„Sie brauchen zur Musterung nicht zu erscheinen, Sie sind freigestellt, geben Sie nichts auf andere Verfügungen, falls Sie sie noch erhalten", das ist doch gar kein Beispiel für diese Vorschrift des Einwirkens, weil auf das Versenden solcher Papiere heute schon Zuchthausstrafe bis zu 15 Jahren steht, eine Strafe, die unendlich viel höher ist als die hier des Entwurfs. Denn es handelt sich einwandfrei um das fälschliche Anfertigen einer Urkunde, weil ja der Irrtum erweckt wird, ein anderer habe diese Urkunde ausgestellt. Und daß solche unrichtigen Wehrbescheide ebenso zum Beweise von Recht und Rechts-
verhältnissen erheblich sind wie eine Speisekarte im Lokal, bei der es die Rechtsprechung annimmt, das, glaube ich, wird man auch nicht bestreiten können.
Die freiheitliche und soziale Rechtsstaatlichkeit erschöpft sich nicht darin, daß ein Gesetz formal auf demokratisch-parlamentarische Weise zustande kommt, sondern man wird der freiheitlichen Grundstruktur in ihrer Substanz nur gerecht, wenn man sich der inneren Begrenztheit ganz besonders des Strafrechts als des letzten und des äußersten Machtmittels bewußt wird und sich der Unteilbarkeit von Sicherheit, Freiheitlichkeit und Gerechtigkeit der Gesetze wieder erinnert. Will man der in jeder Ausweitung des Strafrechts, namentlich des in engerem Sinne politischen Strafrechts lauernden Gefahr einer Pönalisierung des öffentlichen Lebens begegnen, dann muß man im Strafrecht maßhalten und wachsam einsehen, daß das Strafrecht kein Allheilmittel ist, sondern eine Überdosis vergiftend, ja tödlich wirkt und gerade die Grundwerte einer Rechtskultur, wie z. B. die pflichtmäßige Bereitschaft zur Gesetzestreue oder, was dasselbe ist in mancher Hinsicht, das Staatsbewußtsein und der Gemeinsinn, aber auch die Menschenwürde und, ihr zugehörig, der Glaube — darauf komme ich noch —, keinesfalls ein Gegenstand unmittelbaren Strafschutzes sein können.
Dies ist der entscheidende Einwand auch gegen den Versuch des sicherlich gutgemeinten Entwurfs für ein Fünftes Strafrechtsänderungsgesetz, eine durch Abstammung, Herkunft oder Glauben bestimmte Volksgruppe strafrechtlich unmittelbar zu sichern. Auch hier wiederum ist ,es kein Zufall — das ist symptomatisch; ich habe es gar nicht gewußt —, daß man, wie Herr Kollege Bucher uns heute sagen konnte, 1936 ,aus den totalitären Vorstellungen heraus an eine solche Strafvorschrift gedacht hat. Es ist schlimm genug — ich will damit niemanden kränken, auch Sie nicht, Frau Kollegin Schwarzhaupt —, wie tief die totalitäre Zerstörrung des Rechtsgedankens und Rechtsbewußtseins allen, ob bewußt oder unbewußt, noch in den Knochen steckt und wieviel Grund wir haben zum Aufpassen.
Denn die Grundwerte menschlicher Gesittung sind einer Regelung von Staats wegen entrückt und können wesensgemäß allein als Motiv, als Rechtfertigung, als Legitimitätsgrundlage für ein punktuelles Eingreifen in das äußere Zusammenleben zur Geltung kommen. So hat der § 166 des Strafgesetzbuchs, der die Gotteslästerung mit Strafe bedroht, weise weder Gott selber noch auch nur das religiöse Empfinden direkt als ein Gut angesehen, vor das sich der Staat unmittelbar mit dem Schwert seiner Strafgewalt stellen dürfte. Man hat sich nicht durch den Befehl übernommen, bestraft werde, wer Gott lästere, etwa indem er Gottes Existenz leugne, oder bestraft werde, wer das religiöse Empfinden verletze oder untergrabe, sondern um dieser jenseits staatlicher Macht wirkenden Grundwerte wie der Gottesverehrung willen hat man im einzelnen bestimmte äußere und beweisbare Verhaltensweisen für das menschliche Zusammenleben strafrechtlich umfriedet.
