Nein; erst am Schluß meiner Darstellung.
Ein anderer Teil bemängelte insbesondere das Nichtvorliegen der psychologischen Voraussetzungen für die Verabschiedung eines Wehrpflichtgesetzes zu diesem Zeitpunkt. Wir erinnerten in unseren Darlegungen an die auch heute noch nicht abschließend gelöste Frage der Kriegsverurteilten. Immer noch stehen etwa 50 ehemalige Soldaten der deutschen Wehrmacht vor der bitteren Tatsache, das zwölfte Weihnachtsfest nach dem Zusammenbruch in alliierten Gefängnissen verleben zu müssen. Wir dachten auch an die ideelle und materielle Wiedergutmachung am alten Soldatentum und zitierten damals die leider bis jetzt noch nicht vorliegenden Gesetze, insbesondere die 2. Novelle zu dem Gesetz nach Art. 131.
Auch politische Bedenken waren ein Grund dafür, daß kein Mitglied unserer Fraktion — Herr Kollege Jaeger, ich weiß, welche Frage Sie stellen wollten — in der Lage war, dem Wehrpflichtgesetz zuzustimmen, sondern daß ein Teil sich der Stimme enthielt und ein anderer Teil mit Nein stimmte; aber nicht ein einziger Abgeordneter hat am 7. Juli zu dem Wehrpflichtgesetz ja gesagt. Leider haben auch die politischen Bedenken die Mehrheit dieses Hauses nicht beeindrucken können. Die politischen Bedenken ergaben sich aus der Zweiteilung unseres Vaterlandes. Wir haben den Antrag gestellt, die etwa 200 000 jungen Deutschen aus der Sowjetzone, die hier in der Bundesrepublik wohnhaft sind, soweit sie noch Verwandte ersten Grades in Mitteldeutschland haben, von der Wehrpflicht freizustellen. Wir wollten die freie Bewegung vor allem der jungen Menschen zwischen beiden Teilen Deutschlands nicht erschweren. Notwendigerweise bringt das Wehrpflichtgesetz durch die Wehrüberwachung und durch die Gefahr, dort festgehalten zu werden, um hier nicht dienstpflichtig zu sein, eine Erschwerung des freien Verkehrs.
Schließlich haben wir auch bemängelt, daß zu allgemeiner Überraschung die Dienstzeit, die ursprünglich mit 18 Monaten angesetzt war, ausgeklammert wurde. Wir haben zu dem bekannten § 5 den Antrag gestellt, eine Dienstzeit von 12 Monaten als Grundwehrdienstzeit einzuführen. Dieser Antrag ist sowohl in der zweiten wie auch in der dritten Lesung abgelehnt worden. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU-Fraktion, was alles hätten Sie sich ersparen können, wenn Sie damals am 6. und 7. Juli bereit gewesen wären, unseren Antrag anzunehmen! Sie hätten sich zwei Plenarsitzungen zur Behandlung dieses Dienstzeitgesetzes ersparen können, nämlich die erste Lesung dieses Gesetzes am 8. November und heute die zweite und dritte Lesung — wir gehen bereits in die fünfte Stunde unserer Debatte —, und Sie hätten sich etwa 12 Sitzungen im Ausschuß für Verteidigung erspart, wenn Sie damals unseren Antrag angenommen hätten. Sie hätten es nicht nötig gehabt, durch ein besonderes Gesetz in drei Lesungen das nachzuholen, was wörtlich der Inhalt unseres Antrages war.
Es rächt sich eben, wenn man deswegen nein sagt, weil ein solcher Antrag nun einmal aus anderen politischen Reihen kommt.
Wir haben schon in der ersten Lesung unserer Genugtuung darüber Ausdruck gegeben, daß dieses Dienstzeitgesetz wörtlich die Vorstellungen unseres Antrages übernimmt. Daher stimmt unsere Fraktion mit gutem Gewissen diesem Gesetz, d. h. ihrem eigenen Antrag vom 6. und 7. Juli, zu.
