Rede von
Anton
Storch
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es gibt gewisse Grundfragen unseres staatlichen Lebens, bei deren Behandlung die politischen Gegensätze zwischen den Parteien weitgehend zurücktreten und zu denen der Deutsche Bundestag hier in voller Einmütigkeit Stellung nehmen sollte. Da ich heute über Berlin zu sprechen habe, darf ich daran erinnern, daß das Hohe Haus erst kürzlich die enge Verbundenheit mit Berlin bekräftigt und geschlossen seinen Willen bekundet hat, die Beziehungen zu Berlin so eng wie nur irgend möglich zu gestalten.
Diesem Ziel dient auch der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf, der heute von Ihnen in erster Lesung beraten werden soll. Er soll auf dem bedeutsamen Gebiet der Sozialversicherung, deren Probleme Sie, dieses Hohe Haus, im letzten Jahr so anhaltend beschäftigt haben und bis zum Ablauf der Legislaturperiode noch weiter beschäftigen werden, eine bereits 1952 eingeleitete Entwicklung abschließen, um die nach dem Kriege verlorengegangene Rechtseinheit in Berlin und im Bundesgebiet wiederherzustellen.
Nach dem Zusammenbruch haben sich die sozialpolitischen Verhältnisse in Berlin wesentlich anders entwickelt als bei uns in der Bundesrepublik. Die Besatzungsbehörde hat damals in Berlin alle Sozialversicherungsträger stillgelegt. Der Berliner Senat mußte am 14. Juli 1945 eine neue Ordnung für Berlin festlegen. Bei ihr hat man sich weitgehend von der seitherigen sozialpolitischen Entwicklung getrennt. Man hat dort nicht, wie das hier in der Bundesrepublik geschehen ist, wieder die Sozialversicherungsträger wirksam werden lassen, sondern man hat eine Einheitsversicherung gebildet und unter den damaligen Verhältnissen geglaubt, Krankenversicherung, Unfallversicherung und Rentenversicherung in einem Versicherungsträger zusammenfassen zu sollen. Diese Entwicklung hat dann zu großen finanzpolitischen Schwierigkeiten des Einheitsversicherungsträgers geführt. Es ist ein besonderes Verdienst des verstorbenen Regierenden Bürgermeisters Professor Reuter, daß er bereits im Jahre 1952 versucht hat, alle diese Dinge in eine Ordnung zu bringen, die weitgehend eine Lastengemeinschaft der Versicherungsträger mit der Bundesrepublik ermöglichte: es war einmal die Herausnahme der Unfallversicherung aus dem Versicherungsträger und zum anderen die Herausnahme der Rentenversicherungsträger, so daß heute nur noch auf dem Gebiet der Krankenversicherung in Berlin ein besonderes Recht besteht. Durch das jetzt vorliegende Gesetz soll auf die Versicherungsträger, die sich neu gebildet haben, das Recht der Selbstverwaltung, so wie wir es in der Bundesrepublik kennen und üben, ebenfalls angewandt werden. Darüber hinaus sieht der Gesetzentwurf vor, daß auch auf dem Gebiete der Krankenversicherung nicht mehr ein einheitlicher, einziger Versicherungsträger bestehen soll, sondern daß die Krankenversicherung ebenso gegliedert wird, wie es in der Bundesrepublik nach altem Vorbild üblich ist.
Zu den Einzelheiten des vorliegenden Gesetzentwurfs möchte ich folgendes sagen. Der Erste Abschnitt behandelt die Einführung der Selbstverwaltung. Vorgesehen ist, den Geltungsbereich des Selbstverwaltungsgesetzes mit geringfügigen Abweichungen auf Berlin zu erstrecken. Die Notwendigkeit dieser Maßnahme dürfte außer Frage stehen. Die Abweichungen berücksichtigen die besonderen Verhältnisse in Berlin. Was die erste Wahl zu den Selbstverwaltungsorganen in Berlin anlangt, bin ich der Ansicht, daß sich die Meinungsverschiedenheiten, die zwischen dem Bundesrat und der Bundesregierung bestehen, weithin ausgleichen lassen, wenn der Termin des Inkrafttretens dieses Gesetzes feststeht.
Der zweite Abschnitt des Gesetzentwurfs behandelt ,die Rechtsangleichung auf dem Gebiet der Krankenversicherung. Die Vorschriften des Ersten und Zweiten Buchs der Reichsversicherungsordnung sollen in Zukunft auch in Berlin wieder gelten. Der Entwurf trägt jedoch der bisherigen, in verschiedenen Beziehungen abweichenden Regelung des Leistungsrechts in Berlin Rechnung und vermeidet grundsätzlich, daß sich die Lage der Versicherten in Berlin irgendwie verschlechtert. Die höhere Versicherungspflichtgrenze, die in Berlin bei einem Jahresarbeitsverdienst von 9000 DM liegt, bleibt bestehen. Auch an den Vorschriften über die Versicherungsberechtigung und die freiwillige Weiterversicherung soll nichts geändert werden.
