Rede von
Dr.
Adolf
Arndt
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine Fraktion hätte in wirtschaftspolitischer, sozialpolitischer und namentlich auch in finanzieller Hinsicht noch einiges zu dem Vertragswerk hier vorzubringen. Aber mit Rücksicht auf die sehr vorgeschrittene Zeit haben als Sprecher meiner Fraktionmeine Fraktionsfreunde Birkelbach und Ritzel ihre Wortmeldung zurückgezogen, ebenso wie das inzwischen ,auch von einigen Angehörigen anderer Fraktionen geschehen ist. Ich selber will mich nur noch kurz zu drei hochpolitischen Problemen äußern: Berlin, demokratisches Prinzip und Wiedervereinigung.
Erstens Berlin. Das Vertragswerk enthält vielerlei Sonderrechte, und es sind bei dem Vertrag und in dem Vertrag mancherlei Gebiete innerhalb und außerhalb Europas erwähnt worden, denen gewiß auch Bedeutung zukommt; aber der Name Berlin wird allenfalls in eine Protokollnotiz verwiesen. Das ist nach unserer Überzeugung unmöglich. Notwendig ist eine feierliche und verpflichtende Grundsatzerklärung, daß es zu den vornehmsten Aufgaben der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gehören muß, auch die wirtschaftliche und soziale Lage der deutschen Bundeshauptstadt Berlin zu erleichtern, ihren Aufbau zu fördern und ihre wirtschaftliche Stabilität zu sichern.
Der Herr Bundeskanzler wird und kann in Rom Gelegenheit haben, eine solche feierliche und verpflichtende Grundsatzerklärung aller Signatarmächte herbeizuführen. Dafür darf es noch nicht zu spät sein.
Zweitens das demokratisch-freiheitliche Prinzip. Es ist hier schon vieles Kritische — und mit Recht Kritisches — über die innere Struktur dieser Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gesagt worden. Der Herr Kollege Elbrächter hat in einem anderen Zusammenhang Herrn Professor Weber aus München zitiert und im Anschluß an Professor Weber gemeint, es liege hier juristisch ein Meisterwerk, aber wirtschaftlich eine Stümperei vor. Ich will mich über das Wirtschaftliche in diesem Augenblick nicht äußern. Aber zu dem Juristischen gehört doch nicht bloß das Formale, sondern auch der Geist des Rechts. Da muß ich sagen, es mag para-
graphenmäßig vielleicht als Klempnerei ein Meisterwerk sein, aber demokratisch ist das, was hier gemacht worden ist, eine Stümperei. Als der Herr Staatssekretär des Auswärtigen Amts in der Regierungserklärung auf die Organisation zu sprechen kam, hat er in bemerkenswerter Weise angefangen mit dem Ministerrat als dem ersten Organ und nicht, wie man das in einer Demokratie machen sollte, mit der Versammlung. Das hat allerdings auch einen inneren Grund; denn Herr Staatssekretär Hallstein hat hinzugefügt, die Versammlung stehe erst am Anfang ihres Entwicklungsstadiums. Herr Staatssekretär, warum? Warum haben Sie nicht Zeit genug gehabt, bei den Verhandlungen etwas mehr zu „entwickeln", als es hier geschehen ist? Uns befriedigt auch nicht, daß Sie in der Regierungserklärung gesagt haben, die Bundesregierung werde alle Bestrebungen unterstützen, der neuen Gemeinschaft ein voll aktionsfähiges und mit den nötigen Befugnissen . ausgestattetes Parlament zu beschaffen. Warum ist das in den Verhandlungen nicht geschehen?
Ich muß Ihnen aber eines entgegenhalten. Dieser Vertrag ist unbefristet. Wo also sollen derartige Bestrebungen ansetzen? Denn es gibt in diesem Vertrage, wie er bisher ausgehandelt ist, noch weniger Anhaltspunkte als im Montanunionsvertrag, der wenigstens die große und die kleine Revisionsklausel hat. Ich bin der Überzeugung, es sollte bei der Unterzeichnung in Rom auch noch möglich sein, entweder diesem Vertragswerk eine Entwicklungsklausel — will ich einmal sagen — anzufügen, die den Ansatzpunkt dafür bietet, daß alle Beteiligten bestrebt sein werden, dieses so unglückliche Instrument im Laufe der Zeit zu einer wirklich demokratisch-freiheitlichen Gemeinschaft zu machen. Aber zumindest sollte es möglich sein, daß das auch in feierlicher und verbindlicher Form erklärt wird. Denn man sollte sich doch vorstellen, daß es keinen der beteiligten Staaten gibt, ,der sich den demokratischen Grundsätzen widersetzen würde.