Lassen Sie mich aber auch auf einige Ergänzungen eingehen, die wir schon bei der Wehrpflichtdebatte gemacht haben und die wir auch bei der ersten Lesung dieses Dienstzeitgesetzes zu machen für nötig hielten. Der Herr Bundesverteidigungsminister hat selber in der Entgegnung auf die
Ausführungen des Kollegen Erler das bestätigt, was wir schon vor Monaten in diesem Hause dargelegt haben, nämlich daß die allgemeine Wehrpflicht alter Vorstellungen überholt ist. Der Verteidigungsminister sagte wörtlich, daß die allgemeine Wehrpflicht nur ein Ausschnitt aus der allgemeinen Verteidigungspflicht aller Bürger sei. Wir sind sehr angetan davon, daß offensichtlich nunmehr auch in der offiziellen Planung der viel zu enge Begriff der allgemeinen Wehrpflicht so erweitert wird, wie es den modernen Vorstellungen entspricht. Denn die allgemeine Wehrpflicht ist schon deswegen nicht mehr zeitgemäß, weil heute in einem totalen Krieg Strategie nicht nur eine Angelegenheit der Soldaten und der militärtechnischen Dinge allein ist. Im totalen Krieg ist Strategie die Summe politischer, wirtschaftlicher, sozialer, propagandistischer und militärtechnischer Maßnahmen.
Wie kann man auch von einer allgemeinen Wehrpflicht sprechen, wenn ganze Berufszweige ausgeklammert werden? Niemandem wird es einfallen, einen einzigen Bergmann, der vor Ort unter Tage die für uns so wichtige Kohle fördert, etwa einzuziehen. Niemandem in diesem Hause wird es einfallen, auch aus anderen Schlüsselindustrien, vielleicht aus der eisenschaffenden Industrie, vielleicht aus der Bauindustrie, jene Kräfte einzuziehen, die für uns in ihrem zivilen Sektor in der Gesamtplanung wesentlich wichtiger sind, als wenn wir sie lediglich mit der Waffe vertraut machten.
In diesem Sinne haben wir die Erweiterung des früheren Wehrpflichtbegriffs auf eine allgemeine Verteidigungspflicht aller Bürger gefordert. Wir haben erklärt, daß die Verteidigungspflicht aller
Bürger das selbstverständliche Korrelat zu den Grundrechten einer rechtsstaatlichen Demokratie sein muß. In einer rechtsstaatlichen, demokratischen Ordnung kann man nicht nur Grundrechte für sich in Anspruch nehmen. Man muß auch bereit sein, ein gewisses Maß von Grundpflichten auf sich zu nehmen, und eine dieser Pflichten ist die Übernahme soldatischen oder soldatenähnlichen Dienstes oder sonstiger Verpflichtungen im Rahmen der allgemeinen Verteidigungsbereitschaft eines Volkes.
Wir haben bei der ersten Lesung dieses Gesetzes und auch bei der Beratung des Wehrpflichtgesetzes erklärt — und tun es jetzt, nachdem unsere Ansicht durch die letzten Erfahrungen in Ägypten und Ungarn bestätigt worden ist, erst recht —: bei einem möglichen bewaffneten Konflikt ist für uns der Arzt, der in den zonennahen Gebieten am Operationstisch ausharrt und weiteroperiert, ist die Krankenschwester, die ihm weiter assistiert, sind die Techniker in den Wasser- und Elektrizitätswerken, die an Ort und Stelle bleiben und für die Versorgung weiter tätig sind, sind die Lastwagenfahrer, die die Großstädte weiter mit Grundnahrungsmitteln versorgen, sind die Menschen im Bahn- und Postwesen, die weiter den geordneten Betrieb aufrechterhalten, wesentlich wichtiger als die mobile Truppe, die nicht Aktionen unternehmen kann, wenn es zu einer allgemeinen versorgungsmäßigen Katastrophe schon in den ersten Phasen kommt. In Budapest hat man in der ersten Phase nach Medikamenten, nach Blutkonserven und Antibiotika gerufen, nach Verbandstoffen, in der zweiten nach Grundnahrungsmitteln und erst in der dritten nach Waffen und Gerät. Der erste Leidtragende eines bewaffneten Konflikts ist nicht wie noch 1813 oder 1870/71 der Soldat, sondern im Zeitalter der modernen Massenvernichtungswaffen ist der erste Leidtragende eines bewaffneten Konflikts die Zivilbevölkerung und ist das Wichtigste die Erhaltung des gesamten Versorgungswesens, weil nur auf dieser Basis mobile Aktionen der Truppe überhaupt möglich sind.