Aus derselben Einsicht in die Aufgabe staatlichen Strafrechts und in seine innere Begrenzung geht es nicht an, die Abstammung, die Herkunft oder den Glauben gewisser Bevölkerungsgruppen
direkt mit der Waffe des Strafrechts zu rüsten, abgesehen davon übrigens, daß solche Privilegien auch mit dem Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz meines Erachtens nicht vereinbar wären. Es ist kein Zufall, daß sich die Fragwürdigkeit eines derartigen Versuchs schon darin zeigt, daß sich der Entwurf im Ausdruck vergreift, weil Redewendungen wie „hetzen" und „Volksverhetzung" als Gesetzesbegriffe sich nur in das unbestimmte und daher parteilich willkürliche Strafunrecht einer totalitären Macht einfügen lassen.
Da ist „Boykotthetze", „subversive Tendenzen" oder ähnliches einstrafrechtlicher Begriff. Bei uns ist das rechtsstaatlich nicht möglich.
Wenn das Bedürfnis besteht — es kann sein; das werden wir prüfen müssen —, ganz bestimmte antisemitische Ausschreitungen oder ganz bestimmte Verherrlichungen der nationalsozialistischen kriminellen Verbrechen strafrechtlich abzuwehren, so werden wir solche Vorschriften, wenn auch nicht ohne Schwierigkeit, 'anders zu gestalten versuchen müssen. Das mag vorbehalten bleiben. Mir ist auch vor einem solchen Unterfangen recht bange. Aber dieser Versuch hier, bei dem ich durchaus annehme, daß er aus gutgemeinten Motiven kommt, zeigt ein erstaunliches Unverständnis für die Möglichkeiten eines rechtsstaatlichen Strafrechts.
Erhebt man es zum Tatbestandsmerkmal, daß der durch Strafgesetz gegen Schmähungen gesicherte Widerstand ,aus Überzeugung geleistet sein muß, was ist dann, meine Damen und Herren, die praktische Folge? Die praktische Folge ist doch die, daß auf Grund einer solchen Strafvorschrift vor Gericht nicht der Angeklagte, sondern zunächst der Tote sich zu rechtfertigen hat, von dem man erst einmal den Nachweis verlangt, daß er überhaupt eine Überzeugung besaß, weil diese doch zum Tatbestand gehört. Dann bekommen Sie vor Gericht diese ganze widerwärtige Erörterung darüber, ob der oder jener, der zu den gefallenen Widerstandsmännern gehört, wirklich eine Überzeugung hatte. Aber auch wenn diese peinliche Gehirnwäsche vorbei ist, ob der Gefallene überhaupt eine Überzeugung besaß, und wenn man diese Überzeugung festgestellt hat — und nun kommt ein Weiteres —, dann wird auch dem, der geschimpft hat und der deswegen angeklagt ist, nachzuweisen sein, daß er diese Überzeugung des Widerstandskämpfers kannte; denn sie ist nicht etwa nur Strafbarkeitsbedingung objektiver Art; sie ist nach dem Entwurf Tatbestandsmerkmal. Der Täter muß also gewußt haben, daß der gefallene Widerstandskämpfer aus Überzeugung Widerstand geleistet hat. Dieser Tatbestand ist also — entschuldigen Sie! — wirklich so ahnungslos aufgebaut, daß gerade der unbelehrbare Hasser, der nicht einmal einsieht, daß der andere, den er beschimpft hat, eine Überzeugung besaß, nicht bestraft werden kann, weil ihm der Vorsatz gefehlt hat, einen aus Überzeugung gefallenen Widerstandskämpfer zu schmähen.
