Rede von
Prof. Dr.
Fritz
Hellwig
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Verzeihen Sie, Herr Dr. Deist, dann sind diese Zahlen nicht richtig; denn in dieser Veröffentlichung der Hohen Behörde steht etwa folgendes: In den Realverdiensten bei der Stahlindustrie sowie im Steinkohlenbergbau hat die Bundesrepublik in den letzten Jahren aufgeholt, und sie steht in den Realverdiensten im Steinkohlenbergbau jetzt an vierter Stelle. — Nicht an fünfter Stelle!
— Verzeihen Sie, Sie brauchen nicht zu lachen; denn es sind die kleineren Gebiete — Belgien, Niederlande und die Saar —, die noch vor der Bundesrepublik stehen.
— Bitte, dann kommt Deutschland, und Frankreich ist inzwischen überholt worden. Das gleiche gilt für die eisenschaffende Industrie, wo lediglich Belgien und Luxemburg vor Deutschland stehen. Die Schaubilder und das Zahlenmaterial sind in dieser Broschüre der Hohen Behörde enthalten.
Aber immerhin, Sie werden nicht bestreiten können, Herr Dr. Deist, daß nicht mehr behauptet werden kann, die deutsche Arbeitnehmerschaft sei von den ,günstigen Wirkungen der Zugehörigkeit der Bundesrepublik zur Montanunion ausgeschlossen gewesen. Ich bin fest überzeugt, daß die günstige Entwicklung der Einkommen, die gerade in der Montanwirtschaft bei uns die letzten Jahre kennzeichnet, nur auf die Stabilisierung der Entwicklung der deutschen Montanwirtschaft im Gemeinsamen Markt der Montanunion zurückzuführen ist.
Nun zum Herrn Kollegen Margulies! Er hat von der Montanunion und von den Sechs, die jetzt auch die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft begründen wollen, als von einem Klein-Europa gesprochen. Wiederum hat er der Befürchtung Ausdruck gegeben, daß dieser Zusammenschluß auf Kosten der anderen, die draußen bleiben — draußen bleiben müssen oder wollen —, geschehen werde.
Ich glaube, es ist nicht ganz richtig, wenn bei diesen Sechs nur von einem „Klein-Europa" gesprochen wird. Immerhin handelt es sich dabei auch in seiner wirtschaftlichen Bedeutung um den Kern des kontinentalen Europas. Im wesentlichen stehen folgende Gruppen draußen: Einmal Großbritannien zufolge seiner Empire-Orientierung, dann die skandinavischen Länder, die einen ganz bestimmten abgeschlossenen Lebens- und Wirtschaftsraum für sich darstellen, weiter Südeuropa mit den Ländern Griechenland und Türkei und schließlich Portugal und Spanien. Das Sonderproblem Österreich ist in dem Fall sicher zu beachten; aber gerade Österreich hat sich in den letzten Monaten auch wiederholt sehr positiv für die Zollunion, für den Gemeinsamen Markt ausgesprochen, und es wird, wenn nicht alle Zeichen trügen, doch zu einem Zusammenschluß mit dem Gemeinsamen Markt kommen.
Aber etwas zu der materiellen Frage, ob sich der Gemeinsame Markt dieser Sechs — und wir können vorläufig nur von der Montanunion ausgehen — wirklich zum Nachteil der dritten Länder Europas entwickelt habe. Der Gemeinsame Markt für Kohle und Stahl hat hinsichtlich des Austauschs der Mitgliedsländer und der anderen europäischen Länder mit dem Gemeinsamen Markt folgende bemerkenswerte Entwicklung gezeigt: Der innere Austausch in der Montanunion ist bei Eisen- und Stahlerzeugnissen um nicht weniger als 170 % gestiegen, bei Steinkohle rund Steinkohlenbriketts um nicht weniger als 42 %. Der innere Austausch ist also weit stärker angestiegen als die Produktion selbst, ein Zeichen dafür, daß die natürlichen Standortvorteile nach dem Abbau von Zoll- und Frachtdiskriminierungen und Wettbewerbsverfälschungen wieder zum Zug kommen.
