Rede von
Dr.
Eugen
Gerstenmaier
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich vor diesem vorsichtig besetzten Hause nach 21/2 Jahren zum erstenmal wieder von diesem Platz aus spreche, so möchte ich das nicht tun, ohne unumwunden zu sagen, daß ich es nur gegen schwere Bedenken tue. Auch wenn unsere Geschäftsordnung es in keiner Weise vorschreibt oder vorsieht, so glaube ich doch, daß es richtig ist, wenn der Präsident des Bundestages an den politischen Auseinandersetzungen jedenfalls hier im Hause mit denkbar großer Zurückhaltung teilnimmt. Solange das Haus aber darüber nicht anderweit bindende Beschlüsse gefaßt hat, ist es unzweifelhaft das unbestrittene Recht auch des Präsidenten, als Abgeordneter hier zu sprechen. Heute tue ich es deshalb, weil jedermann fühlt, daß die Sache, von der die Rede ist, ohne alle Übertreibung eine Schicksalsfrage unseres Volkes, nein, eine Schicksalsfrage unserer Welt und Zeit ist. Ich stimme darin mit den Rednern des Vormittags, sowohl mit dem Kollegen Erler wie mit dem Kollegen Schmid, vollständig überein. Für das Dümmste würde ich es halten, in dieser Auseinandersetzung, die wir heute hier zu führen haben, mit dem Versuch von Beschwichtigungen zu arbeiten. Das ist der Sache, um die es geht, in keiner Weise angemessen. Ich nehme aber an, meine Damen und Herren, Sie stimmen mit mir auch darin überein — und ich glaube, auch Sie, meine Herren von der Opposition —, daß uns natürlich auch gar nichts daran liegen kann, in den anderen Fehler zu verfallen
und in irgendeiner Weise einer Panikstimmung nachzugeben oder sie gar mit heraufzuführen.
Es ist wahr, was Professor Schmid gesagt hat: daß es sich hier um eine Frage von Sein und Nichtsein handelt. Ich nehme deshalb auch seinen Appell auf, den er an dieses Haus gerichtet hat: daß wir uns dessen bewußt sein müssen, wenn wir hier diskutieren, und daß uns das hinsichtlich des Niveaus, auf dem diese Auseinandersetzung geführt werden muß, verpflichtet. „Wann jemals sollte sich der Bundestag zum Sprecher nationaler Sorgen machen, wenn nicht jetzt?" hat neulich eine führende Wochenzeitschrift geschrieben. Sie hat recht; denn die Gefahren des Atomproblems haben ja in der Tat einen solchen Umfang, eine solche Vordringlichkeit und Mächtigkeit erlangt, daß sogar andere uns auf den Nägeln brennende Fragen der Gestaltung unseres Staates dahinter zurücktreten. Nur die, die wirklich keinen Sinn und kein Augenmaß für geschichtliche und politische Proportionen besitzen, haben noch nicht erfaßt, daß die Frage, wie die Atombomben in der Welt entschärft werden können und entschärft bleiben, wichtiger ist als die Frage, wer am 15. September 1957 der erste oder der zweite Sieger im Bereich der Bundesrepublik ist.
Natürlich wird diese Froge so eder so auch die
Wahlen und den Wahlkampf in Deutschland überschatten. Das ist nun nicht zu ändern, und wir haben nichts dagegen. Denn sie gehört nun einmal zu der Lebensfrage unseres Volkes, mit der wir uns befassen müssen, und wir haben nicht im Sinne, dem deutschen Volk in irgendeiner Weise die Wichtigkeit und die Bedeutung dieser Frage auszureden.
Aber dennoch, meine Damen und Herren, ich würde es für einen Gewinn halten — vielleicht falle ich damit in präsidentielle Pflichten zurück und spreche gar nicht so sehr für meine Fraktion, sondern in diesem Punkt nur für meine Person —, wenn man einsähe, daß sich diese Frage trotz allem nicht dazu eignet, ein Hauptschlager des Wahlkampfes zu werden.
Denn abgesehen von allem anderen, meine Damen und Herren, verhält es sich hier so ähnlich wie bei der Wiedervereinigung. Es kann nämlich kein Schatten eines Zweifels darüber bestehen, daß keine der in diesem Sommer erneut zum Kampf um die Macht für die nächsten vier Jahre antretenden Parteien im Bereich der Bundesrepublik einen neuen Krieg und auch gar noch einen Atomkrieg riskieren möchte. Ähnlich wie in der Wiedervereinigung ist nämlich auch hier das politische Ziel in diesem Hause, wie ich glaube, völlig klar. Es heißt für alle: Festigung des Friedens.
