruppierung der Redner vorgenommen wird. Ich habe deshalb an die Damen oder Herren, die zu diesem Punkt noch sprechen möchten, die Bitte zu richten, sich jetzt schon beim Schriftführer zu meiner Rechten zu melden und dabei mit anzugeben, über welchen Fragenbereich sie sprechen wollen. Ich glaube nämlich, eine gewisse Gruppierung des Stoffs bedeutet eine Erleichterung sowohl für die Presse als auch für das Verständnis aller Zuhörer und gibt den zuständigen Ministern die Möglichkeit, zum richtigen Zeitpunkt in die Debatte einzugreifen. Ich darf also bitten, so zu verfahren. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schellenberg. Dr. Schellenberg (SPD) : Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Ausmaß der Rüstungsausgaben hat nicht nur volkswirtschaftliche und finanzielle Auswirkungen, sondern ist auch von entscheidender Bedeutung für die gesamte Sozialpolitik. Das wissen Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, natürlich auch. (Zuruf von der CDU/CSU: Seien Sie vorsichtiger!) — Ich komme noch darauf, darüber werden wir noch sehr eingehend zu sprechen haben, vielleicht mehr, als Ihnen lieb ist. In der gestrigen Debatte haben Sie nämlich versucht, den sozialpolitischen Problemen möglichst aus dem Wege zu gehen. (Abg. Dr. Hellwig: Herr Stingl hat es noch vor!) — Ich komme auch zu Herrn Stingls Verhalten. Die Herren Vogel und Hellwig haben lediglich einige schwungvolle Worte über den Zusammenhang zwischen äußerer Sicherheit und innerer Sicherheit gesagt. (Zurufe von der Mitte.) Das ist für die Probleme, um die es bei diesen Rüstungsausgaben geht, zu wenig. Zur Entschuldigung gestehe ich den Herren Vogel und Hellwig zu, daß ihnen die sozialpolitischen Probleme etwas ferner liegen. (Abg. Dr. Hellwig: Woher wissen Sie?) — Das haben Sie wiederholt bewiesen, Herr Kollege Hellwig. (Beifall bei der SPD.) Es fiel der Name des Kollegen Stingl. Herr Kollege Stingl hat sich gestern zweimal zum Wort gemeldet und zweimal seine Wortmeldung zurückgezogen. Ich weiß nicht, weshalb er das getan hat. (Abg. Rasner: Es lohnte nicht!) 1362 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1958 Dr. Schellenberg Entweder hielt er die sozialpolitischen Dinge im Rahmen der Aussprache für nicht so wichtig, (Abg. Rasner: Nach Ihnen, Herr Professor!) oder er wollte eine bestimmte Rangordnung in der Rednerfolge erreichen. (Zurufe von der CDU/CSU.) Aber wir haben ja heute keine Life-Sendung. Weshalb dieses Katze-und-Maus-Spiel? Im übrigen kann ich Ihnen sagen — das habe ich hier schon wiederholt unter Beweis gestellt —: Wenn Herr Kollege Stingl oder ein anderer von Ihnen über sozialpolitische Fragen spricht und sie meines Erachtens nicht in das richtige Licht gerückt werden, dann werde ich noch wiederholt dazu das Wort nehmen. (Lachen bei der CDU/CSU.) Dessen können Sie sicher sein. (Zurufe von der CDU/CSU.) Nun haben gestern nicht nur die Vertreter der Regierungsparteien, sondern auch die Herren Vertreter der Regierung gesprochen. Der Herr Bundesarbeitsminister war, soweit ich sah, gestern nicht anwesend. (Abg. Horn: Sie wissen ja, daß er nicht da war!) — Er war nicht anwesend. (Abg. Horn: Sie wissen aber, wo er war!) — Ich weiß nicht, wo er war! Wahrscheinlich hielt er irgendwo eine Rede über die großen sozialen Leistungen der Bundesregierung. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD. — Zurufe von der CDU/CSU.) Also der Herr Bundesarbeitsminister war nicht anwesend, obwohl dem Hause und der Öffentlichkeit bekannt ist, daß zwischen Rüstungshaushalt und Sozialhaushalt sehr weitgehende Beziehungen bestehen. Wir mußten uns also auf Mitteilungen anderer Ressortchefs beschränken, obwohl sicher gerade die Ausführungen des Herrn Bundesarbeitsministers wegen seiner eingehenden Kenntnis der Beziehungen zwischen Rüstungs- und Sozialausgaben das Haus außerordentlich interessiert hätten. Nun, was hat der Herr Bundesfinanzminister in der Antwort der Regierung erklärt? Er hat wörtlich gesagt: Die Höhe des deutschen Verteidigungsbeitrages . . . wird jährlich neu geprüft und jeweils den veränderten politischen, technischen, finanziellen und militärischen Bedürfnissen angepaßt. Von sozialpolitischen Bedürfnissen hat der Herr Bundesfinanzminister nicht gesprochen. (Abg. Horn: Das war ja auch nicht das Thema des Tages!) — Das war nicht das Thema des Tages. Das gehört zum Thema Rüstungsausgaben, meine Damen und Herren. (Lebhafter Beifall bei der SPD.) Sie können diese Zusammenhänge nicht vom Tisch wegwischen, wenn Sie es vielleicht auch möchten. Aber auch der Herr Bundeswirtschaftsminister hat Erklärungen abgegeben, in denen er die Sozialausgaben zwar nicht ausdrücklich erwähnt, in denen er aber doch in geradezu erschütternder Weise unter Beweis gestellt hat, wie gering sein Verständnis für die sozialen Belange ist. (Zurufe von der CDU/CSU.) Ich möchte das wörtlich zitieren. Ich habe es mir nämlich aufgeschrieben, Sie können es im Protokoll nachlesen. Der Herr Bundeswirtschaftsminister hat erklärt: Wir haben zwar das eine oder das andere zurückstellen müssen. Aber niemand ist dabei zu kurz gekommen. — Das wurde wörtlich gesagt, und ich glaube, treffender konnte der Herr Bundeswirtschaftsminister sein mangelndes Verständnis für die sozialen Belange von Millionen Menschen nicht kennzeichnen. (Beifall bei der SPD. — Abg. Horn: Aber, aber! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU.) Diese Ausführungen des Herrn Bundeswirtschaftsministers reihen sich würdig an seine Erklärungen im Zusammenhang mit der Rentenneuregelung. Er hat nämlich gesagt, er werde die Giftzähne aus der Rentenreform herausbrechen. (Zurufe von der CDU/CSU.) Das ist die gleiche Melodie. Meine Damen und Herren, so billig kommen Sie nicht davon! (Abg. Horn: So billig!) Dazu ist die Angelegenheit zu teuer. (Beifall bei der SPD. — Zurufe von der CDU/CSU.) — Ich werde das konkret beweisen, Herr Kollege Hellwig, selbstverständlich! Wie ist die Lage im sozialpolitischen Bereich? Bei allen sozialpolitischen Auseinandersetzungen in diesem Hause ging es und geht es im Grundsatz immer darum, welcher Anteil der gesamten Bundesausgaben für Sozialausgaben bereitgestellt wird und welcher Anteil vom gesamten Sozialprodukt auf die Sozialleistungen entfallen soll. Das ist die grundsätzliche Auseinandersetzung, die wir in diesem Hause immer geführt haben. Hierüber gibt es zwischen uns erhebliche Meinungsverschiedenheiten. Im Gegensatz zu Ihnen waren wir immer der Auffassung, daß in den Bundesausgaben der Anteil an Sozialausgaben zu niedrig ist und daß die Verteilung des Sozialprodukts ungerecht ist. Wir waren und sind der Meinung, daß die Bundesrepublik leider weit entfernt davon ist, ein Sozialstaat zu sein, wie es in Art. 20 des Grundgesetzes festgelegt ist. Sie haben Ihre Auffassungen über die Bundesrepublik als Sozialstaat im wesentlichen auf zweierlei Weise begründet. Sie haben erstens immer erklärt, die Sozialausgaben bildeten den größten Block der Bundesausgaben, und Sie haben zweitens stets die Behauptung aufgestellt, der Anteil der Sozialleistungen wachse laufend mit der Zuwachs- Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1958 