Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Kalinke.
Frau Kalinke : Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Meine politischen Freunde von der Deutschen Partei sind der Meinung, daß diejenigen recht haben, die in der Öffentlichkeit fordern, im Deutschen Bundestag sollten jeweils ein halbes Jahr vor Wahlen möglichst keine sozialpolitischen Anträge mehr eingebracht werden. Ich glaube, daß gerade dieser Antrag und die Debatte darüber zeigen — da stimme ich mit den Ausführungen des Kollegen Horn absolut überein —, daß es ungut ist, Probleme von solchem Ausmaß, wie sie eine Reform der Krankenversicherung aufwirft, in den wenigen Sitzungen des Bundestages, die noch bleiben, behandeln zu wollen.
Über die finanzielle Größenordnung bei Beibehaltung der Berliner sogenannten Errungenschaften ist nicht nur im Blick auf heute, sondern auch im Gedanken an die Zukunft zu sprechen. Man muß sich dabei die Zusammenhänge vor Augen halten und an die Konsequenzen denken, die sich aus der Neugestaltung des Leistungsrechts auf allen anderen Gebieten ergeben. Darauf hat der Herr Arbeitsminister besonders hingewiesen.
Schließlich muß auch über die Frage der Koordinierung an den Nahtstellen hinsichtlich der Leistungsgestaltung in der Rentenversicherung, in der Unfallversicherung und in der Krankenversicherung nachgedacht werden. Sie kann erst dann richtig übersehen werden, wenn die Verwirklichung der neuen Bestimmungen des Rentengesetzes angelaufen sein wird und wenn man feststellen kann was sich aus dem Versuch der Rehabilitation und aus all den neuen Gedankengängen in der Praxis für die Versicherten ergeben wird. Insbesondere wird abzuwarten sein, welche finanziellen Belastungen nicht nur für die beitragzahlenden Versicherten, sondern auch für die beitragzahlenden Arbeitgeber und damit wiederum über die Preisgestaltung — weil der Sozialversicherungsbeitrag volkswirtschaftlich in die Preisgestaltung eingeht — für alle Konsumenten die Folge sein werden.
Ich bitte daher mit allem Ernst, nicht die Fehler zu wiederholen, die wir in der Vergangenheit gemacht haben, und bei dem großen Problem einer Krankenversicherungsreform alle Fragen so gründlich wie nur möglich zu prüfen, ehe wir soziale Versprechungen machen, die nachher nicht verwirklicht werden können.
Der Herr Bundesminister für Arbeit hat gesagt, das Verhältnis der Versicherungsträger zueinander werde uns mancherlei Kopfschmerzen machen. Ich stimme ihm voll zu. Aber auch die Auswirkungen der von ihm vorgelegten Gesetze — nicht nur der Rentenversicherungsreform, sondern auch des Unfallversicherungsgesetzes — machen uns heute schon die allergrößten Kopfschmerzen. Ich glaube, darin sind wir alle in diesem Hause einig.
Ich möchte also — ohne schon Gesagtes zu wiederholen — ganz besonderen Wert auf die endliche Gesamtschau über die Reformpläne legen. Es ist undenkbar, eine sogenannte kleine Krankenversicherungsreform vorwegzuziehen und damit die Weichen so zu stellen, daß die notwendige große Krankenversicherungsreform dann eines Tages unmöglich wird.
Lassen Sie mich zu den ganz am Rande angedeuteten Fernzielen neuer organisatorischer Gestaltungen noch ein Wort sagen. Es wäre sehr
falsch, wenn man Reform nur so verstünde: Es ist nun Jahrzehnte gut gegangen; es muß nun endlich alles anders gemacht werden! Das, was in unserer Krankenversicherung und in unserer Unfallversicherung gut gewesen ist, braucht nicht anders gemacht zu werden. Nur da, wo die absolut andere Gestaltung der Bedürfnisse, ,die Entwicklung der Krankheiten, andere Diagnosen und andere Erkenntnisse uns die Notwendigkeit aufzeigen, bei langanhaltenden Krankheiten nach anderen Grundsätzen zu verfahren, sollen wir sehr genau überlegen, wo wir mit der Reform einsetzen und wie weit die Leistungsgestaltung und das Suchen nach neuen Lösungen zu gehen hat.