Sollen wir es nun darauf ankommen lassen, uns gegenseitig zu übertrumpfen in Beteuerungen der heißen Sorge vor der Atomdrohung? Meine Damen und Herren, mir schiene das ebenso geschmacklos wie überflüssig.
Ich glaube nicht, daß es darauf ankommt, daß wir uns in dem Grad der Sorge über die drohende Gefahr messen, sondern daß es darauf ankommt, daß wir in Wettbewerb treten, in einen echten, kollegialen, meinethalben auch kämpferischen Wettbewerb um die besseren Vorschläge, wie wir dieser Gefahr in der Situation, in der sich Deutschland befindet, zu begegnen vermögen. Wir stehen vor der ganz gewiß sehr schweren, aber ebenso gewiß nicht unlösbaren Aufgabe, unser Schifflein wie weiland Odysseus zwischen zwei Klippen hindurchzusteuern: der Szylla des Atomtodes — das ist keine Dramatisierung, meine Damen und Herren —, der Szylla des Atomtodes unseres Volkes, vielleicht der Menschheit auf der einen Seite, und der Charybdis der Versklavung durch den Bolschewismus auf der anderen Seite.
Es gilt ganz unzweifelhaft, beide Klippen im Auge zu behalten, und ich meine, daß kein Rezept ernst zu nehmen ist, das die eine Klippe umschifft, um an der anderen zu zerschellen. Die ganze Schrecklichkeit beider Klippen ist uns in der letzten Zeit erneut voll zum Bewußtsein gekommen: das Entsetzliche der atomaren Waffen — Erler und Carlo Schmid haben damit ja vollkommen recht gehabt — spätestens mit dem Appell Albert Schweitzers, das Entsetzliche der bolschewistischen Sklaverei an dem die Welt erschütternden und nach wie vor unvergessenen Beispiel Budapest.
Meine Damen und Herren, aus den Worten meines Vorredners von der Opposition haben Sie gehört, was die sozialdemokratische Fraktion vorschlägt. Sie verlangt den Verzicht — ich möchte es einmal genau sagen — auf eine etwaige atomare Bewaffnung der Bundeswehr.
— Ja, überhaupt, natürlich, aber da darüber noch nicht Beschluß gefaßt ist, sage ich also ganz genau, um Sie ja nicht zu mißdeuten, vorsorglich: Sie verlangen schon jetzt eine Verzichterklärung, daß auch für den Fall eines Falles eine solche atomare Bewaffnung der Bundeswehr unter allen Umständen unterbleibe. Habe ich Sie damit recht verstanden? — Ja! Aber Sie verlangen weiter eine Aufforderung an unsere Bundesgenossen, auf dem Boden der Bundesrepublik keine Atommunition zu lagern, und ich darf dann doch wohl hinzufügen: auch keine irgendwie mit Atomwaffen ausgestatteten Verbände fremder Nationen im Bereich der NATO hier zu stationieren; denn das gehört doch sicher dazu.
Es hat heute morgen ausgezeichnete Argumente für diese Forderungen gegeben. Ich möchte einmal ausdrücklich sagen — und ich hoffe, damit dem Hause einen gewissen Dienst zu tun —: Ich persönlich bin nicht überzeugt davon, daß die SPD diese ihre Argumente und diese ihre Forderungen nur aus der Stimmung bezieht. Es ist ganz klar, und wir machen uns ja gar kein Hehl daraus, daß ein tiefer Schock durch Deutschland und — ich nehme an — ein tiefer Schock durch die anderen europäischen Völker in dieser Sache geht. Ich sage ausdrücklich, daß wir der SPD nicht unterstellen, daß sie ihre Argumente, daß sie ihre Forderungen allein darauf einstellt. Ich glaube nicht, daß sie
ihre Argumente und ihre Forderungen allein aus der Stimmung bezogen hat; aber nehmen Sie mir nicht übel, wenn ich hinzufüge: Ich bin auch nicht der Meinung, daß sie ihre Argumente nur aus einer im übrigen von mir völlig unbezweifelten moralischen Grundüberzeugung bezogen hat. Zu beiden — Herr Kollege Schmid, ich glaube, Sie lassen das gelten — kommt nämlich hinzu, daß diese Forderungen, nämlich auf den Verzicht der atomaren Bewaffnung der Bundeswehr und auf den Verzicht der Stationierung von Atomwaffen durch Verbündete im Bereich der Bundesrepublik, eben auch und vor allem die heute aktuellen Einzelheiten des von der Opposition in diesem Hause seit Jahr und Tag vertretenen anderen politischmilitärischen Konzepts sind. Ich meine deshalb, daß es gerecht und billig ist, diese Forderungen nicht nur aus der Augenblicksstimmung und auch nicht nur aus der Tiefe politisch-moralischer Überlegungen her zu beurteilen. Man wird sie vielmehr im Bereich dieses politisch-militärischen Konzepts würdigen müssen.