1363 Dr. Schellenberg rate des Sozialprodukts. Heute sind Sie im Zusammenhang mit dem Rüstungsaufwand bereit, diese Ihre Konzeption vom Sozialstaat über Bord zu werfen. Ich möchte Ihnen das an Hand Ihrer eigenen Angaben und nicht an Hand meiner Berechnungen beweisen. Die Behauptung, daß die Sozialausgaben der größte Posten im Bundeshaushalt seien, läßt sich auf Grund Ihrer eigenen Zahlenangaben für das Jahr 1958 nicht mehr aufrechterhalten. An dem Trick, den Sozialleistungen die Ausgaben für die 131er und die Ausgaben für die Versorgung der Berufssoldaten der früheren Wehrmacht hinzuzurechnen, haben Sie in den Vorbemerkungen zum Haushalt teilweise selber nicht mehr festgehalten. Sie haben — lesen Sie nach auf Seite 164! — den Sozialausgaben zwar die Ausgaben für die Kriegsopferversorgung und die Ausgaben für die Umsiedlerhilfe und die Ausgaben für die Kriegsfolgenhilfe hinzugerechnet, aber selbst bei dieser weiten Fassung des Begriffes der Sozialleistungen steht in Ihren Vorbemerkungen zum Bundeshaushalt schwarz auf weiß, daß die Ausgaben für Sozialleistungen im Rechnungsjahr 1958 um 300 Millionen DM niedriger sind als im Jahre 1957. (Abg. Horn: Ja, was soll das?) — Das ist ein wichtiger Tatbestand! Zum erstenmal seit Bestehen der Bundesrepublik geht im Bundeshaushalt der Anteil der Sozialausgaben auch in der absoluten Höhe zurück. Wir müssen feststellen, daß nach Ihren eigenen Vorbemerkungen zum Bundeshaushalt zum erstenmal seit Bestehen der Bundesrepublik die Ausgaben für die Rüstung höher als die Sozialausgaben — selbst in dieser weiten Fassung — sind. Meine Damen und Herren von den Regierungsparteien, ich frage Sie: kann man einen Staat, bei dem die Rüstungsausgaben höher sind als die Ausgaben für soziale Zwecke, als Sozialstaat bezeichnen? (Abg. Horn: Jawohl!) Prüfen Sie das selbst, prüfen Sie das in Ihrem Kämmerlein! Und nun ein Zweites! Sie haben nach harten Auseinandersetzungen zugestanden — auch auf Grund unserer Initiative —, daß der Gedanke des Sozialstaates erst dann verwirklicht sei, wenn auch die Sozialleistungsempfänger laufend am Zuwachs des Sozialprodukts teilnähmen. Das war Ihr zweites Fundament für die Konzeption des Sozialstaats, wie Sie ihn sehen. Diese Konzeption haben Sie in diesem Jahr zum erstenmal aufgegeben. (Zuruf des Abg. Schütz [München].) — Herr Kollege Schütz, Sie haben den Haushalt offenbar nicht gelesen; ich empfehle Ihnen dringend, das über das Wochenende zu tun, bevor Sie weiter in Versammlungen gehen. Bei der Aufstellung des Bundeshaushalts — und das steht auch in der finanzpolitischen Begründung — wurde von einer Zuwachsrate des Sozialprodukts von 7 % ausgegangen. Man kann sich darüber streiten — und das wurde gestern getan —, ob diese Zuwachsrate richtig angesetzt ist. Jedenfalls geht die Bundesregierung von einer solchen Zuwachsrate aus. Dementsprechend müßte sie auch bei den Sozialleistungen die gleiche Zuwachsrate zugrunde legen, wenn die Auffassung aufrechterhalten werden soll, daß die Sozialleistungen nicht hinter der Entwicklung des Sozialprodukts zurückbleiben sollen. Wenn Sie zu den Sozialausgaben des Bundes von 1957 die Zuwachsrate von 7 % hinzurechnen, wie Sie es bei Ihrer gesamten Haushaltskonzeption getan haben, dann müßten im Haushalt 10,7 Milliarden DM und nicht 9,7 Milliarden DM für Sozialausgaben vorgesehen sein. Sie sind also bei den Sozialausgaben, gemessen an der Entwicklung des Sozialprodukts, schon in diesem Rechnungsjahr um 1 Milliarde DM unter den Ansätzen des Vorjahres geblieben. Das bedeutet, daß die Sozialleistungsempfänger nicht an der Entwicklung des Sozialprodukts teilnehmen sollen und von der Kaufkraftverschlechterung betroffen werden. Wo ist diese 1 Milliarde hingewandert? In den Rüstungshaushalt! (Sehr wahr! bei der SPD. — Abg. Schütz [München] : Ist die Freiheit gar nichts wert?) — Darüber wollen wir sprechen! Aber Sie müssen doch erst einmal diesen Tatbestand zugeben und dürfen ihn nicht verschleiern, (Beifall bei der SPD) indem Sie erklären, zu den Sozialausgaben gehörten auch die Leistungen für die 131er und die Versorgung der früheren Soldaten. Wir wollen erst einmal die Tatbestände klären! Ich beziehe mich in meiner Argumentation auf Ihre eigene Konzeption Wir stehen auf dem Standpunkt, daß die Verteilung des Sozialprodukts ungerecht ist. Sie haben erwidert: Wir lassen die Sozialleistungsempfänger an der Entwicklung dos Sozialprodukts teilnehmen. Mit dieser Ihrer eigenen Konzeption brechen Sie heute, und das ist doch ein wichtiger Tatbestand, eine Veränderung der Situation zu Lasten der sozial Schwachen. (Beifall bei der SPD.) Sie stellen die Weichen in eine bedenkliche, um nicht zu sagen in eine gefährliche Richtung. Diese Entwicklung ist um so verhängnisvoller, als die Folgen des vergangenen Krieges in sozialer Hinsicht noch längst nicht überwunden sind, auch wenn 10 000 einen Mercedes 300 fahren, auch wenn Herr Erhard erklärt, es sei niemand zu kurz gekommen. Meine Damen und Herren, Sie werden mir erwidern, Sie hätten im gegenwärtigen Haushaltsjahr keinen Eingriff in das geltende Sozialrecht vorgenommen. Bis jetzt noch nicht; im Augenblick gehen Sie bei den Einschränkungen der Sozialausgaben noch indirekt vor, indem Sie dringend notwendige Ausgaben für soziale, kulturelle und gesundheitliche Aufgaben unterlassen. Im Bundesgebiet fehlen beispielsweise noch 46 000 Klassenräume, weil Sie den Ländern nicht die finanzielle Möglichkeit geben, im Zusammenwirken mit den Kommunen einen solchen Bedarf zu befriedigen. (Zuruf von der Mitte: Reden Sie doch zum Thema!) 1364 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1958 Dr. Schellenberg — Das ist das Thema der Rüstungsausgaben. (Zuruf von der Mitte: Was wollen Sie denn?) — Sie wollen den Zusammenhang zur Rüstung vertuschen. (Zuruf von der Mitte: Alte Platte!) — Das ist für Sie eine alte Platte! Sie wollen wohl die 46 000 Schulräume ad calendas graecas fehlen lassen. (Zuruf von der Mitte: Sagen Sie mal, was Sie ausgeben wollen!) — Ich spreche dazu, welche Auswirkungen die Rüstung auf die sozialen Aufgaben des Bundes haben wird. Auf diese Frage müssen Sie eine Antwort geben. Mit der allgemeinen Bemerkung: Erst die äußere Sicherheit garantiert die innere Sicherheit, kommen Sie nicht weiter, wenn Sie die Ausgaben für die innere Sicherheit gleichzeitig in so bedenklicher Weise schwächen. (Beifall bei der SPD.) Ein anderes Beispiel! Nach den Mitteilungen der verantwortlichen Krankenhausärzte fehlen 4 Milliarden D-Mark für die Investitionen in den Krankenhäusern. Das ist ein gesundheitspolitisch bedauerlicher Tatbestand. (Zurufe von der Mitte.) Ich möchte Ihnen ein Beispiel aus dem praktischen Leben nennen. Die Presse ist voll von Berichten über die Erfindung einer Herz-Lungen-Maschine; sie kostet 160 000 DM. In welcher Lage sind wir? Wir müssen gewissermaßen öffentliche Sammlungen veranstalten, damit solche Maschinen beschafft werden können. Das ist eine peinliche Lage. (Beifall bei der SPD. — Abg. Dr. Stoltenberg: Bewilligen Sie sie doch in Nordrhein- Westfalen!) — Ich habe den Zusammenhang zwischen Bundeshaushalt und Länderhaushalten aufgezeigt, auf den meine