Wir hoffen, daß die Erweiterung des Wehrpflichtbegriffs alter Art zu dem wesentlich moderneren Begriff der allgemeinen Verteidigungspflicht auch bei der kommenden Wehrgesetzgebung immer mehr in Erscheinung treten wird. Gerade der Verteidigungsminister weiß am besten, wie viele Gesetze noch nötig sind, um das sicherzustellen, was ich eben als die Voraussetzung einer mobilen Abwehraktion dargelegt habe.
Wie sich im allgemeinen im Rahmen der Entwicklung thermonuklearer und elektronischer Waffen die modernen Armeen darstellen werden, ist hier schon — sogar mit Ziffern — dargelegt worden. Der Schwerpunkt moderner militärischer Planung verlagert sich immer mehr von der früheren Vorstellung der Mobilmachungen und ,der levée en masse im Soldatenrock zu dem hochqualifizierten und beweglichen Heer der Berufssoldaten und längerdienenden Freiwilligen. Man hat in modernen Kriegen gar keine Zeit, noch Mobilmachungsmaßnahmen durchzuführen, wie es früheren Vorstellungen entspricht. Ebenso, wie wir heute nicht nur in den Großstädten, sondern auch in den Mittel- und Kleinstädten eine Berufsfeuerwehr nötig haben und uns nicht mehr auf die früheren freiwilligen Feuerwehren allein verlassen können, so geht auch bei den Armeen der Zug der Zeit nach einer hochbeweglichen, hochqualifizierten Berufsarmee. Sie wird dann jeweils das Schwert sein, während der Schild dargestellt wird durch das, was aus bodenständigen Heimatverteidigungskräften aufgebaut werden kann, die in den Einzugsräumen des möglichen Gegners sehr schnell im wahrsten Sinne des Wortes Haus und Hof schützen.
In diesem Sinne halten wir nach wie vor an unserer Idealvorstellung fest: Eine hochbewegliche Armee von Berufssoldaten und längerdienenden Freiwilligen sollte das der NATO zur Verfügung stehende Schwert sein, während der Schild von einer Miliz gebildet werden sollte, für die man selbstverständlich eine Verpflichtung der Bürger braucht, eine kurzfristige Verpflichtung im Rahmen eines allgemeinen Verteidigungsdienstes. Dieser Schild, bestehend sowohl aus Reservisten in Uniform wie aus Verteidigern in Zivil, soll die Funktionsfähigkeit der neuralgischen Punkte, der Wasser- und Elektrizitätswerke, der Straßen, des Post- und Fernmeldewesens u. a. sicherstellen. Denn die Bevölkerung darf sich in einer solchen Situation nicht panikartig auf die Straßen ergießen und alle Bewegungen lähmen, wie das im Jahre 1940 nicht zuletzt auch zum Todeskampf der französischen Verbände geführt hat. Herr Kollege Heye hat das durch einzelne Beispiele aus dem Mechanismus einer modernen Armee unterstrichen. Herr Kollege Erler und der Herr Bundesverteidigungsminister haben außerdem einzelne Zahlen genannt. Ich kann mich hier auf die Feststellung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung beschränken. Die Bundesregierung selbst kommt dieser These, die wir vertreten, dadurch näher, daß sie bei einem Limit von 500 000 Mann, das ebenfalls nur noch Theorie ist, den Anteil der Berufssoldaten und länger dienenden Freiwilligen von 230 000 auf 300 000 Mann erhöht. Das heißt: sollten wir zu
500 000 Mann Höchststärke kommen, dann werden von fünf Soldaten immerhin drei Berufssoldaten und länger dienende Freiwillige sein. Bei der Marine und bei der Luftwaffe werden es von zehn neun sein, und beim Heer werden es von zehn sechs sein, also 90 % bei der Luftwaffe und Marine und 60 % beim Heer — ich nenne runde Zahlen — dürften dem Stand des Berufssoldaten und länger dienenden Freiwilligen angehören, weil weder in 12, wie Herr Kollege Heye richtig sagte, noch in 24 Monaten das technische Wissen vermittelt werden kann, das nun einmal in einer hochmodernen Armee nötig ist.