Diese mangelhafte Struktur des Vertrages und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ist um so bedauerlicher, als mein damaliger Fraktionsfreund Hermann Veit, der heute als Vertreter des Bundesrats hier anwesend ist, schon in der 183. Sitzung des Bundestages am 11. Januar 1952 alle diese Bedenken — damals gegen 'die Struktur des SchumanPlans — mit Recht vorgetragen hat. Aber die Bundesregierung hat es nicht berücksichtigt. Alles, was damals von Herrn Veit hierzu gesagt worden ist, gilt auch heute noch. Insbesondere unterstreiche ich, daß der Art. 24 des Grundgesetzes, der auf sozialdemokratisches Betreiben in das Grundgesetz hineingekommen ist und den wir durchaus bejahen, eine Homogenität der Struktur solcher übernationalen oder supranationalen Gebilde voraussetzt. Man kann nicht die Demokratie und die Freiheit verleugnen, wenn man sich auf die überstaatliche Ebene begibt.
Auch Herr Kollege Furler hat gesagt, er sei damit nicht zufrieden. Er hat den Ausspruch getan, es sei erforderlich, „die Kraft der parlamentarischen Idee zum Ansatz zu bringen". Herr Kollege Furler, ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie dieses so volltönende Wort erläutern könnten. Wo wollen Sie das zum Ansatz bringen, wenn Sie sich den Vertrag anschauen? Sie haben auch gesagt, die Kompetenzen der Versammlung müßten „laufend erweitert" werden. Wo ist der Ansatzpunkt dazu? Denn Sie als Präsident der Versammlung der Montanunion sollten am ehesten wissen, wieviel Schwierigkeiten
es bereits in jener Versammlung bisher gemacht hat, zu Kompetenzerweiterungen zu kommen. Ich kann also auch insoweit nur das unterstreichen, was — insbesondere von dem Herrn Kollegen Margulies — hier ausgeführt worden ist.
Ich möchte es noch um einen Punkt ergänzen. Herr Kollege Furler hat von dem Kontrollrecht der Versammlung gesprochen. Sie haben leider nicht hinzugefügt, daß dieses Kontrollrecht nur mit einer Zweidrittelmehrheit effektuiert werden kann.
— Ja, aber das Kontrollrecht muß doch irgendwie auch bewaffnet sein, in der Form, daß Konsequenzen gezogen werden, wenn man mit dem Bericht und der Tätigkeit der Kommission nicht zufrieden ist; und da kann es letzten Endes nur mit einer Zweidrittelmehrheit ausgeübt werden, was Sie nicht gesagt haben. Vor allem ist wichtig, darauf hinzuweisen: dieses Kontrollrecht kann gar nicht ausgeübt werden gegenüber den gesetzgeberischen Befugnissen des Ministerrats. Darauf aber kommt es entscheidend an. Denn was die kommende Europäische Wirtschaftsgemeinschaft von der Montanunion unterscheidet, ist, daß bei ihr das Gewicht der Versammlung noch geringer ist als bei der Montanunion, und zwar ,deshalb, weil hier der Ministerrat eine ungleich größere Bedeutung hat als die der Hohen Behörde der Montanunion entsprechende Europäische Kommission.
Die Versammlung ist kaum mehr als eine Berichtsannahmestelle, oder sie befindet sich in der Rolle des antiken Chores, der den Gang der Handlung nur mit hilflosen Gesängen begleitet hat. In dieser Hinsicht wird die kommende Gemeinschaft noch gar nicht europäisch sein. Ich greife hier ein Wort auf, das der Herr Bundesminister für Wirtschaft zu unser aller Freude endlich heute einmal gesagt hat — wir sagen es seit vielen Jahren —: Dadurch, daß man etwas europäisch nennt, ist es noch lange nicht europäisch!
Zum Begriff des Europäischen gehört das Freiheitliche, und das fehlt in diesem Entwurf.
Das ist tief bedenklich im Blick auf den Osten. Denn wenn wir etwas positiv dem Osten gegenüberstellen, so ist es doch die Freiheitlichkeit und die parlamentarische Selbstbestimmung unserer Völker, die wir gerade hier durch dieses bürokratisch entworfene Vertragswerk verkümmern lassen. Man sollte sich in den Kreisen der Bundesregierung nicht im unklaren sein, welche Schwächung das für die demokratische europäische Idee bedeutet. Auch hier dürfte es nach meiner Meinung noch nicht zu spät sein. Ich gebe mich nicht der Illusion hin, daß eine Bundesregierung, die so wenig Rücksicht auf das Parlament nimmt, um nicht zu sagen: die so wenig Achtung vor dem Bundestage hat, nun noch hier im letzten Augenblick das Ganze umstülpen kann. Wohl aber ist es, wie ich sagte, möglich, eine Entwicklungsklausel einzuführen, und wohl sollte es bei der Unterzeichnung des Vertragswerks in Rom nicht daran fehlen, daß man zum Ausdruck bringt, wie unzufrieden — ich hoffe: der ganze Deutsche Bundestag — mit dieser demokratisch-freiheitlich unzureichenden Struktur der Gemeinschaft man ist und daß von deutscher Seite darauf Gewicht gelegt wird, nun tatsächlich alsbald Hand anzulegen, um hier den demokratisch-freiheitlichen Erfordernissen Genüge zu tun.