Kollegen schon bei der Haushaltsberatung hingewiesen haben. Meine Damen und Herren, Sie unterlassen es nicht nur, dringend notwendige Ausgaben für soziale Zwecke einzusetzen, sondern Sie haben — das ist ein höchst bedenklicher Tatbestand, den Sie sich sorgfältig überlegen sollten — an jeder Position des gegenwärtigen Bundeshaushalts, die soziale Ausgaben betrifft, Kürzungen vorgenommen. So sind beispielsweise die Ausgaben, die für die Kriegsfolgenhilfe, für die Heimatvertriebenen, für die Rückgeführten, für die Flüchtlinge von großer Bedeutung sind, um 72 Millionen D-Mark gekürzt worden; das ist ein Tatbestand. (Zuruf von der Mitte: Warum?) — Sie fragen: Warum? — Wir alle hoffen, daß auf Grund der Repartriierungsverhandlungen die Zahl der Menschen, die aus den Ostgebieten zurückkehren, größer werden wird. Zu diesem Zeitpunkt nehmen Sie eine solche Kürzung von 72 Millionen D-Mark vor; (Hört! Hört! bei der SPD) das ist der Tatbestand. Etwas anderes! Sie haben die Bundeszuschüsse für die Arbeitslosenhilfe um 34 Millionen D-Mark gesenkt. (Zuruf des Abg. Schütz [München].) — Herr Kollege Schütz, sollte Ihnen unbekannt sein, daß die Zahl der älteren arbeitslosen Arbeiter und Angestellten in den Notstandsgebieten noch erschreckend hoch ist? Wollen Sie das leugnen? Statt die Mittel für eine produktive Erwerbslosenhilfe zu belassen und zu erhöhen, nehmen Sie im Haushalt eine Kürzung der .Arbeitslosenhilfe um 34 Millionen DM vor. Herr Kollege Schütz, Sie interessiert ja besonders der Lastenausgleich. Die Zuschüsse des Bundes zum Lastenausgleich sind um insgesamt 94 Millionen DM gekürzt worden. (Zuruf des Abg. Schütz [München].) Das bedeutet doch, daß sich die Abwicklung des Lastenausgleichs zeitlich noch mehr verzögert als ohnehin schon. (Erneuter Zuruf des Abg. Schütz [München]. — Weitere Zurufe von der Mitte.) — Meine Damen und Herren, das sind Tatbestände, an denen Sie nicht vorübergehen können. Sie müssen sich mit dieser Frage im Zusammenhang mit dem Rüstungsaufwand auseinandersetzen. (Abg. Schütz [München] : Das beruht doch auf § 6 des Lastenausgleichsgesetzes!) — Aber kommen Sie doch nicht mit diesem und jenem Paragraphen! Die praktischen sozialpolitischen Auswirkungen sind für die Menschen entscheidend. (Beifall bei der SPD. — Zuruf des Abg. Schütz [München].) Mein Freund Schoettle hat - ich erwähne das, um nun zu einer anderen Position zu kommen — schon darauf hingewiesen, daß die Ansätze in der Kriegsopferversorgung um 60 Millionen DM niedriger sind als im Vorjahr. (Abg. Horn: Sie wissen doch, warum!) — Ja, ich weiß warum. Aber, Herr Kollege Horn, bitte, sagen Sie Ihren Freunden, daß darin auch die Streichung von 42 000 Elternrenten in der Kriegsopferversorgung durch Anrechnung enthalten ist. (Sehr richtig! bei der SPD.) Meine Damen und Herren, das sind Auswirkungen, mit denen Sie sich auseinandersetzen müssen. Was hat der Herr Bundeskanzler über diese Anrechnung gesagt? Sie vergessen es immer. Deshalb muß ich wieder daran erinnern. Am 12. September 1957, drei Tage vor der Bundestagswahl, sagte er: Es wird im nächsten Bundestag eine unserer dringendsten Aufgaben sein, sämtliche noch vorhandenen Unstimmigkeiten auf diesem Gebiet zu beseitigen, damit die Rentner wirklich Dr. Schellenberg auch in den Genuß der Rentenerhöhung kommen. Es muß unter allen Umständen vermieden werden, daß die vorgesehenen Verbesserungen durch eingehende Anrechnungsbestimmungen in vielen Fällen kaum zur Auswirkung kommen. Das hat der Herr Bundeskanzler versprochen. Statt diese Härten zu beseitigen, meine Damen und Herren, schicken Sie sich an, noch größere Härten im sozialen Bereich eintreten zu lassen. (Beifall bei der SPD.) Der Herr Kollege Vogel hat von den Mehrleistungen im Zusammenhang mit der Rentenneuregelung gesprochen. Ich will keine Rentendebatte eröffnen, sonst würden wir noch bis heute abend diskutieren. Der Herr Präsident hat darum gebeten, die Diskussion zu straffen. Aber nachdem der Herr Kollege Vogel das Thema angeschnitten hat, muß ich dazu eine Bemerkung machen. Herr Dr. Vogel hat nicht erwähnt, daß die Mehrleistungen aus der Rentenneuregelung zu 82 % aus den Beiträgen und nur zu 18 % aus Bundeszuschüssen stammen. (Sehr richtig! bei der SPD. — Zuruf des Abg. Horn. — Weitere Zurufe von der Mitte.) — Aber, meine Damen und Herren, das ist doch wichtig. (Abg. Horn: Das weiß jeder!) — Das weiß jeder? Sagen Sie es mal der Bevölkerung sehr deutlich! (Beifall bei der SPD.) Dann sagen Sie der Bevölkerung auch, Herr Kollege Horn, daß der Herr Bundesfinanzminister es ungeachtet der im Gesetz festgelegten höheren Bundeszuschüsse, die sich in bestimmter Weise entwickeln sollen, durch Kürzung der Zuschüsse für die knappschaftliche Rentenversicherung, der Erstattungsbeträge für die Mindestrenten von 14 und 21 DM im Schlußergebnis fertiggebracht hat, 37 Millionen DM für Bundeszuschüsse zur Sozialversicherung weniger einzusetzen als im Vorjahr. Das ist auch für den Rüstungs- und Sozialhaushalt ein wichtiger Tatbestand. Herr Kollege Vogel — ich sehe ihn nicht im Saal; dann mag er es im Protokoll nachlesen — ist der Haushaltsexperte Ihrer Bundestagsfraktion und hat die Rentenneuregelung im Zusammenhang mit dem Bundeshaushalt erwähnt. Ich muß Herrn Kollegen Vogel und die Offentlichkeit über etwas anderes unterrichten. Als es nämlich um diese Dinge ging, hat der damalige Herr Bundesfinanzminister, dessen sachverständiger Berater der Finanzexperte der Fraktion sein sollte, folgendes an die Bundesregierung geschrieben: Nachdem nunmehr eine nicht unbeträchtliche Zahl von Mitgliedern der CDU/CSU-Fraktion wie auch Mitgliedern der übrigen Fraktionen der Regierungskoalition den Regierungsentwurf zur Rentenreform nicht mehr uneingeschränkt bejahen, schlage ich vor, das Kabinett möge wie folgt beschließen: Der Bundeskanzler wird gebeten, mit der Regierungskoalition Verhandlungen dahingehend zu führen, daß die Beratungen über die Bundestagsdrucksache 2437 — Rentenneuregelung — einstweilen zurückzustellen sind und statt dessen zum 1. Januar 1957 ein Überbrückungsgesetz verabschiedet wird. Wenn Herr Kollege Vogel im Zusammenhang mit dem Rüstungshaushalt die Rentenversicherung erwähnte, dann sollten Sie von diesen Tatbeständen Kenntnis nehmen und zugeben, wie es überhaupt zur Rentenneuregelung gekommen ist: gegen den Widerstand des Finanzministers und gegen den Widerstand des Herrn Bundeswirtschaftsministers, der in diesem Punkt mit Teilen Ihrer Fraktion die gleiche Auffassung vertreten hat. Herr Kollege Vogel, Sie waren doch sicher unter den Sachverständigen, die für die Zurückziehung des Regierungsentwurfs zur Rentenneuregelung sind. Haben Sie sich vielleicht einmal überlegt, daß es im Zusammenhang mit den Rüstungsausgaben auch angebracht wäre, zu erwägen, ob man die Vorlagen über die Rüstungsausgaben noch einmal überprüfen und zurückziehen sollte? (Beifall bei der SPD.) Bei den finanziellen Auswirkungen der Rüstungskosten ist es sozialpolitisch von entscheidender Bedeutung, daß wir jetzt, wo die Aufrüstung auf volle Touren kommt, erst am Anfang der Auswirkung auf die Sozialausgaben stehen. Der Herr Bundesfinanzminister hat sich