Aber ist das etwa auf Kosten der draußen stehenden sogenannten dritten Länder geschehen? Dem muß folgendes entgegengehalten werden: Die Eisen- und Stahleinfuhr von dritten Ländern in dem Gemeinsamen Markt der Montanunion hat in dem gleichen Zeitraum um 91 % zugenommen und die Steinkohlenausfuhr der Montanunion nach dritten Ländern um 127 %. Zumindest ist die Wirtschaftsverflechtung der Montanunion mit den außenstehenden Ländern auf dem Gebiet des Austauschs von Kohle und Stahl weit intensiver geworden als innerhalb der Montanunion selbst, obgleich sieauch dort wesentlich stärker als die Produktion zugenommen hat.
Nun darf ich einige Bemerkungen zu den in der Diskussion aufgetauchten und noch offengebliebenen Fragen machen. Die erste Frage: Freihandelssystem oder Zollunion? Freihandelssystem im Sinne der Liberalisierung, Rückkehr auf den Stand von vor 1914 oder Zollunion mit allen Konsequenzen für eine zu entwickelnde gemeinsame Außenhandels-, Wirtschafts-, Finanz-, Sozial- und Währungspolitik? Ich glaube, wir sollten uns doch endlich von der Illusion freimachen — das möchte ich dem Herrn Kollegen Margulies sagen, der hier nochmals Herrn Professor Röpke zitiert hat —, daß wir die Probleme der europäischen Integration mit der Rückkehr zum goldenen Zeitalter von vor 1914 lösen könnten. Die Liberalisierung allein und die Rückkehr zum Goldstandard werden die Probleme nicht mehr lösen, die dadurch entstanden sind, daß der Staat von 1956/57 — wir mögen eswollen oder nicht — ganz entscheidend in die Verteilung des nationalen Arbeitsergebnisses, ,des Sozialprodukts, eingreift und daß dieser Anspruch, die Verteilung der Einkommen zu bestimmen, auch nicht mehr ohne weiteres herabgemindert werden kann. Aber weil der Einfluß des Staates diese Entwicklung genommen hat, sind doch auch die Beziehungen und der Austausch im Außenhandel und die Währungsbeziehungen in den Sog, in den Strudel staatlicher Manipulationen gezogen worden. Herr Kollege Deist hat sehr richtig gesagt, daß mit einfachen Handels- und Zahlungsbilanztechniken das Problem nicht mehr gelöst werden kann. Insofern folge ich ihm.
Aber daraus ergibt sich die Schlußfolgerung, daß, wenn wir zu einer politischen Gemeinschaft in Europa kommen wollen — und das heißt, daß der Staat dann bestimmte Souveränitätsrechte an diese Gemeinschaft abgibt —, zuvor eine Koordinierung, eine Anpassung gerade derjenigen Arbeitsweisen, Instrumente und Institutionen der Staaten stattfinden muß, die der Staat zur Ausübung der Verteilungsfunktion, die er in der modernen Volkswirtschaft hat, in der Wirtschaftspolitik, in der Finanzpolitik und auch in der Währunigs- und Außenhandelspolitik einsetzt. Daher fällt dieBeantwortung der Frage, ob allein eine Freihandelszone genügt oder ob eine Zollunion mit darumgelagerten Freihandelsverträgen im Sinne der politischen Gemeinschaft geschaffen werden soll, eigentlich eindeutig aus.
Ich darf hier aber auch erwähnen, daß gerade der Abschluß der Zollunion die entscheidende Voraussetzung dafür sein wird, daß weitere Länder bereit sein werden, sich mit einem Freihandelssystem dem Gemeinsamen Markt anzuschließen. Ohne daß der Kristallisationskern der Zollunion, eben jene Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, entsteht, wird es nicht zu einem europäischen Freihandelssystem irgendwelcher Art kommen. Daher glaube ich, daß das, was anzustreben ist, nicht die Gleichzeitigkeit der Bildung der Zollunion und der Abschluß von Freihandelsverträgen mit außenstehenden Ländern ist. Wir bekommen die anderen mit Freihandelsverträgen nur dann an den Kristallisationspunkt, wenn zuvor der Kristallisationskern als Zollunion klare Formen angenommen hat.
