Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe den Eindruck, daß die Debatte, die wir heute über die Große Anfrage der sozialdemokratischen Fraktion gehabt haben, eine gewisse Klärung der Standpunkte der Regierung, der Regierungsparteien und der Opposition gebracht hat. Was die Haltung der Regierung angeht, so begrüßen wir diese Klärung, nachdem aus den verschiedenen Erklärungen des Bundeskanzlers, des Bundesaußenministers und des Bundesverteidigungsministers in den letzten Wochen nicht mehr zu ersehen war, welchen Standpunkt die Bundesregierung in der Frage der atomaren Aufrüstung der Bundeswehr einnimmt. Der Bundeskanzler hat heute morgen in seiner Erklärung nach der Begründung unserer Großen Anfrage erneut erklärt, daß die Bundesregierung keine Atomwaffen in der Bundeswehr besitze und daß sie auch keine anfordert. Aber aus der Stellungnahme, die der Herr Bundesverteidigungsminister Strauß hier im Auftrag der Bundesregierung bekanntgegeben hat, geht eindeutig hervor, daß die Bundesregierung entschlossen ist, die Aufrüstung der Bundeswehr mit atomaren Waffen vorzunehmen,
daß sie auch entschlossen ist, gegen die Stationierung von atomaren Streitkräften oder von Atomwaffen oder Bomben auf dem Gebiet der Bundesrepublik Einspruch zu erheben.
Herr Kollege D r. Gerstenmaier hat diese Haltung der Regierung im Namen der CDU/CSU in noch breiterem Umfang sozusagen theoretisch
begründet; denn es war der eigentliche Kern seiner Rede, nachzuweisen, daß es in der Logik der Situation und in der Logik der Politik der Bundesregierung liegt, eine atomare Aufrüstung der Bundeswehr nicht abzulehnen und sich auch nicht gegen die Stationierung von atomaren Streitkräften auf dem Boden der Bundesrepublik zur Wehr zu setzen.
Ich will in dieser späten Stunde nicht auf die allgemeinen Ausführungen des Herrn Kollegen Dr. Gerstenmaier eingehen, sondern nur eines feststellen. Herr Dr. Gerstenmaier hat die politische Linie seiner Fraktion und der Regierung im Grunde auf der These aufgebaut: Es bleibt uns in der Bundesrepublik und im Westen unter den gegenwärtigen Umständen gar nichts anderes übrig, als den Weg der Aurüstung der Bundesrepublik im Rahmen der NATO bis zur letzten Konsequenz weiterzugehen, er hat gesagt, mit allen Mitteln. Er hat das damit begründet, daß sich in der internationalen Situation, vor allem in dem Verhalten der Sowjetunion oder in dem Verhältnis zwischen der Sowjetunion und dem Westen, vor allem auch den Vereinigten Staaten, keine Änderung ergeben habe. Im Gegenteil, gewisse Ereignisse im letzten Herbst, z. B. in Ungarn, seien eher als eine Verschärfung der Lage anzusehen.
Nun, meine Damen und Herren, ich akzeptiere, daß Herr Kollege Dr. Gerstenmaier den Versuch gemacht hat, sowohl der Position der Opposition gerecht zu werden als auch den eigenen Standpunkt sachlich zu begründen. Ich möchte aus diesem Grunde hier nur zwei Bemerkungen machen, weil es unmöglich ist, das Thema im Rahmen dieser Debatte weiter zu vertiefen.
Die Behauptung, es habe sich in der internationalen Situation nichts geändert, wir wären heute in derselben Lage wie vor etwa zwei Jahren, als wir im Prinzip über die Aufrüstung der Bundesrepublik beschlossen haben, ist mit der tatsächlichen gegenwärtigen internationalen Situation nicht in Übereinstimmung zu bringen. Warum, meine Damen und Herren — Sie haben davon gesprochen, man soll alle Tatsachen sehen —, wird in einem solchen Bild, wie es hier gezeichnet wurde, nicht auch die Tatsache in Rechnung gestellt, daß mindestens im Augenblick zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion die ernstesten Bemühungen im Gange sind, um gerade in der lebenswichtigen Frage der internationalen Abrüstung ein Stück voranzukommen?