in seinen Angaben über die zukünftigen Rüstungsausgaben gestern außerordentlich zurückgehalten, (Zuruf von der Mitte: Er hat sich präzise ausgedrückt!) — sehr zurückgehalten. Er hat nämlich praktisch nur das gesagt, was die Öffentlichkeit schon wußte. (Abg. Dr. Dollinger: Er hat Ihre Fragen beantwortet!) — Ja, formell! Darüber werden meine Freunde nachher noch sprechen. Meine Damen und Herren, man muß sich darüber klar sein — und die Offentlichkeit muß es ebenso —, daß sich aus einer Erhöhung der Rüstungsausgaben auch eine Einschränkung des Sozialhaushalts ergeben muß. Sie wissen schon heute nicht, wie Sie aus dieser Zange herauskommen sollen. Sonst hätten Sie nicht schon im ersten Jahr nach den Bundestagswahlen den Sozialhaushalt gekürzt. Das ist leider eine Entwicklung, mit der man sich auseinandersetzen muß. In diesem Jahr finanzieren Sie schon einen Teil des Zuwachses an Rüstungskosten aus dem Sozialhaushalt. Meine Damen und Herren, Sie wollen diese Entwicklung auf indirektem und direktem Wege fortsetzen. Sie werden sie nicht nur dadurch fortsetzen, daß Sie wichtige Ausgaben unterlassen, und dadurch, daß Sie die Anrechnungsvorschriften schärfer anwenden, sondern Sie werden auch zu direkten Eingriffen in das Sozialrecht kommen. Das ist keine Prophezeiung, die ich mache, sondern ich stütze mich auf Mitteilungen, die aus dem Arbeitsministerium kommen. Ich sehe gerade den Herrn Bundesarbeitsminister, er ist inzwischen gekommen, 1366 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1958 Dr. Schellenberg und er wird sich vielleicht selbst dazu äußern können, wofür ich außerordentlich dankbar wäre. Diese Tendenz ist auch an all dem zu erkennen, was wir über die weitere Entwicklung der sogenannten Sozialreform hören. Es ist noch nicht sehr lange her, da haben Sie, meine Damen und Herren, hier und in der Öffentlichkeit sehr großartig von einer umfassenden Sozialreform gesprochen, durch die der soziale Leistungsstand in der Bundesrepublik verbessert werden solle. Jetzt nehmen Sie eine Wendung in den Formulierungen vor, Sie werfen nachdrücklicher das Schlagwort von der Verstärkung des Verantwortungsbewußtseins des einzelnen in die sozialpolitische Debatte. Ich möchte darauf eingehen, und zwar an Hand von Erklärungen noch nicht offizieller, aber offiziöser Art. Da spielt beispielsweise die Frage einer wesentlichen Erhöhung der Kostenbeteiligung in der Krankenversicherung eine Rolle. Was bedeutet das wirtschaftlich? (Abg. Horn: Haben wir eine Sozialdebatte hier oder was haben wir? — Weitere Zurufe von der Mitte.) — Aber, meine Damen und Herren, Sie kürzen doch die Sozialausgaben zugunsten der Rüstungsausgaben! (Abg. Arndgen: Ist doch gar nicht wahr! Wo denn?) — In Ihrem Haushalt! Haben Sie ihn nicht gelesen? (Beifall bei der SPD. — Anhaltende Zurufe von der Mitte.) Sie wollen im Zusammenhang mit der weiteren sozialpolitischen Entwicklung schwerwiegende Eingriffe in das Sozialrecht vornehmen. Da ist doch ein Kausalzusammenhang mit der Entwicklung der Rüstungsausgaben vorhanden, daran kommen Sie nicht vorbei. Sie müssen sich diesen Fragen stellen! (Abg. Schütz [München]: Wir wollen dem nicht ausweichen! — Weitere Zurufe von der Mitte. — Unruhe.) — Ich verstehe, daß Ihnen das peinlich ist. (Zurufe von der Mitte: Nein, gar nicht! — Gegenruf des Abg. Wienand: Das ist Ihnen sehr peinlich!) Sie möchten die Zusammenhänge gern tarnen. (Zuruf von der Mitte: Sie weichen mit dieser Debatte aus!) — Nein, meine Damen und Herren, wir sind hier in einer Debatte über die zukünftige Entwicklung der Rüstungsausgaben, und da kann man es nicht allgemein damit abtun, daß man sagt: Sozialausgaben werden nicht berührt. Sie müssen sich schon selbst zu dem bekennen, was Sie in das sozialpolitische Gespräch bringen, und Sie erörtern eine Kostenbeteiligung in der Krankenversicherung. Was bedeutet das wirtschaftlich? Ich will jetzt mit Ihnen keine große sozialethische Auseinandersetzung führen; das machen wir dann, wenn es soweit ist. (Abg. Schütz [München]: Worauf Sie sich verlassen können!) Die Kostenbeteiligung bedeutet, daß der einzelne, der bisher eine bestimmte Leistung als Sozialleistung erhalten hat, diese Leistung in Zukunft aus seinem Arbeitsverdienst bestreiten soll. Das ist doch der wirtschaftspolitische und realpolitische Inhalt Ihrer Vorschläge, das bedeutet eine Beeinträchtigung des Lebensstandards der betreffenden Menschen. (Zuruf von der Mitte: Das liegt auf einen ganz anderen Gebiet!) Sie können sagen, Sie halten eine solche Verlagerung für richtig. Aber Sie dürfen die Offentlichkeit nicht über das hinwegtäuschen, um was es sich auch sozialpolitisch handelt. Sie können sagen, die Eingriffe in das Sozialrecht seien noch nicht festgelegt, wir befänden uns erst in der Diskussion hierüber. Ich billige dem Herrn Bundesarbeitsminister gern zu, daß er in diesen Dingen vorsichtiger ist als sein Vorgänger. Er kann sich darauf berufen, daß er diese Eingriffe erst zur öffentlichen Diskussion gestellt hat. Was ist darüber von dem zuständigen Referenten im Bundesarbeitsministerium konkret gesagt worden? Es ist eine Kostenbeteiligung vorgeschlagen worden, (Zurufe von der CDU/CSU: Zur Sache!) nicht nur erhöht für Arzneien, sondern auch für ärztliche Behandlung und für Krankenhausbehandlung. Es sind ganz konkrete Vorschläge in Größenordnungen zwischen 75 Pfennig und 1,50 DM für jede ärztliche Inanspruchnahme — da schwanken Sie noch —, für jeden Krankenhaustag ohne Hausgeldbezug in der Größenordnung von 1,50 DM gemacht worden. Meine Damen und Herren, überlegen Sie sich das einmal in den wirtschaftlichen Auswirkungen! Ich will Ihnen Ihre Überlegungen erleichtern. Sie können mich berichtigen, wenn ich falsch gerechnet habe. Nach dem, was der Referent im Bundesarbeitsministerium darüber gesagt hat, soll die Kostenbeteiligung einen Betrag von 650 Millionen ausmachen, die vom Sozialaufwand abgehen und den Lebensstandard des einzelnen belasten sollen. Das kann man vorrechnen. Ich will hier keine sozialpolitische Debatte im Detail führen. (Lachen bei der CDU/CSU. — Zurufe von der CDU/CSU: Sie sind ja mitten drin!) — Wollen Sie es hören? Ich kann es Ihnen vorrechnen. Glauben Sie nicht, daß ich, wenn ich hier so etwas sage, das nicht vorher genau überlegt habe! Ich will Ihnen die Größenordnungen sagen. Die Beteiligung an den Krankenhauskosten macht, wie der Referent des Bundesministeriums sagte, 150 Millionen aus, an Arztkosten 400 Millionen, Arzneien 100 Millionen. (Zurufe von der CDU/CSU: Zur Sache!) — Ach, „zur Sache"? Die Soziallasten hängen nicht mit den Rüstungsausgaben zusammen? Ja, meine Damen und Herren, Sie kommen nicht so leicht davon. Zwischen Rüstungsausgaben, Sozialausgaben und wirtschaftlichen Belastungen des einzelnen besteht kein Zusammenhang? Ihr eigener Sprecher, Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1958 1367 Dr. Schellenberg Herr Dr. Hellwig, hat gestern selbst von Opfern gesprochen und auf den Zigarettenkonsum und auf den Bierkonsum Bezug genommen. Aber klären Sie die Dinge vorher bitte erst mal in Ihrem Kreise. Die einen sagen nämlich, der Zigaretten- und Bierkonsum solle eingeschränkt werden