Herr Kollege Schellenberg hat mit Recht darauf hingewiesen, ,daß einzelne Leistungen schon im Mutterschutzgesetz, in der Rehabilitation des Rentengesetzes, in den Familienhilfeleistungen geregelt sind. Gerade hier zeigt sich, wie notwendig eine genaue Überprüfung all dieser Bestimmungen ist. Wir werden in dieser Legislaturperiode sicher noch über die Reform der Kindergeldgesetze sprechen. Familienpolitik muß man auch im Zusammenhang sehen mit den Familienhilfeleistungen der Kranken- und der Rentenversicherung und mit all den gesetzlichen Bestimmungen, nach denen sich die Leistungen überschneiden. Aber auch mit der unterschiedlichen Form der zur Zeit bestehenden gesetzlichen Bestimmungen muß man sich auseinandersetzen! Wenn wir ein klares Bild über die Bedürfnisse, aber auch über die Möglichkeiten von morgen haben wollen, dürfen wir nicht wieder im Eilzugtempo Dinge vorwegziehen. Gerade Sie, Herr Kollege Schellenberg, haben doch mit mir vor diesem Tempo und seinen Gefahren so entschieden und, mir scheint, gerade in diesem Fall mit Recht gewarnt.
Meine politischen Freunde in der Deutschen Partei und mich erfaßt ein großes Unbehagen, wenn wir daran denken, daß die mittelständischen Betriebe — die Mehrzahl unserer Betriebe sind ja mittelständische und kleinere Betriebe — immer mehr belastet werden sollen. Man kann Sozialpolitik nicht nur vom Standort der organisierten Arbeitnehmer einerseits und des Großbetriebs andererseits sehen. Man muß bei der Gestaltung der Sozialpolitik an alle Gruppen denken.
Ich möchte hier nicht im einzelnen aufzählen: Rentenversicherungsbeiträge erhöht, Arbeitslosenversicherungsbeit rag erhöht, Versicherungspflichtgrenze ausgeweitet
und dadurch, Herr Schellenberg, um es ganz deutlich zu sagen, für die mittelständischen Betriebe erhöhter Arbeitslosenversicherungsbeitrag, weil neue Kreise hinzugekommen sind, für die Arbeitgeberanteile gezahlt werden müssen. Es kommen hinzu die Erhöhung der Beträge für die Lohnsummensteuer, auch die weiteren Kosten des Kindergeldgesetzes, das wir ja alle noch verbessern wollen. Es kommen hinzu das Problem der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle, dem Sie mit Recht so großes Gewicht geben, und die Reform der Unfallversicherung. Aber wir werden diese Gewichte doch auch prüfen müssen im Hinblick auf die finanzielle Belastung einmal der Beitragszahler, aber auch der Betriebe, die sie zu tragen haben. Wenn dazu noch eine wesentliche Erhöhung des Krankengeldes hinzukommt, ist die Finanzierung solcher Leistungen ohne entsprechende Beitragserhöhung nicht möglich!
Herr Minister Storch hat zwei Dinge erwähnt: die Preugo — ich glaube, es ist ein berechtigtes Anliegen der Ärzte, daß dieses Problem sehr ernsthaft geprüft und möglichst bald gelöst wird —und die Krankenhauspflegesätze. Wir haben in diesem Bundestag kein Krankenhausgesetz mehr machen können. Meine politischen Freunde und ich wünschen, daß das Problem unserer Krankenhäuser und der Finanzierung ihrer Bedürfnisse im nächsten Bundestag endlich so gelöst wird, daß die höhern Kosten der Krankenhäuser nicht nur zu Lasten der Sozialversicherten und der Ärzte und Krankenschwestern gedeckt werden. Aber der Pflegekostensatz ist nun mal ein Problem, das genauso auf Lösung drängt wie etwa die Erhöhung der Preugo-Richtsätze. Jede Erhöhung des Krankengeldes, jede Änderung der Leistungsgestaltung muß doch bezahlt werden.