Sie kennen die Erklärung der Sowjetregierung und Sie können Zweifel darüber haben, aber Sie kennen auf der anderen Seite die jüngste Erklärung des amerikanischen Präsidenten, der auf Grund der internsten Kenntnis der Dinge feststellt, daß man in London endlich eine aufgeschlossenere Atmosphäre gefunden habe. Nun, wenn wir schon über die internationale Lage sprechen, in der wir ein solches Lebensproblem behandeln, dann ist es auch notwendig, diese Anzeichen mit in das Bild hineinzubringen.
Wir haben in der vorigen Woche hier in Bonn die Tagung der Außenminister der NATO-Länder gehabt. Ich glaube, neben anderen Gründen, die dazu geführt haben, daß diese Konferenz sehr wenige konkrete Ergebnisse gezeigt hat, war ein Grund doch der, daß alle — ich hoffe, auch der Außenminister der Bundesrepublik — bestrebt waren, in dieser Lage keine Beschlüsse zu fassen, die einen möglichen positiven Ausgang der Londoner Verhandlungen über die Abrüstung erschweren.
Man kann das Bild noch ergänzen. Wollen Sie auf der anderen Seite im Ernst bestreiten, daß trotz der Ereignisse in Ungarn — in der Verurteilung der dort von der Sowjetregierung durchgeführten Gewaltmaßnahmen gibt es keine Meinungsverschiedenheit —, daß trotz dieser Ereignisse in Ungarn die Lage in Osteuropa auch vom Standpunkt der Sowjetunion nicht mehr dieselbe ist, wie sie noch vor einem Jahr gewesen ist?
Ich sage nicht, daß damit alle Probleme gelöst sind oder eine Verständigungsmöglichkeit in eine greifbare Nähe gerückt ist; aber ich sage: Wenn man hier als die Grundthese der politischen Entscheidung der CDU/CSU-Fraktion die Behauptung aufstellt, daß man zu dieser konsequenten Fortsetzung der Aufrüstung auch mit atomaren Waffen kommen müsse, weil die internationale Lage so verhärtet sei und weil es keine andere Aussicht gebe, dann ist das nicht in Übereinstimmung mit der tatsächlichen Situation.
Das nur als Feststellung, einfach deshalb, weil es unmöglich ist, hier Beschlüsse oder Behauptungen und Motivierungen zu akzeptieren, die auf solchen falschen Voraussetzungen basiert sind.
Herr Kollege Dr. Gerstenmaier hat davon gesprochen, es sei nicht möglich gewesen, mit der Sowjetunion erfolgreich über ein anderes Sicherheitssystem in Europa zu verhandeln; es sei die große Schwäche der sozialdemokratischen Konzeption auf diesem Gebiet, daß die darin enthaltenen Vorschläge nie eine wirkliche Resonanz auf der Seite der Sowjetregierung gefunden hätten. Meine Damen und Herren, Tatsache ist, daß weder die Bundesregierung noch die Westmächte einen Vorschlag in der Richtung unserer Vorstellungen jemals ernsthaft zum Gegenstand von Verhandlungen mit der Sowjetregierung gemacht haben.
Man kann sich hier nicht auf den Standpunkt stellen, es geht nicht, wenn man überhaupt nicht den Versuch unternommen hat.
Nun zu dem eigentlichen Problem — und darauf möchte ich mich hier beschränken —, das uns heute beschäftigt! Meine Damen und Herren, über die Frage, ob wir die Bundeswehr atomar ausrüsten sollen oder ob wir Atomwaffen und Atomausrüstungen auf deutschem Boden akzeptieren sollen, ist doch deshalb eine so tiefgehende Erregung und eine so leidenschaftliche Bewegung im Volke entstanden, weil es sich um mehr handelt als um eine neue technische Entwicklung in der Aufrüstung einer modernen Armee.
Es handelt sich zunächst einmal um das allgemein menschliche Problem, daß die dauernden Versuchsexplosionen mit Atom- und Wasserstoffbomben und die Ausdehnung dieser Rüstung nach der Meinung ernsthafter Wissenschaftler in der ganzen Welt eine Lage geschaffen haben, die die ernsteste Gefährdung für die Existenz und die Gesundheit der Menschen von heute und morgen bedeutet; und die Frage ist einfach — ganz unabhängig von unserem speziellen Problem —: Hat nicht jede Regierung, jede freie Regierung, und hat nicht
jedes frei gewählte Parlament die Pflicht, jetzt mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln darauf hinzuwirken, daß diese unheilvolle Entwicklung zum Stillstand kommt,
und zwar aus diesen allgemein menschlichen Gründen?