Nun einiges zu der Frage, inwieweit dieses Haus in den noch vor uns liegenden weiteren Phasen der Entstehung dieses Vertragswerks seine Meinung anbringen kann. Ich bin der festen Überzeugung,
daß dies in zwei Richtungen geschehen kann. Ich erinnere daran, daß der Vertrag selber zunächst nur ein großes Rahmenwerk ist und daß eine ganze Serie von weiteren, ihn ausgestaltenden Entscheidungen nachher kommen wird, und zwar sowohl in den dafür vorgesehenen Organen ,als auch bei den nationalen Mitgliedstaatenselbst. Auf beiden Wegen wird sich der deutsche Gesetzgeber auf diese Entwicklung einzustellen haben. Ich meine einmal, daß dieses Haus auf die Entwicklung, auf die Ausgestaltung, die nach der Ratifizierung des Vertrags in den vielen Einzelentscheidungen der Organe zu erwarten sein wird, mit bestimmten Richtlinien, mit einer bestimmten Meinungsbildung Einfluß nehmen kann, ganz abgesehen davon, daß dieses Haus auch in der parlamentarischen Körperschaft gebührend vertreten sein wird. Ich folge hier völlig den Wünschen, die von den Sprechern anderer Fraktionen vorgetragen worden sind, dahingehend, daß eine möglichst starke parlamentarische Autorität zur Entwicklung einer, ich möchte sagen, europäischen Gesetzgebung in der Gemeinschaft angestrebt werden sollte.
Es wird aber auch notwendig sein, die Konsequenzen des Gemeinsamen Marktes und dieses Vertragswerks für die eigenstaatliche Gesetzgebung der Bundesrepublik rechtzeitig zu prüfen und Anpassungen und Korrekturen so rechtzeitig, wie es irgend möglich ist, vorzunehmen. Ich erwähne etwa das Steuerrecht, ich erwähne den berühmten Steuerstreit hinsichtlich der umsatzsteuerlichen Behandlung der deutschen Erzeugung und der Erzeugung der anderen Länder, insbesondere Frankreichs. Durch eine rechtzeitige Reform des deutschen Umisatzsteuersystems sollte auch der Eingliederung des deutschen Steuersystems in diese europäische Gemeinschaft Rechnung getragen werden. Das gleiche gilt für das Problem der Finanzzölle; es ist in den Reden vorhin schon gelegentlichangesprochen worden.
Einiges zu den Grundsätzen des Vertragswerks und damit des Gemeinsamen Marktes. Ich unterscheide mich hier von dem Kollegen Dr. Deist. Ich bejahe eigentlich, daß die Bundesregierung so stark wie möglich, wenn auch noch nicht überall, dem Grundsatz zur Geltung hat verhelfen können, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft auf die Prinzipien des freien Wettbewerbs und ,der freien wirtschaftlichen Initiative — unter weitgehender Beschränkung staatlicher Eingriffe — zu gründen.
— Darin unterscheiden wir uns nicht? Das freut mich. Ich hatte den Eindruck, daß Sie mit Ihrer „aktiven Wirtschaftspolitik" etwas anderes meinten, zumal Sie gesagt haben — deshalb habe ich Sie gefragt, Herr Kollege Deist —, daß bei einer „aktiven Wirtschaftspolitik", wie Sie sie haben wollen, der Bundesregierung die Wirtschaftsentwicklung nicht au s den Händen geglitten wäre. Sie sind dann offenbar der Meinung, daß die wirtschaftliche Entwicklung in die Hände der Bundesregierung gehört. Darin unterscheiden wir uns ganz grundsätzlich. Die Wirtschaftsentwicklung gehört nicht in die Hände der Regierung, denn das ist eine gelenkte, eine geplante Wirtschaftsentwicklung, sondern sie gehört zunächst in die freie Initiative der Wirtschaftenden. — Sie wollen eine Frage stellen, Herr Dr. Deist?