zugunsten der Kostenbeteiligung, und Herr Dr. Hellwig hat gesagt: im Zusammenhang mit den Rüstungsaufwendungen. Und die Frage des Bierkonsums erörtern Sie erst mal in der CSU-Fraktion! (Beifall bei der SPD. — Heiterkeit.) Ich weise also nur darauf hin, daß es sich nach den Vorstellungen der Regierungsvertreter beispielsweise in der Frage der Kostenbeteiligung um wirtschaftlich bedeutsame Größenordnungen handelt. Der Bundesarbeitsminister hat dankenswerterweise auch einen Entwurf zur Unfallversicherung als Referentenentwurf vorgelegt, gewissermaßen als Versuchsballon. Was steht darin? Daß für Unfälle mit einer Beschädigung unter 25 % in Zukunft keine Rente mehr gewährt werden soll, (Hört! Hört! bei der SPD) was praktisch bedeutet, daß fast die Hälfte aller Arbeitsunfälle in Zukunft ohne eine Entschädigung bleiben soll. (Zuruf von der SPD: Unerhört!) Meine Damen und Herren, das ist ein Tatbestand, von dem Sie nicht leugnen können, daß er im Zusammenhang mit den Notwendigkeiten steht, (Abg. Schütz [München]: „Mit den Notwendigkeiten"!) — ja, den Notwendigkeiten, die sich aus Ihrer Konzeption des steigenden Rüstungsaufwands ergeben. Jetzt gehen Sie daran, die Sozialausgaben einzuschränken. Wir halten das für eine gefährliche Entwicklung; und deshalb weisen wir mit Ernst darauf hin. Sie können mir erwidern: „Ja, bei der weiteren sozialpolitischen Entwicklung werden wir auch Leistungsverbesserungen vornehmen!" Deshalb gebe ich Ihnen darauf gleich die Antwort. Auf die wirtschaftliche Größenordnung kommt es an! Bezüglich der Leistungsverbesserungen sind die Stimmen aus dem Bundesarbeitsministerium wesentlich vorsichtiger als das, was in bezug auf Beschränkung des Umfanges der sozialen Leistungen gesagt wird. Sie haben in bezug auf die Leistungsverbesserung sich sehr unverbindlich ausgedrückt; aber bezüglich der Kostenbeteiligung haben Sie schon sehr präzise Vorstellungen. Sie sprechen von einer Umschichtung des Sozialaufwands, und Sie meinen damit eine Verlagerung von den Sozialleistungen auf die eigenen Mittel und damit den Lebensstandard des einzelnen. Sie werden den Lebensstandard dadurch verschlechtern, um auch damit die erhöhten Rüstungskosten zu finanzieren. An diesem Tatbestand kommen Sie nicht vorbei. Das hat zwangsläufig verhängnisvolle Auswirkungen auf den sozialen Status der Bundesrepublik. (Sehr wahr! bei der SPD.) Meine Damen und Herren, wohin kommen Sie denn mit den ansteigenden Rüstungskosten? Sie kommen dazu, die Sozialausgaben weniger von der sozialen Notwendigkeit her bestimmen zu lassen als vielmehr von dem Restbetrag, der nach Durchführung und Finanzierung Ihrer Rüstungspläne übrigbleibt. Deshalb hat Herr Dr. Hellwig von Opfern gesprochen, der Herr Finanzminister in seinen Erklärungen von materiellen Anstrengungen, die erbracht werden müssen. Es wurde aber nicht gesagt, wer diese Opfer und diese Anstrengungen erbringen soll, die wirtschaftlich Starken oder — wie hier im sozialen Bereich — die wirtschaftlich Schwachen. Zur Belastung und Verschlechterung des Lebensstandards der wirtschaftlich Schwachen haben Sie schon Konzeptionen entwickelt. Entwickeln Sie uns Ihre Vorschläge zur Rüstungsfinanzierung durch Inanspruchnahme der wirtschaftlich Starken! (Beifall bei der SPD.) In diesem Jahre werden in bezug auf die Sozialausgaben die Weichen gestellt, weil die Sozialleistungen niedriger sind als die Rüstungsausgaben. Sie müssen sich dann mit der Frage auseinandersetzen, was Sie auf sozialem Gebiet in der Ära der Aufrüstung noch leisten können. Wie ist die Lage? Ein Staat, der die Sozialausgaben niedriger ansetzt als die Rüstungsausgaben, ein Staat, der die Sozialleistungsempfänger, die Schwächsten in unserem Volke, nicht anteilmäßig an der Entwicklung des Sozialprodukts teilnehmen läßt, ein Staat, bei dem nicht die Sozialausgaben, sondern die Rüstungsausgaben den Angelpunkt des Bundeshaushalts bilden! Ich frage Sie: kann man einen solchen Staat noch als einen Sozialstaat bezeichnen, oder ist dafür nicht die Bezeichnung Militärstaat angebrachter? (Oh!-Rufe bei der CDU/CSU. — Abg. Horn: Das ist der Gipfel der Polemik, das ist sogar demagogisch! Jetzt hören Sie aber auf, mein Lieber!) Überlegen Sie diese Entwicklung sehr sorgfältig. (Anhaltende Zurufe von der CDU/CSU.) — Ich habe an Sie eine Frage gestellt. (Weitere Zurufe von der CDU/CSU.) — Sie sollten diese Frage beantworten. (Abg. Horn: Das war eine demagogische Frage!) Herr Dr. Vogel und Herr Dr. Hellwig, Sie haben davon gesprochen, daß steigende Rüstungsausgaben erforderlich sind — das ist Ihre Vorstellung —, um auch die soziale Sicherheit zu schützen. Aber, meine Damen und Herren, indem Sie durch eine forcierte Rüstungspolitik zur Einschränkung des sozialen Leistungsbereichs gezwungen sind, beeinträchtigen Sie die soziale Sicherheit, die ein unerläßliches Fundament für Freiheit und Demokratie bildet. (Sehr wahr! bei der SPD.) Die militärische Sicherheit, die Sie, meine Damen und Herren, zu schaffen meinen, steht auf schwan- 1368 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 25. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. April 1958 Dr. Schellenberg kendem Boden, wenn sie durch eine Beeinträchtigung der sozialen Sicherheit erkauft werden muß. (Beifall bei der SPD.) Ihre Politik der zunehmenden Rüstungsausgaben gefährdet damit den sozialen Gehalt unserer Demokratie. Meine Damen und Herren, ich frage Sie: nützt nicht eine solche Politik denen, die darauf warten, daß unser soziales Gefüge ins Schwanken gerät? (Erneuter Beifall bei der SPD. — Zurufe von der CDU/CSU.)
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    Anlage Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich Frau Albrecht 31. 5. Altmaier 26. 4. Bauer (Wasserburg) 26. 4. Bauereisen 26. 4. Bauknecht 10. 5. Frau Berger-Heise 3. 5. Birkelbach 25. 4. Dr. Birrenbach 25. 4. Frau Bleyler 26. 4. Dr. Böhm 26. 4. Brese 24. 4. Frau Dr. Brökelschen 26. 4. Dr. Dehler 25. 4. Diel (Horressen) 5. 5. Frau Dr. Diemer-Nicolaus 30. 4. Dr. Dittrich 26. 4. Döring (Düsseldorf) 24. 4. Dr. Eckhardt 30. 4. Eichelbaum 3. 5. Engelbrecht-Greve 26. 4. Felder 30. 4. Dr. Frey 26. 4. Dr. Friedensburg 30. 4. Frau Friese-Korn 31. 5. Gaßmann 26. 4. Geiger (München) 26. 4. Frau Geisendörfer 23. 5. Dr. Gülich 26. 4. Hahn 25. 4. Hamacher 25. 5. Dr. von Haniel-Niethammer 26. 4. Dr. Harm 24. 4. Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich Häussler 30. 4. Heinrich 15. 5. Frau Herklotz 1. 5. Höcherl 10. 5. Dr. Hoven 25. 4. Frau Dr. Hubert 17. 5. Hufnagel 26. 4. Iven (Duren) 26. 4. Jacobs 25. 4. Frau Kipp-Kaule 26. 4. Kunze 15. 5. Dr. Lindenberg 25. 4. Frau Dr. Dr. h. c. Lüders 30. 6. Dr. Maier (Stuttgart) 26. 4. Mattick 26. 4. Mellies 23. 5. Memmel 25. 4. Meyer (Oppertshofen) 26. 4. Mischnick 24. 4. Frau Niggemeyer 30. 4. Frau Renger 10. 6. Richarts 25. 4. Ruf 25. 4. Scharnberg 26. 4. Scharnowski 26. 4. Scheppmann 2. 5. Dr. Schmid (Frankfurt) 26. 4. Schneider (Hamburg) 24. 4. Storch 25. 4. Sträter 31. 5. Struve 7. 5. Dr. Wahl 15. 5. Frau Dr. h. c. Weber (Essen) 24. 4. Weimer 31. 5. Dr. Zimmer 26. 4.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Rainer Barzel


