Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Herr Minister hat auf einen Vorwurf geantwortet, daß er sich bereits seit 1952 mit diesen Fragen beschäftige. Herr Minister, Sie wissen, daß ich nicht Angestellter der KVAB bin, daß ich aber seit 1945, seit dem Zusammenbruch, einer der Männer in Berlin bin, die sich mit diesen
Fragen von der allgemeinpolitischen Seite her — und dies insbesondere als einer der damaligen Bezirksbürgermeister von der kommunalpolitischen Seite her — beschäftigt haben.
Gerade weil ich keiner der Angestellten bin, Frau Kalinke — das werfen Sie ja immer Herrn Schellenberg so freundlich vor —, darf ich eine Feststellung treffen. Damals, 1945, zu einer Zeit, als die Leiter aller Organisationen aus diesem Berlin geflüchtet waren, als nur eine Besatzungsmacht dieses Berlin beherrschte, wäre es sehr schön gewesen, wenn die wenigen, die damals den Mut hatten, in diesem Chaos wieder mit der Neuorganisation zu beginnen, etwas mehr Hilfe von denen bekommen hätten, die zehn Jahre später gute Ratschläge geben.
— Das ist leider überall das gleiche, Herr Kollege. Damals waren es wenige. Fünf, sechs oder sieben Jahre später wurden sie kritisiert.
Ich will Ihnen als Sozialdemokrat sagen: Was 1945 in der Stadt, die nach der Einnähme durch die Russen 14 Tage lang an allen Ecken und Enden brannte, auf sozialpolitischem Gebiet geleistet wurde, kann sich für alle Zukunft sehen lassen. Die Männer und Frauen, die damals den Mut hatten, überhaupt etwas an Leistungen zu organisieren, konnten nicht mit Innungskrankenkassen, mit Ortskrankenkassen und mit Betriebskrankenkassen anfangen. Sie mußten die wenigen Arbeitenden darum bitten und ersuchen, der großen Not durch eine sozialpolitische Organisation zu steuern; denn von draußen gab es nichts. Wir waren damals schon isoliert. Das wollte ich nur ganz allgemein feststellen.
Wir haben den Mut, zu dem zu stehen, was wir damals begonnen haben. Ich glaube, ohne diese Leistung hätte dieses Berlin im sozialpolitischen Raum nicht das schaffen können, was während der Jahre der Not erreicht worden ist.
Deswegen sage ich Herrn Schellenberg und allen denen, die den Mut hatten, gegen die Not anzukämpfen, unseren besonderen Dank.
Fünf Jahre später hatten wir die Bundesrepublik. Wir hatten dann dankenswerterweise die Hilfe aus dem Westen. Ich möchte auch hier als Sozialdemokrat feststellen, daß letzten Endes wir es waren, Frau Kalinke, die in stärkstem Maße dafür eingetreten sind, daß die freien Teile Deutschlands zusammengefaßt werden. Wir haben selbstverständlich unsere Bereitschaft erklärt, in den freien Teilen Deutschlands nach Möglichkeit auf allen Gebieten nach dem gleichen Rechtszustand zu streben. Aber es steht doch fest, daß damals in Berlin alle Parteien — alle Parteien! — der Auffassung waren, daß auf Grund der besonderen Verhältnisse auch besondere organisatorische Einrichtungen so lange belassen werden müßten, bis etwas anderes an ihre Stelle gesetzt werden könnte. Verehrte Frau Kalinke, es ist Ihnen eine Verwechslung nicht nur in bezug auf das Jahr, sondern auch in bezug auf die Regierung unterlaufen. Am 3. Februar 1955 hat die neu gewählte Regierung noch einmal ein Bekenntnis zur Anpassung unter der Voraussetzung der Anpassung der wirtschaftlichen Verhältnisse abgelegt. Das können Sie ununterbrochen in allen Regierungserklärungen finden.