Ja, meine Damen und Herren, so kann man keine Strafgesetze machen. Das ist völlig unmöglich, weil ,alles, was man hier angestrebt hat, jenseits des strafrechtlich Greifbaren überhaupt liegt. Sollte man sich aber entschließen, in einer vielleicht — ich weiß es nicht — möglichen Weise einen stärkeren Ehrenschutz für die Verfolgten des Nationalsozialismus zu gewähren, warum in aller Welt beschränkt man dann den Schutz auf die
Widerstandskämpfer, schließt aber alle die davon aus, die nichts als Schlachtopfer waren? Ich denke z. B. — um stellvertretend für Tausende und Abertausende einen Namen zu nennen — an dieses armselige kleine Judenmädchen Anne Frank aus Amsterdam, deren Schicksal für ums alle eine so unauslöschliche, aber auch so unvergleichliche Schande ist. Was geschieht mit demjenigen, der die Anne Frank beschimpft, die nichts ist als Schlachtopfer in reinster Form? Ich sage das nicht deshalb, weil ich nun noch eine Ausweitung dieser Strafvorschriften haben möchte, sondern ich sage es, um die Grenzen zu ziehen, auch die Grenzen der Gleichheit vor dem Gesetz. Wenn ich den einen das Privileg gebe, ihre Ehre besonders zu schützen, warum dann nicht all den Tausenden und Abertausenden der Opfer? Kann man ,denn dann daran noch vorbeigehen? Aber ist es nicht letzten Endes ein für uns selbst erniedrigendes Mittel, wenn wir das nötig hätten? Denn es wäre doch wesentlich besser, wenn es uns gelänge, auf andere Weise, in positiver Weise, den Sinn für Recht und Unrecht wiederzuerwecken
und die Scham wachzurufen, an der .es manchmal oder leider allzu oft fehlt.
Aber ein für allemal unmöglich bleibt es, die Toleranz intolerant durch das Strafgesetz zu erzwingen, wie es hier geschehen soll. Damit komme ich zu dem heikelsten Kapitel meiner Ausführungen. Ich brauche nicht zu sagen, wie verwerflich die Intoleranz ist, die sich darin zeigt, daß man Menschen um ihres Glaubens, um ihrer Abweichung im Glauben oder auch um ihrer Skepsis gegenüber dem Glauben willen abwertet. Ich behaupte auch nicht, daß wir gegenwärtig in Westdeutschland nicht unter Intoleranz zu leiden hätten. Zuweilen könnte man sich fürchten, daß wir in einem Brutofen für d'e Aufzucht von Intoleranzbakterien leben. Aber unter allen Mitteln, der Intoleranz zu begegnen und die hohe geistige Leistung der Toleranz zu fördern, ist das Strafrecht nicht nur ein schlechtes, sondern das schlechthin mörderische Mittel. Mit strafrechtlichen Mitteln kann man den religiösen und konfessionellen Frieden nicht erringen, sondern allenfalls in die Luft sprengen.
Ich will gar nicht davon sprechen, daß bei den Mißbräuchen, die ein solches Gesetz geradezu herausfordern oder heraufbeschwören müßte, Voltaire wind Nietzsche aus dem Gefängnis überhaupt nicht mehr herausgekommen wären.
Auch die Glaubensstreiter untereinander würden in ,die Versuchung geraten, nach dieser Waffe des Strafrechts zu greifen; denn )es gehört zum Glaubensstreiter und zum Glaubenseiferer, daß er um seines Gewissens willen auch Worte sagen muß, die einen anderen verletzen können. Wie würde man Martin Luther damit zuleibe gehen können oder auf der anderen Seite Cochläus, oder einerseits Kirkegaard und im Gegenlager wieder Heinrich Denifle oder Georg Moebus oder Janssen? Ein Eiferer, der dieses Schwert in die Hand bekommt — ich sehe den Tag, an dem in unserer Gegenwart ein solcher Eiferer wieder Martin Niemöller hinter Schloß und Riegel bringt. Ein solches 'unbesonnenes Gesetz beschert uns jenen Frieden, von dem in Schillers „Don Carlos" Herzog Alba unter Gewehrsalven und Geschützdonner sagt, daß er gehe, Madrid den Freden zu bringen: die Grabesstille des Friedhofs. Ich warne Sie vor einem solchen Gesetz.
Bei diesen Erwägungen geht es nicht um Silben, Punkte oder Kommata, sondern um die grundsätzliche Erkenntnis der Grenzen rechtsstaatlichen Strafrechts, die sowohl im Vierten wie im Fünften Strafrechtsänderungsgesetz auf der ganzen Linie überschritten sind.
Ich schließe deshalb mit einem Wort des schweizerischen Theologen Emil Brunner aus seinem Werke über die Gerechtigkeit: „Die Grenzen aber sind nicht nur in der Politik und im Kriege, sondern auch in der Geschichte des Geistes die Orte, wo die wichtigsten Entscheidungen fallen."