Der Kollege Erler hat recht gehabt, als er sagte, daß die Abrüstung leichter wäre in Verbindung mit der Lösung der Deutschlandfrage. Sicher ist aber dieser Satz richtig, wenn er so heißt: daß die Abrüstung unendlich viel leichter wäre, wenn die Deutschlandfrage schon positiv gelöst wäre. Indessen, meine Damen und Herren, damit können wir im Augenblick leider nicht rechnen, und zwar völlig ohne unsere Schuld. Wir haben uns weiß Gott seit Jahr und Tag angestrengt, um in dieser Kombination die Weltspannungen zu erleichtern. Wir haben uns in diesem Hause unablässig angestrengt, darüber nachzudenken, welches der beste Weg ist, um zur Lösung der Deuschlandfrage im internationalen Rahmen zu kommen, und wir haben uns unablässig angestrengt, zur Abrüstung überhaupt zu kommen.
Nun, das politisch-militärische Konzept der Opposition in diesem Hause, das europäische Sicherheitssystem, das die SPD seit geraumer Zeit dem NATO-Bündnis der Bundesrepublik, das von uns vertreten wurde, als leitende Idee entgegenstellt, scheint mir doch der Rahmen zu sein, aus dem heraus diese konkreten Einzelheiten zur Situation gedacht und vorgetragen werden. Dieses Sicherheitssystem setzt voraus, daß sich die beiden Weltmächte, im Westen wie im Osten, zu einer Sicherheitsgarantie für ein wiederhergestelltes, neutrales und vermutlich auch bescheiden bewaffnetes Gesamtdeutschland bereit finden. Ich will heute nicht davon sprechen, meine Damen und Herren, worüber wir uns hier auch oft gestritten haben. Kollege Kiesinger ist im Augenblick nicht im Saal; ich möchte hier auch nicht in seine Rolle eintreten. Wir haben uns hier oft genug darüber gestritten, ob die Unterwerfung Deutschlands schon vor seiner Wiedervereinigung unter ein zwischen den Weltmächten ausgehandeltes, vorgegebenes Statut mit dem Recht zur Selbstbestimmung des deutschen Volkes vereinbar ist.
Da das, was ich jetzt sage, für mich persönlich und für uns alle von Wichtigkeit ist, habe ich es mir genau aufgeschrieben und werde es Ihnen auch genauso vortragen. Ich werde dann gleich noch einen Satz dazu sagen. Ich sage: Um des Friedens und um der Einheit willen müßte man sich damit als einer vorweggenommenen, unabwendbaren Auflage des Friedensvertrages nach meiner persönlichen Meinung unter Umständen abfinden.
Als ich diesen Satz formulierte, war ich mir gar nicht sicher, wie er in diesem Hause aufgenommen würde. Ich habe mich gestern noch mit dem Kollegen Schmid darüber unterhalten. Ich freue mich, daß er heute morgen dasselbe gesagt hat und daß er dabei zwar keinen stürmischen Applaus aus dem ganzen Hause bezogen hat, ich aber auch keine Widerrede — von keiner Seite — gehört habe. Das halte ich für einen sachlichen Fortschritt unserer Diskussion.
Aber leider wäre es mit einer solchen Bereitschaftserklärung des Deutschen Bundestages und der deutschen Bundesregierung noch nicht erreicht, selbst wenn eine solche Bereitschaftserklärung verbis expressis vorläge, formuliert und vertreten würde, was in der augenblicklichen internationalen Situation vielleicht nicht ganz problemlos wäre.
Aber entscheidend wäre und bliebe ja nicht eine solche deutsche Bereitschaft, sondern entscheidend wäre auch dann noch allein das verläßliche Einvernehmen der beiden führenden Weltmächte in Ost und West über die Gewährung einer automatisch wirksamen Sicherheitsgarantie an dieses so wiederhergestellte Deutschland. Daß eine solche Garantie eine weitgehende Einigung mindestens zwischen Amerika und Rußland auch in anderen Streitfragen zur Voraussetzung hätte, das, ,glaube ich, wird füglich auch die Opposition in diesem Hause nicht in Abrede stellen.