Nun sind leider die Verhältnisse noch nicht so, wie wir alle es wahrscheinlich wünschten. Aus diesen und anderen Motiven hat dann auch der Bundesrat eine Empfehlung zu diesem Entwurf gegeben. Der Herr Kollege Schellenberg hat durch eine Zwischenfrage schon darauf aufmerksam gemacht. Auf Seite 11 der uns vorliegenden Drucksache heißt es:
Der Bundesrat empfiehlt der Bundesregierung, den Gesetzentwurf beim Bundestag erst einzubringen, wenn das Gesetz über die Gleichstellung aller Arbeitnehmer im Krankheitsfall ... verabschiedet ist.
Die Dümmsten werden wahrscheinlich von den Ländern auch nicht in den Bundesrat geschickt worden sein. Deshalb sollte man dieser Empfehlung doch Beachtung schenken, Herr Bundesminister Storch, mehr Beachtung, als Sie es durch Ihre Ausführungen hier zu erkennen gegeben haben.
Ich möchte an den Herrn Bundesarbeitsminister noch eine Frage richten. Er sprach von der Wucht der Forderungen der Berliner Bevölkerung auf Änderung des jetzigen Systems. Es wäre sehr interessant, wenn er mir einmal etwas Näheres über diese „Wucht der Forderungen" mitteilen könnte.
Ich darf Ihnen das eine sagen: ich bin froh darüber, daß die Belegschaftsmitglieder der größten
Betriebe erklärt haben, daß sie sich mit der Masse der Berliner Bevölkerung solidarisch fühlen und aus diesen Gründen Betriebskrankenkassen in Berlin ablehnen. Ich bin stolz darauf, daß beispielsweise die Vertreter des großen Betriebes BEWAG erst jetzt wieder eine Entschließung in diesem Sinne gefaßt haben. Sicher, wer an den Egoismus einzelner appelliert,
der muß, Herr Stingl, für Privatkassen, für Innungskrankenkassen und für Ortskrankenkassen eintreten. Wer aber die Not aller Berliner beseitigen oder lindern will, der muß wie bisher dafür eintreten, daß alle Kräfte in einer Institution zusammengefaßt werden und diese Zusammenfassung nicht nur erhalten, sondern verbessert wird. Das möchte ich nur ganz allgemein sagen, ohne hier auf Einzelheiten einzugehen.
Hätte ich davon gewußt, Herr Arbeitsminister — ich war wegen Krankheit einige Tage nicht hier —, hätte ich mich etwas vorbereitet. Ich hätte dann das mitgebracht — ich habe es schon im November 1950 bei der großen sozialpolitischen Debatte im Berliner Abgeordnetenhaus vorgetragen —, was der Gewerkschaftler Anton Storch beispielsweise 1946 in Hannover als Gewerkschaftsführer geschrieben hat. Es sind sehr beachtliche Ausführungen, die mit unseren Berliner Ansichten hundertprozentig übereinstimmen und die in ihrer Energie sehr bemerkenswert sind. Aber wir können es in der zweiten Lesung machen, falls Sie das vergessen haben sollten.
Wir haben von den Rednern gehört, insbesondere vom Herrn Kollegen Grantze, daß die Umstellung komplizierte Verhandlungen und viel Zeitaufwand verlangt. Das ist richtig. Die Rechtsangleichung an die Verhältnisse des Bundes bringt die Vertiefung der politischen Spaltung in Berlin. Sie wissen — ich greife einmal eine x-beliebige Straße heraus —: wenn auf der einen Seite der Bernauer Straße d a s Recht gilt und auf der anderen Seite das andere, führt das gerade in unserer Stadt Berlin zu besonderen Komplikationen. Herr Kollege Grantze, wir sind mit Ihnen der Auffassung, daß wir das sehr eingehend behandeln sollten, daß wir uns auch die politischen Auswirkungen sehr genau überdenken sollten. Darum schlage ich im Auftrag der sozialdemokratischen Fraktion vor, daß der Gesetzentwurf Drucksache 3127 auch dem Ausschuß für Gesamtdeutsche und Berliner Fragen zur Beratung überwiesen wird.