Nun ist hier davon gesprochen worden, daß am 1. April des nächsten Jahres die ersten Einziehungen erfolgen. Meine Damen und Herren, freiwillige Wehrpflichtige, das ist an sich eine contradictio in adjecto, das ist ein Widerspruch in sich. Seien wir doch ehrlich und erklären wir: die CDU/CSU hat sich entschlossen, aus gewissen Erkentnissen innerpolitischer Art mit der Einziehung echter Wehrpflichtiger bis zu den Bundestagswahlen zu warten und lediglich freiwillige Bewerber in der Zahl von 10 000 am 1. April 1957 in die Kasernen aufzufordern. Das ist dann nicht die Praktizierung des Wehrpflichtgesetzes, sondern das ist im Grunde genommen die Einberufung von länger dienenden Freiwilligen; denn es ist anzunehmen, daß ein großer Teil gerade dieser 10 000 von der Vergünstigung des § 1 a Gebrauch machen wird, den auch wir sehr unterstreichen. Wir wissen, daß Herr Kollege Jaeger, insbesondere aus seiner Kenntnis der österreichischen guten Erfahrung, diese freiwillige Verpflichtung für 18 Monate bejaht. Wir schließen uns völlig seinen Argumenten an. Viele der jungen Menschen werden aus dem Reiz der Technik der modernen Waffen sich dazu entschließen, länger zu bleiben, zumal dann, wenn sie außerdem für ihren längeren Dienst auch eine Abfindung bekommen, was ja in dem Soldatenversorgungsgesetz ebenfalls geplant ist.
Ich darf mich auf diese allgemeinen Bemerkungen zur dritten Lesung beschränken und erklären, daß die Fraktion der Freien Demokratischen Partei diesem Dienstzeitgesetz zustimmt, wenn auch das Wehrpflichtgesetz gegen ihren Entschluß in diesem Haus leider viel zu früh, in einer nicht perfektionierten Form und bei Fehlen der entsprechenden materiellen und psychologischen Voraussetzungen beschlossen wurde. Wenn ein solches Gesetz beschlossen und im Gesetzblatt verkündet ist, dann gebietet es die demokratische Regel, dieses Gesetz zu respektieren und in der Ausführung das Beste daraus zu machen. Wir sind dazu bereit.
Lassen Sie mich nunmehr auf einige Argumente eingehen, die der Herr Kollege Dr. Lenz hier in Ausweitung unserer militärpolitischen zu einer außenpolitischen Debatte gebracht hat.
Doch zuvor noch, um der historischen Wahrheit willen, eine Bemerkung zu der Bindungsklausel. Der Herr Bundesverteidigungsminister hat mit Recht erklärt, daß ursprünglich im Deutschlandvertrag eine Bindungsklausel war, d. h. das wiedervereinigte Deutschland sollte automatisch auch in der atlantischen Verteidigungsgemeinschaft Mitglied bleiben. Es ist den Vorstellungen insbesondere der Freien Demokraten zu verdanken, daß diese Bindungsklausel fiel und daß das wiedervereinigte Deutschland in seiner Entscheidung völlig frei ist und mit den Partnern dann in jene Verhandlungen eintreten muß, die sich aus der neuen Situation ergeben. Daß die Bindungsklausel fiel, ist nicht so sehr der Regierungspartei der CDU/ CSU zu verdanken, sondern in erster Linie den Freien Demokraten, die damals noch in der Regierungskoalition vertreten waren.
Es ist sehr wenig geschmackvoll, wenn man die Ereignisse in Ungarn und in Ägypten zu innerpolitischem Tageskampf zu mißbrauchen versucht.