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Meinen Sie, uns Christlichen Demokraten wäre wohl zumute, weil wir als Regierungspartei keine wirkliche Alternative gegenüberhaben?

    (Abg. Wehner: Sie Heuchler!)



Rede von Dr. Victor-Emanuel Preusker
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Abgeordneter Wehner, haben Sie eben den Abgeordneten Barzel mit dem Wort „Heuchler" betitelt?

(Abg. Wehner: Ja, ja!)

— Dann rufe ich Sie hiermit zur Ordnung.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Rainer Barzel


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Uns fielen Steine vom Herzen, Herr Kollege Wehner, wenn wir wüßten, daß auch Ihre Partei die sowjetische Bedrohung sähe und ernst nähme, daß auch sie bereit wäre, unseren freiheitlichen Rechtsstaat und notfalls die Menschenwürde zu verteidigen. Brauchen Sie denn wirklich die Anti-Atomtod-Kampagne und die sogenannte Volksbefragung, um wieder einmal, in der Negation vereint, die Einheit Ihrer Partei zu retten?

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Lautes Lachen bei der SPD.—Abg. Wehner: Sie haben wohl die „Welt" von heute gelesen?)


    Dr. Barzel
    lins und unserem Volk wäre wohler, wenn niemand um Ordnung, um Freiheit und Sicherheit unseres Volkes zu bangen brauchte bei dem Gedanken, daß die SPD in Deutschland einmal regieren könnte. Wir machen uns Sorgen um den Staat, also um das rechtlich und freiheitlich geordnete Wohl unseres Volkes, und deshalb bitten wir Sie nochmals:

    (Abg. Metzger: Das Wohl unseres Volkes, das Sie mit Ihrer Politik vernichten werden! — Weitere Zurufe von der SPD.)

    Überlegen Sie sich den Weg, den Sie da gehen wollen, sehr!
    Ich darf mich nun — Sie warten ja so darauf, Herr Kollege Dr. Menzel der Begründung unserer Rechtsauffassung zuwenden. Vielleicht erlauben Sie mir, zur gedanklichen Einleitung in dieses Thema mit Genehmigung des Herrn Präsidenten zwei Sätze Platons zu verlesen.

    (Zurufe von der SPD.)

    — Ich dachte, Sie wollten den Geist mobilisieren.

    (Heiterkeit und Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Ich wünschte, daß diese Sätze auch von denen gehört würden, die als Wissenschaftler und Künstler Ihre Aufrufe unterzeichnet haben.
    Platon beschreibt in seinem achten Brief einen glücklichen Staat. Die Ursache dieses Glücks sieht er in folgendem; nun hören Sie das Zitat:
    Daher genießen da so viele Generationen mit
    Ruhm eine friedliche konservative Regierung, dieweil dort das Gesetz der souveräne Fürst über die Menschen war und nicht die Menschen souveräne Herren über die Gesetze.
    Die Ursache des Glücks der Staaten sei also die Rechtsstaatlichkeit und die Gesetzestreue.
    Und in seinem „Staat" beschreibt Platon einen unglücklichen Staat:
    Das Unglück beruhe darauf, daß er zu jeder gesetzwidrigen Zügellosigkeit sich hinreißen lasse, was aber von seinen Anführern lauter Freiheit geheißen wird.
    Die Ursache des Unglücks der Staaten sei also das Einreißen gesetzwidriger Zügellosigkeit, die von den politischen Führern fälschlicherweise als Freiheit bezeichnet werde.
    Ich glaube, daß wir allen Grund haben, diese grundsätzliche Betrachtung an den Anfang unserer Überlegungen zu stellen; denn wir wissen doch, daß Weimar unter der Fahne der Freiheit ins Zügellose entartete und daß aus dieser Entartung dann die Gesetzwidrigkeit und aus dieser Gesetzwidrigkeit Not, Unglück und Katastrophe entstanden. Das darf nie wieder sein!

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Es wird nie wieder sein, wenn wir den Rechtsstaat
    nicht antasten lassen, wenn wir Demokratie und
    Freiheit nicht verwechseln mit Zügellosigkeit und
    Unordnung. Darum bitte ich Sie: Gehen Sie nicht den Weg zurück an das Ende von Weimar;

    (Zustimmung bei den Regierungsparteien)

    denn viele in unserem Volke kehrten Weimar den Rücken, weil sie glaubten, daß die Demokratie nicht imstande sei, Ordnung zu gewähren. Darum Hände weg von Unordnung!
    Die Fraktion der CDU/CSU sieht sich nicht imstande, dem Gesetzentwurf der SPD über eine Volksbefragung zuzustimmen. Wir halten den Entwurf für unvereinbar mit Buchstaben und Geist des Grundgesetzes. Wir sind leidenschaftlich dagegen, Herr Kollege Dr. Menzel,

    (Abg. Wehner: „Leidenschaftlich" aufgeschrieben!)

    etwa durch Änderung des Grundgesetzes das Rechtsinstitut der unverbindlichen Volksbefragung verfassungsrechtlich zu verankern. Ich möchte Ihnen, soweit das jetzt möglich und im Hinblick auf die Beratungen im Rechtsausschuß notwendig ist, unsere Rechtsauffassung kurz darlegen.
    Unsere Rechtsüberlegungen gehen von Art. 20 Abs. 2 und Abs. 3 des Grundgesetzes aus. Es heißt dort - mit Genehmigung des Herrn Präsidenten darf ich zitieren —:
    Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.
    Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung ... gebunden

    (Abg. Dr. Menzel: Natürlich!)

    Diese Vorschrift gestattet es nicht, die von dem Entwurf vorgesehene Volksbefragung durchzuführen.

    (Abg. Dr. Menzel: Was ist denn ,,Abstimmung" nach Art. 20 des Grundgesetzes?)

    Warum? Art. 20 Abs. 2 des Grundgesetzes regelt abschließend die direkten Mitwirkungsrechte des Staatsvolkes bei der Staatswillensbildung. Die Verfassung enthält weder im Katalog der Gesetzgebungs- noch in dem der Verwaltungszuständigkeiten, noch an anderer Stelle einen Hinweis darauf, daß Volksbefragungen durch Gesetz oder in sonstiger Weise veranstaltet werden können.

    (Abg. Dr. Menzel: Sind wir nicht souverän?)

    — Ja, wir sind hier souverän! Aber an die verfassungsmäßige Ordnung ist auch der Gesetzgeber gebunden, Herr Kollege Dr. Menzel.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zuruf von der SPD: Art. 118 des Grundgesetzes!)

    — Hören Sie gut zu, Herr Kollege. Es wird gleich weitergehen; auf Art. 118 komme ich noch.
    Die herrschende Staatsrechtslehre ebenso wie uns vorliegende Gerichtsentscheidungen bestätigen diese Auffassung. Der Rechtsstaat verlangt wenn die Herren Juristen jetzt zuhören würden —,



    Dr. Barzel
    wie Triepel sagt, jede Kompetenz an der Hand les Rechtes selbst zu beweisen. Es genügt also nicht, Kompetenzen aus der Fülle des Gemüts zu behaupten; sie müssen konkret da sein und nachgewiesen werden. Auch der Gesetzgeber darf im Rechtsstaat nur tun, was ihm das Grundgesetz erlaubt. Das Grundgesetz erlaubt Volksbefragungen nicht.

    (Abg. Dr. Menzel: Trotz der Kompetenzkompetenz!)

    — Das gibt es doch nur in der Verwaltung. (Erneuter Zuruf des Abg. Dr. Menzel.)