Ich glaube deshalb auch, daß es ganz konsequent ist, wenn die SPD von der Notwendigkeit einer allgemeinen Entspannung spricht, und daß es ganz konsequent ist, wenn sie immer wieder eine generelle Abrüstung auf beiden Seiten, in Ost und West, für unerläßlich erklärt. Aber, meine Damen und Herren, was hat sie denn damit nun spezifisch Oppositionelles gesagt? Nach meiner Überzeugung nichts, denn sie hat damit nichts anderes gesagt als das, was die Bundesregierung, als das, was die Koalitionsfraktionen, als das, was dieses Haus im ganzen seit Jahr und Tag mit Nachdruck und Leidenschaft vertreten.
Ich glaube auch nicht, daß wir es weiter so treiben sollten, daß wir unterstellen, daß die Regierung oder die sie tragende Mehrheit in diesem Hause offen oder insgeheim die Ermöglichung eines solchen europäischen Sicherheitssystems und die darin beschlossene Wiedervereinigung Deutschlands dadurch zu verhindern trachteten, daß sie nichts anderes im Sinne hätten, als eben auch ein vereinigtes Deutschland zum Nachteil Rußlands in die NATO einzubringen.
Meine Damen und Herren, ich habe in den letzten zweieinhalb Jahren, wenn ich von diesem Stuhl aus aufmerksam zuzuhören die Ehre hatte, manchmal darunter gelitten, daß ich meine Ansicht nicht selber in der Diskussion präzisieren durfte. Heute möchte ich das tun, indem ich sage: wir verletzen in keiner Weise eine Loyalitätspflicht gegenüber unseren heutigen Verbündeten, wenn wir uns korrekt auf den Standpunkt stellen, der in den Pariser Verträgen festgelegt ist, daß im Fall der Wiedervereinigung Deutschlands unsere weitere Zugehörigkeit zur NATO keineswegs selbstverständlich ist, sondern neu zur Diskussion steht. Damit gar kein Mißverständnis darüber besteht, füge ich hinzu, daß damit natürlich nicht mehr und nicht weniger gesagt ist als dies, daß im Falle der Wiedervereinigung Deutschlands auch ein grund-
sätzlich anderer Status unseres Verhältnisses zum Westen denkbar ist als der, der heute besteht. Aber ich glaube — ich nehme an, daß ich da nicht für meine Fraktion, sondern jedenfalls für die Mehrheit des Hauses im ganzen sprechen darf —, daß wir an dem Status, der heute besteht, mindestens so lange mit großer Entschiedenheit festzuhalten beabsichtigen, als ein für ganz Deutschland vertretbarer anderer Status von mindestens der gleichen Qualität hinsichtlich unseres Schutzes und unserer Freiheit nicht zu erlangen ist.
Ich lasse hier die Fragen auf der Seite, die sich beim Nachdenken über den Vorschlag der Opposition nahelegen müssen, z. B. die Frage, warum es eigentlich ein europäisches Sicherheitssystem sein muß. Herr Kollege Erler, das ist ein Punkt in der Kontroverse, über den wir noch sprechen können.
— Die Bundesregierung ist auch dafür. Aber ich frage Sie, die Sie die Sache hier zum ersten Mal in die Diskussion eingeführt haben, warum es denn eigentlich ein europäisches Sicherheitssystem sein muß, nachdem nämlich, wie mir scheint, die fundamentale Voraussetzung für das Zustandekommen dieses europäischen Sicherheitssystems eben nicht nur die Lösung der Deutschland-Frage ist, sondern auch die Beseitigung einer Reihe anderer teils mit der Deutschland-Frage zusammenhängender, teils aber auch davon ganz unabhängiger Konfliktherde in der Weltpolitik. Was nützt uns z. B. ein europäisches Sicherheitssystem, wenn die Welt an einer anderen Stelle — sagen wir mal: Naher Osten oder Ferner Osten — in Brandgesetzt wird und die beiden Garanten unserer Sicherheit sich gegeneinander in Marsch setzen. Glaubt jemand, daß wir uns dann auf der geschützten Insel „Europa" in Sicherheit wiegen könnten? Ich verstehe den Wunsch der SPD, Herr Kollege Erler, das Problemfeld in unserem nationalen Interesse möglichst einzugrenzen.
— Bitte sehr.