Dazu sind sie viel zu tragisch, als daß die eine oder andere Partei in Deutschland sich anmaßen könnte, daraus ihren Wahlkampf bestreiten zu wollen.
Wir sind der Meinung, daß die Ereignisse — so, wie wir sie aus der Entfernung sehen — noch gar nicht, mit wenigen Ausnahmen, allgemeingültige Schlüsse zulassen. Noch gefährlicher ist es, wenn man alles Schwergewicht der Betrachtung nur auf das eine tragische Ereignis lenkt und geflissentlich versucht, aus irgendeiner falsch verstandenen Rücksichtnahme das andere Ereignis zu beschönigen. Für uns Freie Demokraten sind Recht und Menschlichkeit unteilbar. Wir beklagen die Opfer des Blutterrors von Budapest ebenso wie die toten Menschen in Ismaïlija und in Port Said.
Was hat sich aus den tragischen Ereignissen in Ungarn und Ägypten für die deutsche Politik ergeben? Eines steht fest: der alte Heraklit hat wieder einmal recht behalten; es ist alles in Bewegung gekommen. Niemand kann behaupten, er habe es vorausgesehen, er habe recht behalten. Wir alle haben uns geirrt, als wir glaubten, die Ostblockstaaten seien ein Block. Es hat sich vielmehr gezeigt, daß weder Polen noch Ungarn — über die anderen kann ich mir noch kein Urteil erlauben — als echte Satelliten und Blockpartner des Warschauer Paktes zu betrachten sind. Ja, es hat sich sogar das Phänomen ergeben, daß die Jugend, die zehn Jahre im Kommunismus erzogen wurde, ihre Erkenntnisse gegen den Kommunismus verwendet hat. Es hat sich gezeigt, daß die vormilitärische Ausbildung, die die jungen Ungarn und die jungen Posener erfahren haben, gerade gegen jene Panzer der Sowjettruppen angewendet wurden, denen sie beistehen sollten im Kampf gegen den sogenannten westlichen Imperialismus und Kapitalismus. Das ist wahrlich ein Phänomen! Der Warschauer Pakt hat durch diese Entwicklung seine Grundlage verloren. Denn ich kann mir nicht denken, daß die Sowjets ihrerseits auf die vormilitärische Ausbildung der mitteldeutschen Jugend und auf die vormilitärische Ausbildung der Jugend in den heute noch von ihnen besetzten Staaten weiterhin Wert legen werden, wenn sie befürchten müssen, daß ihnen eines Tages genau dasselbe geschehen kann, was sie in Budapest seitens der Budapester Jugend, der Studenten, der Arbeiter und später auch der Armee erleben mußten.
Aber auch die NATO ist in Mitleidenschaft gezogen worden, und niemand von uns darf so tun, als wenn die eigenwilligen Aktionen Englands und Frankreichs die NATO nicht in eine schwere Krise gebracht hätten. Ich empfehle Ihnen, doch einmal den Art. 1, den Art. 4, den Art. 5, den Art. 7 des NATO-Vertrags zu lesen, um festzustellen, wieweit diese eigenwillige Aktion Englands und Frank-
reichs einen Vertragsbruch darstellt, jene Aktion, die geschehen ist, ohne auch nur die Partner zu informieren. Lesen Sie auch den Art. VII des Vertrages der Westeuropäischen Union über das Konsultativrecht und die Konsultativpflicht, um zu erkennen, wie wenig auch das Konsultativrecht und die Konsultativpflicht der Westeuropäischen Union uns und den anderen gegenüber beachtet wurden! Erinnern Sie sich doch der dramatischen Worte des britischen Oppositionsführers Gaitskell, der am 4. November erklärte: „Wir stehen heute in England als Aggressor da! Wir haben alles verraten", so sagte Gaitskell, „wofür wir zehn Jahre eingetreten waren!" „Wir stehen heute als diejenigen da, die gegen den Beschluß der Vereinten Nationen Gewalt anwenden, die die Charta der Vereinten Nationen gebrochen haben!" Ja, er ging sogar so weit, zu erklären: daß die Engländer sich selbst durch ihre Aktion jene moralischen Waffen aus der Hand geschlagen haben, mit denen die ganze öffentliche Meinung gegen Budapest hätte auftreten können.