    Würde man anders interpretieren, so käme man zu Lücken in der Verfassung, also zu weißenFlecken der Anarchie mitten im Rechtsstaat. Das aber wäre eben kein Rechtsstaat mehr.
    Unser Volk ist nach dem Grundgesetz stets in diesem Hause, in seinem Bundestag, präsent. Dieser Bundestag ist nach unserem Grundgesetz das präsente Volk mit vollem Entscheidungsrecht und voller Entscheidungspflicht für die Dauer der Wahlperiode und im Rahmen des Grundgesetzes.

    (Beifall in der Mitte. Abg. Metzger: Dann muß der Bundestag auch das Recht haben, das Volk zu fragen, gerade dann!)

    - Ich komme darauf.
    Der Parlamentarische Rat hat bewußt den repräsentativen Charakter unseres Grundgesetzes verstärkt. Alle Anträge, insbesondere der Kommunisten und des Zentrums, auf Erweiterung der direkten Mitwirkungsrechte des Volkes wurden abgelehnt, weil der Parlamentarische Rat davon ausging, daß Volksentscheid und Volksbegehren eine Prämie für die Demagogie seien, wie der damalige Abgeordnete Dr. Theodor Heuss treffend formulierte.
    Für die SPD erklärte der damalige Abgeordnete Katz, der heutige Vizepräsident unseres Bundesverfassungsgerichts, der Volksentscheid gebe die Möglichkeit zu demagogischen Experimenten, und er passe nicht in das System des Grundgesetzes. Er erklärte dann, Herr Kollege Dr. Menzel, wörtlich: „Die Abgeordneten sind dazu gewählt worden, um die Entscheidungen zu treffen und durchzukämpfen." Ähnliches erklärte damals Abgeordneter Professor Dr. Schmid als Berichterstatter.
    Der Parlamentarische Rat hat also — und das wird in der Staatsrechtslehre übereinstimmend anerkannt, auch in dem Kommentar von Herrn Hamann, Herr Dr. Menzel —, festgestellt, daß es eine bewußte Entscheidung dieser Verfassung sei, den repräsentativen Charakter zu verstärken.
    Wir halten das auch heute noch für richtig. Wenn Sie uns nach den Gründen fragen, dann sage ich Ihnen nur: Sehen Sie hin nach Hamburg und denken Sie an alles, was ich Ihnen hier vorgetragen habe, was passiert, wenn man diese Aktion einleitet!
    Auch die Weimarer Verfassung sah das Institut der Volksbefragung im Sinne einer unverbindlichen
    Meinungsäußerung des Staatsvolkes nicht vor. Das hatte Herr Kollege Dr. Menzel, vielleicht merken Sie jetzt, daß uns die Unterschiede zwischen Volksentscheid, Volksbegehren und Volksbefragung durchaus präsent sind — seinen guten Grund. Denn unser Volk ist nach dem Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes der Souverän. Es ist eine undemokratische Zumutung, amtlich das ganze Volk zu einer unverbindlichen Meinungsäußerung aufzufordern. Wenn sich der Souverän äußert, dann entscheidet er auch.

    (Beifall in der Mitte.)

    Aus dieser Überlegung heraus, Herr Kollege Dr. Menzel, kannte die Weimarer Verfassung das Rechtsinstitut der Volksbefragung überhaupt nicht. Deshalb wäre der Antrag, den Sie uns heute vorlegen, meines Erachtens auch nach der Weimarer Verfassung als verfassungswidrig abzulehnen.
    Es blieb Herrn Hitler vorbehalten, durch Reichsgesetz vom 14. Juli 1933 das Rechtsinstitut der Volksbefragung in unser öffentliches Leben einzuführen. Hören Sie jetzt zu! Das war nämlich sehr konsequent von ihm gedacht. Jetzt war ja nicht mehr das Volk, sondern machtpolitisch — er, der Herr Hitler, der Souverän. Also entschied er, und das Volk wurde unverbindlich und unter Terror befragt.

    (Abg. Dr. Menzel: Unter Terror!)

    Die Volksbefragung paßt vielleicht in die Kommunalpolitik. Für die Bundespolitik ist sie kein Rechtsinstitut, überhaupt nicht für eine demokratische Verfassung; sie paßt nur in die Diktatur. Herr Ulbricht benutzt sie ja auch. Sollte uns das nicht schrecken?
    Unser Grundgesetz sieht im Art. 118 ausnahmsweise eine Volksbefragung im Zusammenhang mit der Neugliederung vor. Es ist nun die Meinung vertreten worden — nicht hier, aber in der Wissenschaft —, daß diese Volksbefragung nur eine unverbindliche Richtlinie für den Bundesgesetzgeber enthalte. Was hat der Bundesgesetzgeber aber aus dieser Ermächtigung gemacht? Er hat in § 10 des Zweiten Neugliederungsgesetzes entschieden, daß auch hier die Volksbefragung rechtlich wie ein Volksentscheid zu werten sei, weil eben der Souverän entscheidet und nicht nur unverbindlich befragt wird.
    Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Urteil vorn 23. Oktober 1951 ausdrücklich festgestellt, daß diese Entscheidung des Bundestages zum § 10 des Zweiten Neugliederungsgesetzes in Anwendung des Art. 118 des Grundgesetzes dem demokratischen Prinzip entspreche. Mit diesem demokratischen Prinzip wäre es unvereinbar, wenn der Wille des Volkes nur unverbindliche Richtschnur wäre. Volksbefragung ist in der Demokratie tatsächlich Volksentscheid.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Der Entwurf der SPD ist also verfassungswidrig. Die Untersuchung des Wortlauts, der Entstehungsgeschichte und des Sinnzusammenhangs erlaubt keine andere Interpretation. Der Entwurf könnte



    Dr. Barzel
    nach geltendem Verfassungsrecht nur angenommen werden, wenn zuvor das Grundgesetz entsprechend geändert bzw. ergänzt würde. Aber einen solchen Antrag haben Sie nicht vorgelegt.
    Wie Sie sicher wissen, ist es in der Staatsrechtslehre umstritten, ob überhaupt der Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes es gestatten würde, über den Art. 20 hinaus den plebiszitären Charakter des Grundgesetzes zu verstärken. Unabhängig von diesem wissenschaftlichen Meinungsstreit sind wir nicht bereit, die Volksbefragung als neues Rechtsinstitut in unser Grundgesetz aufzunehmen, weil rechtsstaatliche, mittelbare Demokratie und unverbindliche Volksbefragungen sich vertragen wie Feuer und Wasser.
    Die Volksbefragung ist für die Politik oberhalb der Gemeinden ein Kind der Diktatur. Mit Recht stellt Professor Eschenburg fest, wie ich mit Genehmigung des Herrn Präsidenten wohl zitieren darf:
    Demokratische Verfassungen kennen nicht das
    Verfahren der unverbindlichen Volksbefragung.
    Und er fügt dann den Satz hinzu:
    Die Volksbefragung über politische Grundsatzfragen ist ein Trojanisches Pferd der Kommunisten.

    (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.)

    In der Demokratie ist das Volk der Souverän. Den Souverän befragt man nicht unverbindlich um seine politische Meinung. Wenn sich das souveräne Volk amtlich äußert, so entscheidet es auch. Wir haben zu viel Respekt vor unserem Volk, als daß wir es nur zu unserer Information unverbindlich befragten.

    (Lachen bei der SPD.)

    Unser Volk ist Souverän, nicht Orakel und nicht Hampelmann.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Ich darf mich nun einem höchst vergnüglichen Thema zuwenden: den Rechtsgründen der Sozialdemokratischen Partei.
    Herr Kollege Dr. Menzel, Sie haben auf das Gutachten des verehrungswürdigen Professors Nawiasky hingewiesen. Es ist leider kein Gutachten, sondern ein sehr kurzer Zeitungsaufsatz. Ich werde mir erlauben, darauf gleich zu sprechen zu kommen.
    Sie haben zum zweiten auf den Kommentar von Herrn Hamann zum Grundgesetz hingewiesen, der in der Tat auf Seite 181 sagt, der Art. 20 des Grundgesetzes erlaube unverbindliche Volksbefragungen. Das ist allerdings nur ein einziger Satz. Eine Begründung hierzu wird nicht gegeben; und dieser Satz steht in Widerspruch zu dem, was Herr Professor Hamann vorne im allgemeinen Teil über die Auslegung des Art. 20 selbst sagt. Alle anderen Kommentare — das haben Sie hier verschwiegen — sind anderer Meinung.

    (Abg. Dr. Menzel: Das stimmt nicht! Weder Mangoldt noch der Bonner Kommentar nehmen dazu Stellung!)