Nun sagt Herr Schellenberg, sein Antrag koste ja nur 240 Millionen DM. Ich weiß wirklich nicht, woher er den Mut zu einer solchen Behauptung nimmt.
Einer der wichtigsten Punkte in Ihrem Antrag ist der Plan unseres Kollegen Preller, der durch Ihren Gesetzentwurf zum mindesten in Ansatzpunkten verwirklicht werden soll. Wenn die Krankenversicherung zur Verhütung schlimmer Folgen von Krankheiten in Zukunft nicht nur Badekuren und Heilmittel, sondern auch noch den Erholungsurlaub für Rekonvaleszenten bezahlen soll, wenn sie über den Begriff der Sanatoriumskur an Stelle der Krankenhausbehandlung hinaus weitere Leistungen im Rahmen der Gesunderhaltung und unbegrenzt gewähren soll, wenn die Rehabilitation dazu führen wird, daß halbe Kräfte immer wieder eine solche Erholung nötig haben, und diese Erholung von der Krankenversicherung finanziert werden soll, dann, meine Herren und Damen, werden sich Probleme ergeben, deren finanzielles Ausmaß denen, die solche Lösungen fordern, keineswegs klar oder gegenwärtig ist.
Heute ist für das Heilverfahren in der eingeengten und begrenzten Form von unseren Rentenversicherungsträgern eine halbe Milliarde zu bezahlen; und Sie wissen, wie viele Anträge abgelehnt werden müssen, unter welch einengenden Voraussetzungen es nur bewilligt werden kann. Niemand weiß, welche Auswirkungen die Rehabilitation in der Rentenversicherung auf die Beanspruchung der Krankenversicherung haben wird. Niemand weiß, wie diese Belastungen nicht nur auf Arbeitnehmer und Arbeitgeber, sondern auf alle Rentner, auf alle Hausfrauen, auf alle Konsumenten, besonders aber auf die kinderreichen Familien zurückschlagen werden.
Deshalb gestatten Sie mir, daß ich mit der Zustimmung zur Überweisung an den Ausschuß noch einmal warne. Meine Herren und Damen, lassen Sie uns nicht im leider beginnenden Fieber des Wahlkampfes weitere soziale Versprechungen machen, von denen wir nachher den Berlinern wie den Bundesrepublikanern sagen müßten: „Wir können sie leider nicht verwirklichen."
Vom Kollegen Horn ist auf die Vorberatungen im Beirat des Herrn Bundesministers für Arbeit hingewiesen worden. Ich glaube, es wird sehr interessant sein, die Meinungen der dort vertretenen und beratenden Geschäftsführer der gesetzlichen Krankenversicherungen sehr genau zu ken-
nen und zu prüfen. Aber sehr viel wichtiger wird es, glaube ich, sein, daß wir Politiker uns sehr ernsthaft im Gewissen und mit allen Kräften des Verstandes prüfen, ob wir tragbare Lasten und erwünschte soziale Verbesserungen in eine vernünftige Relation bringen können. Für uns ist der Gesamtsozialversicherungsbeitrag unlösbar verbunden auch mit der Steuerbelastung, unlösbar verbunden mit dem Problem des Nettolohnes und unlösbar verbunden mit der volkswirtschaftlichen Frage der Gestaltung unserer Preise. Ich fürchte, daß die gleichen Leute, die heute schreien: „Die Preise gehen hoch!", vergessen, daß sie mit solchen Anträgen dazu beitragen könnten, eine Lawine auszulösen, die über 'die Lohnbewegung, über die Rentenspirale zur Preisgestaltung das Unerfreulichste wäre, was wir gerade unseren kinderreichen Familien, unseren Hausfrauen, unseren Rentnern und all denen, denen Sie so gern etwas versprechen, bescheren könnten. Darum haben Sie bitte Verständnis dafür, daß wir im Ausschuß, dem wir diesen Antrag überweisen, mit aller Verantwortung und mit aller Sorgfalt prüfen, was wir im nächsten Bundestag zu erledigen haben werden: eine Reform der Krankenversicherung da, wo reformiert werden muß, eine Leistungsverbesserung da, wo sie nötig ist, aber soziale Versprechungen nur in dem Maße, wie sie auch eingehalten werden können.