Aber die öffentliche Meinung war gespalten. Es wurde von der Tragödie von Budapest leider auch abgelenkt durch die nicht minderen Tragödien, die sich in Ägypten abgespielt haben. Daher wird zwangsläufig aus der Erschütterung der NATO einerseits und aus dem Verlust der Basis des Warschauer Paktes andererseits eine neue Bewegung in die Weltpolitik kommen.
Für uns Freie Demokraten die wir die Verträge bejaht haben — wir stehen auch heute noch zu unserem Ja —, waren diese Verträge niemals der Weisheit letzter Schluß! Wir stellen diese Verträge in die jeweilige allgemeine weltpolitische Lage, auch in die strategische Situation hinein. Und,
) meine Damen und Herren, wer leugnet es, daß seit 1955 etwas eingetreten ist, was uns im Jahre 1954 beim Abschluß der Verträge noch nicht sichtbar war! Es ist nämlich das atomare Gleichgewicht der beiden Weltblöcke eingetreten. Während der Westen, während die Amerikaner bis etwa Mitte 1955 im Besitz der atomaren Überlegenheit waren, d. h. sie allein das Geheimnis der Herstellung und des Einsatzes der nuklearen Waffen, insbesondere der Atombombe, besaßen, sind die Sowjets ab 1955 auch im Besitz jener nuklearen und thermonuklearen Waffen, die nicht mehr mit Flugzeugen, sondern durch Transkontinentalraketen über Kontinente hinweg geschossen werden können. Das ist doch der Hintergrund der ersten Genfer Konferenz, auf der man ganz anders miteinander sprach.
Wenn Sie mich fragen: Warum ist denn in der Gratwanderung zwischen Krieg und Frieden der dritte Weltkrieg gottlob noch einmal vermieden worden?, dann sage ich: Doch nur dadurch, daß der eine entscheidende Machtblock dieser Erde, Washington, durch seine Botschafter in London und Paris intervenierte und erklärte: Wenn ihr nicht baldigst den Feuereinstellungsbefehl gebt, können wir euch bei einer Zuspitzung der Situation und bei einer Erfüllung der Bulganinschen Drohung unsere Hilfe nicht zuteil werden lassen. Darum doch die rasche Feuereinstellung! Herr Eden wollte noch 36 Stunden Frist, Herr Mollet sagte: 12 Stunden. Man hat sich noch in der gleichen Nacht geeinigt, den Feuereinstellungsbefehl zu geben.
Die andere Weltmacht dieser Erde, ebenfalls im Besitz jener elektronisch gesteuerten Wasserstoffoder Atomraketen, hat gedroht, gegen Malta, Gibraltar und vielleicht sogar gegen Südengland zu schießen. Diese Raketenwaffen wären ohne Rücksicht auf die Neutralität gewisser Länder auch über Kontinente geflogen. Ein Beweis mehr, daß Neutralität im 20. Jahrhundert rein technisch nicht mehr haltbar ist, sondern man die Bündnissysteme so in sich verzahnen muß, daß im Rahmen solcher Bündnissysteme der Weltfrieden erreicht werden kann.
Auch wir bejahen darum jene Diskussionen, die gegenwärtig in den USA begonnen haben. Auch wir sind für eine Weiterentwicklung der beiden Paktsysteme. Wir glauben, daß eine Wiedervereinigung nicht kommen kann, wenn sich an der Elbe und Werra die beiden Paktsysteme auf Nahkampfentfernung gegenüberliegen, sondern erst dann, wenn es gelingt, die beiden gegenwärtigen Paktsysteme, die ihre vorderen Linien mitten in Deutschland haben, weiterzuentwickeln zu einem europäischen kollektiven Sicherheitssystem, dessen Partner sowohl der eine Gigant Washington wie der andere Gigant Moskau sein müßten und das man durch Hereinnahme der osteuropäischen und der westeuropäischen Staaten und durch Einklammerung des wiedervereinigten Deutschlands so ineinander verzahnen könnte, daß dann eine bessere Garantie des Weltfriedens gegeben wäre als gegenwärtig, vor allem dann, wenn man sich noch entschließt, die Vereinten Nationen zu stärken.