    Ich will das jetzt nicht auswälzen; wir können ja im Rechtsausschuß darüber reden.
    Die Opposition versucht, aus einigen allgemeinen Artikeln des Grundgesetzes mittelbar die Statthaftigkeit der Volksbefragung darzutun. Sie weist hin auf die Art. 5, 17, 21 und 44.
    Diese Überlegungen sind nicht schlüssig; denn allein das Grundgesetz selbst bestimmt unmittelbar die Gebiete, über die der Bund Gesetze erlassen darf. So steht es im Grundgesetz. Und nirgendwo weist das Grundgesetz dem Bund das Recht zu, unverbindliche Volksbefragungen durch Gesetz durchzuführen. Über den Sonderfall des Art. 118 des Grundgesetzes habe ich gesprochen.
    Herr Dr. Heinemann hat in der Öffentlichkeit, nicht hier im Hause, auf das Urteil des 6. Strafsenats vom 2. August 1954 zur Begründung der Statthaftigkeit der Volksbefragung hingewiesen. Wir haben dieses Urteil nachgelesen und stellen das Gegenteil fest, nämlich daß eine solche Abstimmung im Grundgesetz nicht vorgesehen ist.

    (Hört! Hört! bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. Menzel: Das stimmt ja nicht! Gerade das Gegenteil steht darin!)

    Auch der Versuch, aus den Mitwirkungsrechten des Bundesrates durch abenteuerliche Rechtskonstruktionen die Volksbefragung wenigstens in den Ländern als statthaft hinzustellen, ist rechtlich unhaltbar.
    Ich komme jetzt zu den Gedanken von Herrn Professor Nawiasky. Herr Professor Nawiasky sagt, es sei den Regierungen der Länder unbenommen, in welcher Weise sie sich über die Meinung ihres Landesvolks informieren. Nun, in einem Rechtsstaat ist es den Regierungen eben nicht unbenommen, sondern das Grundgesetz selbst bestimmt, wie die Landesregierungen durch den Bundesrat bei der Bundesgesetzgebung mitwirken. Es kommt hinzu, daß dem Bundesrat überhaupt kein Gesetzentwurf vorliegt, zu dem er Stellung zu nehmen hätte.
    Wir haben also — zusammenfassend — nicht das Recht, zu Ihrem Entwurf ja zu sagen, selbst wenn wir wollten.
    Die Rechtsausführungen der Opposition haben uns nicht überzeugt. Sie haben uns vielmehr darin bestärkt, daß dieser Entwurf gegen Geist und Buchstaben des Grundgesetzes verstößt.

    (Sehr richtig! in der Mitte.)

    Deshalb können, deshalb dürfen und deshalb werden wir diesem Entwurf nicht zustimmen. Ja, deshalb halten wir uns als rechtsstaatlich gesonnene Demokraten für verpflichtet, alles zu tun, damit dieser Anschlag auf unseren demokratischen Rechtsstaat und dieser Versuch der Entmachtung des Parlaments vereitelt wird.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Wir bitten die Bundesregierung, alles Rechtliche und Tatsächliche, alles in ihrer Macht Stehende energisch zu tun,

    (Abg. Dr. Menzel: Polizei, Grenzschutz, Hochverrat!)




    Dr. Barzel
    um dem Recht und der Ordnung in Deutschland zur Geltung zu verhelfen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Die Länder und die Gemeinden erinnern wir an ihre Rechtspflicht zur Bundestreue.
    Selbst wenn hier und da das Landesrecht Volksbefragungen zulassen sollte — ich bezweifle das —, selbst dann dürfen weder das Land noch die Gemeinden Aktionen durchführen, die nach den Art. 73 und 87 b des Grundgesetzes eindeutig zur ausschließlichen Zuständigkeit des Bundes gehören.

    (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. Menzel: Sie sagten doch vorhin, der Bund kann keine Gesetze erlassen! Jetzt sagen Sie, die Länder können das nicht tun, weil das der Bund machen muß!)

    Wir lehnen aber Ihren Entwurf auch noch aus einem anderen Grunde ab. Ich will das hier nur andeuten, weil dazu noch andere Sprecher meiner Fraktion reden werden. Wir lehnen Ihren Entwurf auch deshalb ab, weil die beiden Fragen, die dem Volk zur unverbindlichen Beantwortung vorgelegt werden sollen, unseres Erachtens unaufrichtig sind und weder der Weltlage noch den Beschlüssen des Bundestages entsprechen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Der Bundestag hat ja nicht beschlossen, daß morgen in Deutschland deutsche Atombomben in den Händen der Bundeswehr sein sollen. Der Bundestag hat vielmehr beschlossen: Nur wenn es auf der Gipfelkonferenz nicht zur allgemeinen kontrollierten Abrüstung kommen sollte — und wir hoffen und wünschen, daß es dazu kommt —,

    (lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien)

    nur dann soll auch die Bundeswehr Wafften erhalten, deren Sprengkörper im Eigentum der USA bleiben; jetzt geht es nur um die Ausbildung.

    (Zurufe von der SPD: „Nur"!)

    Diese Beschlüsse des Bundestages sind ein Beitrag und, wie ich glaube, ein wesentlicher und für die internationale Politik unverzichtbarer Beitrag zu dem Ziel, durch Sicherung der Freiheit der Bundesrepublik die Wiedervereinigung und durch Festigkeit der NATO die allgemeine kontrollierte Abrüstung zu erreichen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe von der SPD.)

    Wir lehnen also Ihren Entwurf auch wegen der Fragestellung in seinem § 2 ab. Diese Fragestellung ist so unaufrichtig wie Ihre ganze Aktion gegen den Atomtod.

    (Sehr gut! in der Mitte.)

    Sie haben, Herr Kollege Dr. Menzel, hingewiesen auf das, was der Herr Bundeskanzler in London getan hat. Aber Sie haben eines vorzutragen vergessen: Die Herren, die dort gegen die Atombewaffnung demonstriert haben, die haben nicht nur demonstriert gegen Konrad Adenauer, nicht nur
    gegen London, die haben zunächst und vor allem demonstriert gegen die Moskauer Atomwaffen.

    (Sehr gut! in der Mitte.)

    Darum ist Ihre Aktion an die falsche Adresse gerichtet. Appellieren Sie doch zunächst einmal an Moskau!

    (Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Blachstein: Sind wir hier im Obersten Sowjet?)

    Denn noch immer sagt doch Moskau nein zur Abrüstung. Immer noch will Moskau die ganze Welt kommunistisch machen. Darum brauchen wir Sicherheit, darum brauchen wir, wenn es nicht zur Abrüstung kommt, moderne Waffen.
    Während Sie unter dem atomaren Schutz der USA und der NATO in gesicherter Freiheit gegen die Atombombe reden,

    (lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien)

    während dieser Zeit tun wir alles, durch eine konkrete Politik den Atomtod ebenso zu verhindern wie die Bolschewisierung unseres Vaterlandes.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Unsere Bereitschaft zur atomaren Friedenssicherung entspringt einer leidigen Notwendigkeit. Wir müssen leider, wenn es nicht zur Abrüstung kommt, diese Waffen wollen, solange Moskau sie hat, nicht abrüstet und uns bedroht.
    Sie weisen in diesem Zusammenhang auch immer wieder auf die Frage der Wiedervereinigung hin. Es ist ebenso Ihre wie unsere Pflicht, bei jeder politischen Maßnahme so zu entscheiden, daß sie die Wiedervereinigung fördert und nicht erschwert. Wie haben Sie in der letzten außenpolitischen Debatte in dieser Frage geunkt! Und was ist wirklich passiert? In Moskau wurden nach dieser Atomdebatte die Verträge paraphiert,

    (Sehr gut! bei der CDU CSU)

    und morgen kommt Herr Mikojan nach Bonn, um sie zu unterschreiben. Und da sagen Sie, unsere Politik verhindere das Gespräch mit Moskau und die Wiedervereinigung! Das Gegenteil ist richtig.

    (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Wehner: Reden Sie mit Mikojan über Wiedervereinigung! Viel Glück! Versuchen Sie das mal!)

    — Herr Kollege Wehner, Sie unterlassen es doch stets, in Ihren Ausführungen zur Wiedervereinigung als ersten Satz einmal festzustellen, daß nicht Bonn, sondern Moskau schuld ist an der Spaltung unseres Vaterlandes!

    (Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von der SPD: Hitler!)

    Sie sagen nie unserem Volk, daß nicht nur wir in Bonn — —

    (Abg. Wehner: Was heißt denn „nie"? — Weitere lebhafte Zurufe von der SPD.)