1 Die Wiedereinführung der gegliederten Krankenversicherung macht umfassende Organisationsänderungen erforderlich. Die Vorschriften darüber sind in dem Dritten Abschnitt des Gesetzentwurfs enthalten, der außerdem das Schicksal der Versicherungsträger regelt, die ihre Tätigkeit wieder aufnehmen, und den zukünftig tätigen Versicherungsträgern die Erfüllung ihrer Aufgaben ermöglicht. Die Krankenversicherungsanstalt Berlin wird Ortskrankenkasse mit der Bezeichnung „Allgemeine Ortskrankenkasse Berlin". Die nach dem 8. Mai 1945 stillgelegten Betriebs- und Innungskrankenkassen können ihre Tätigkeit unter bestimmten Voraussetzungen wieder aufnehmen. Daß auch die Ersatzkassen in Berlin wieder tätig werden können, ist im Gesetz nicht ausdrücklich gesagt, folgt aber daraus, daß das Zweite Ruch der Reichsversicherungsordnung in Berlin wieder gelten soll. Betriebs- und Innungskrankenkassen, die ihre Tätigkeit nicht wieder aufnehmen, werden aufgelöst. Auf die Allgemeine Ortskrankenkasse Berlin gehen das Vermögen und ,die Verpflichtungen des Verbandes Berliner Ortskrankenkassen sowie aller Krankenkassen über, die nach den Vorschriften des Gesetzes aufgelöst werden. Eine Auseinandersetzung zwischen ihr und den Versicherungsträgern, die ihre Tätigkeit wieder aufnehmen, findet nicht statt. Da davon ausgegangen werden kann, daß sich die Verbindlichkeiten und die Vermögen etwa entsprechen, erschien es nicht notwendig, eine Auseinandersetzung vorzusehen, die verwaltungstechnisch erhebliche Schwierigkeiten bereiten würde.
Durch die Garantieklausel des § 16 wird die Leistungsfähigkeit der Allgemeinen Ortskrankenkasse Berlin sichergestellt. Sollten sich in der Übergangszeit wider Erwarten gewisse finanzielle Schwierigkeiten ergeben, wird das Land Berlin Zuschußbeträge zur Verfügung stellen, die es der Ortskrankenkasse ermöglichen werden, den bisherigen Leistungsstand beizubehalten, ohne die Beitragssätze zu erhöhen. Ein Anlaß, die Garantie-. frist länger als bis zum 31. März 1958 zu erstrekken, wie es der Bundesrat vorgeschlagen hat, besteht nach der Auffassung der Bundesregierung nicht. Es kann erwartet werden, daß die Übergangsschwierigkeiten bis zu dem genannten Zeitpunkt überwunden sind.
Die Betriebs- und Innungskrankenkassen sowie die Ersatzkassen, die ihre Tätigkeit wieder aufnehmen, erhalten damit zugleich das Recht der Verfügung über ihre Berliner Vermögen zurück, die bisher treuhänderisch vom Bund und vom Land Berlin verwaltet worden sind. Voraussetzung dafür, daß eine nach dem 8. Mai 1945 stillgelegte Betriebs- oder Innungskrankenkasse ihre Tätigkeit in Berlin wieder aufnimmt, ist, daß dies die Mehrheit der für die stillgelegte Krankenkasse in Betracht kommenden abstimmungsberechtigten Arbeitgeber und ,die Mehrheit der in Betracht kommenden abstimmenden volljährigen Arbeitnehmer innerhalb bestimmter Frist bei der für die Sozialversicherung zuständigen obersten Verwaltungsbehörde des Landes Berlin beantragt. Diese muß außerdem feststellen, daß die finanzielle Leistungsfähigkeit der Krankenkasse hinreichend gesichert ist. Diese Regelung dürfte den Belangen aller Beteiligten gerecht werden.
Die Tatsache, daß die Betriebs- und Innungskrankenkassen sowie die Ersatzkassen ihre Tätigkeit in Berlin wieder laufnehmen können, bedingt auch eine Regelung, die die Belange der freiwillig
Weiterversicherten angemessen wahrt. Der Entwurf sieht vor, daß diese Weiterversicherten berechtigt sein sollen, der Krankenkasse, der sie früher angehört haben, innerhalb von sechs Monaten nach dem Zeitpunkt wieder beizutreten, in dem die Krankenkasse ihre Tätigkeit wieder aufgenommen hat. Außer den Weiterversicherten können auch Rentner auf Antrag wieder Mitglied bei ihrer früheren Kasse werden. Entsprechend dem Änderungsvorschlag des Bundesrates soll für sie eine Antragsfrist von fünf Monaten eröffnet werden.
Eine besondere Schutzvorschrift sieht der Entwurf zugunsten der Arbeitnehmer der Allgemeinen Ortskrankenkasse Berlin vor. Innungskrankenkassen mit Sitz im Land Berlin und Ersatzkassen, die Versicherte von der Allgemeinen Ortskrankenkasse Berlin übernehmen, haben nach bestimmten Grundsätzen freiwerdende Arbeitnehmer der Allgemeinen Ortskrankenkasse Berlin zu übernehmen. Wir wollen damit erreichen, daß sich bei der Neugestaltung nicht soziale Schwierigkeiten für die heute bei der Kasse in Berlin beschäftigten Menschen ergeben.
Abschließend möchte ich den Wunsch aussprechen, daß der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf trotz der arbeitsmäßigen Belastung und Überlastung des Deutschen Bundestags möglichst rasch verabschiedet wird. damit auch auf dem Gebiet der Sozialversicherung die Rechtseinheit für Berlin und das Bundesgebiet wiederhergestellt wird, ehe wir zu der Wahl des neuen Bundestages kommen.