Drittens die Frage der Wiedervereinigung. Herr Staatssekretär Hallstein hat gemeint, es sei keine Notwendigkeit, in dem Vertrage etwas über die Wiedervereinigung zu sagen oder die Handlungsfreiheit ganz Deutschlands vorzubehalten; es sei das nicht einmal ratsam, weil man sonst daraus falsche Rückschlüsse oder gar Zweifel ziehen könnte. Nun, meine Damen und Herren, frühere Versäumnisse sind keine Rechtfertigung dafür, dieselben Versäumnisse bis ins Unendliche zu wiederholen.
Es genügt uns auch nicht die Freundschaftslyrik, die Herr Staatssekretär Hallstein in diesem Zusammenhange angestimmt hat, daß man sich doch auf den guten Willen und die Kameradschaft der anderen Vertragspartner verlassen könne und verlassen müsse. Denn in der Politik geht es um Interessen und zählen nur die harten Tatsachen. Da reicht es nicht aus, daß der Botschafter Herr Ophüls in Brüssel hinter verschlossenen Türen die Erklärung abgegeben hat, die Bundesregierung gehe von der Erwägung aus, daß im Falle der Wiedervereinigung Deutschlands eine Überprüfung des Vertrages stattfinden müsse. Denn jene Erklärung ist in keiner Weise Bestandteil des Vertrages. Sie ist wohl nicht einmal protokolliert, und auch die Zustimmung der anderen Beteiligten ist nicht Gegenstand des Vertragswerkes geworden.
Wohl aber steht in den Akten das, was in der Assemblée Nationale in Paris der Staatssekretär Herr Faure am 16. Januar 195'7 zur Frage der Wiedervereinigung ausgeführt hat, und das, meine Damen und Herren, klingt anders und klingt so ernst, daß ich es doch für meine Pflicht halte, dem Hause im Wortlaut zu sagen, was Herr Staatssekretär Faure zur Frage der Wiedervereinigung in der Assemblée Nationale ausgeführt hat. Herr Faure hat angeknüpft an Fragen des Abgeordneten Pierre Andre über die Wiedervereinigung und dann gesagt:
Ich möchte diese Frage ganz offen behandeln. Dies ist ein klassisches Problem, und es stellt sich in der gleichen Form für alle mit der Bundesrepublik abgeschlossenen Abkommen, besonders für die Montanunion, für den Atlantikpakt und für die Pariser Verträge. Indessen gibt es einen wichtigen Unterschied zwischen den Hypothesen, die ich
— Herr Faure —
aufzeigen möchte. Wenn ein wiedervereinigtes Deutschland das Recht hätte zur freien Entscheidung über seinen Verbleib oder Austritt aus den verschiedenen Organisationen, so behielte doch beim Austritt Deutschlands aus dem Atlantikpakt, dem es nachträglich beitrat, der Pakt für die restlichen Mitglieder seine Gültigkeit.
Herr Faure macht also einen Unterschied zwischen Verträgen, die bei einem Ausscheiden Deutschlands noch ihre Gültigkeit für die übrigen Vertragspartner behielten, und Verträgen, bei denen das nicht der Fall ist. Denn er fährt fort:
Daher würde der Austritt Deutschlands aus
der Montanunion, der Westeuropäischen Union,
dem Gemeinsamen Markt oder Euratom diese Verträge hinfällig machen. M. Pierre André, die fünf anderen Vertragspartner wären keineswegs an die Verträge gebunden, da es sich um einen Gemeinsamen Markt der sechs und nicht der fünf handelt, den wir unterzeichnen werden.
Faure sagt hier also: Für .die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ist die Zugehörigkeit Deutschlands konstitutiv; ohne sie fällt der ganze Vertrag. Und dann kommt er zu folgenden merkwürdigen Sätzen:
Indessen hat die Bundesrepublik immer wieder feierlich versichert, daß sie das gesamte deutsche Volk gültig verpflichte. Die Regierung
— die französische Regierung, meint er —
versteht die legitimen Gründe dieser These. Sie
— die französische Regierung —
hat dessen ungeachtet zugegeben, daß auf der Berliner Konferenz von 1954, um Gespräche mit der Sowjetunion über das Problem der Wiedervereinigung Deutschlands nicht unmöglich zu machen, die Regierung eines wiedervereinigten Deutschland unter der Bedingung, daß sie aus freien Wahlen hervorgegangen ist, die Freiheit der Entscheidung haben könnte.
Nun kommt die Gegenüberstellung, indem Herr Faure sagt:
Diese beiden Auffassungen
— Verpflichtung ganz Deutschlands und Freiheit einer gesamtdeutschen Regierung —
stellen keinen Widerspruch dar, sondern bedeuten lediglich für den östlichen Teil Deutschlands die Zuerkennung der elementarsten demokratischen Rechte auf Teilnahme an der Bestimmung der Politik ihres Landes im Rahmen des allgemeinen Wahlrechts. Wir sind hier übrigens an den Punkt gelangt, wo Recht und Tatsachen sich begegnen.