Wir Freien Demokraten befürworten, soweit es überhaupt in unserer Macht steht, die Aufstellung einer ständigen, einsatzbereiten Alarmtruppe der Vereinten Nationen, etwa in der Größe von 10 bis 25 Divisionen, die an den neuralgischen Punkten dieser Erde, wo sich Konfliktstoff ansammelt, stationiert werden könnten. Was wäre gewesen, wenn nicht ein so dynamischer Mann wie Hammarskjöld sich rechtzeitig zwischen die Streitenden in Ägypten gestellt und damit die Infiltration sowjetischer und rotchinesischer Freiwilliger verhindert hätte! Was wäre geschehen, wenn die Vereinten Nationen gezögert hätten!
Lassen Sie mich auch hier denen unseren Dank aussprechen, die durch ihre persönliche Initiative den Frieden zu wahren in der Lage waren. Es waren die Vereinten Nationen und es war nicht zuletzt die Politik der Vereinigten Staaten, die in der Krise dieser Welt mit einer Beständigkeit ohnegleichen alle diejenigen Lügen gestraft haben, die da erklärten, die Amerikaner seien Imperialisten und Kriegshetzer. Das ist jene bekannte Platte der sowjetzonalen kommunistischen Propaganda! Wenn jemals das Gegenteil bewiesen werden konnte, dann haben die Vereinigten Staaten mit ihrer festen und klaren Haltung, mit der sie sich streng an die Charta der Vereinten Nationen gehalten haben, dieses getan, ja, sie haben den Vereinten Nationen überhaupt erst den Rückhalt gegeben.
Lassen Sie mich daher mit einer Warnung abschließen! Der Wahlkampf hat schon begonnen! Jeder versucht recht zu behalten! Im Grunde genommen haben wir uns alle getäuscht und müssen alle von neuen Standpunkten aus eine neue Konzeption erarbeiten. Wir sollten dabei so weit wie möglich zusammenrücken, auch im Wahljahr 1957. Als gefährlich — nicht in ihrer Wirkung nach innen; denn wir verstehen, was gemeint ist; aber als gefährlich in iher Wirkung nach außen, weil es mißverstanden wird — sehe ich es an, wenn man ständig mit dem Schlagwort „Politik der Stärke" operiert und so tut, als müßte am deutschen militärischen Wesen die NATO genesen. Die eine Frage, die von einem Kollegen der CDU gestellt
wurde, deutete doch sehr auf diese Begriffsverwirrung hin. Es wurde gefragt: Glauben Sie nicht, daß 500 000 deutsche Soldaten den Sowjets gerade angesichts der Satellitensituation einen Respekt abnötigen könnten? Ich unterschätze wahrlich den deutschen Soldaten nicht; ich überschätze ihn schon lange nicht. Aber wer weiß, daß mit über 200 Divisionen die Sowjetunion nicht besiegt werden konnte, der wird sich hüten, aus den 12 deutschen Divisionen etwa eine Politik der Stärke gegenüber der Sowjetunion ableiten zu wollen. Wir sollten daher weniger von der Politik der Stärke reden als vielmehr von einer Politik der Hilfsbereitschaft des deutschen Volkes nach Ägypten und nach Ungarn hin und einer Politik der Wiedervereinigung im Wege internationaler Verhandlungen. Wir haben immer dann großes Unglück gehabt, wenn wir mit besonders starken Worten in die Geschichte eintreten wollten, von des Kaisers schimmernder Wehr, die jeden zerschmettern wollte, bis zum totalen Krieg. Sie erinnern sich noch des hysterischen Gebrülls im Berliner Sportpalast: „Wir wollen den totalen Krieg!" Beachten wir, daß ähnliche starke Formulierungen mißverstanden werden und daß die durchaus friedfertige Politik der Bundesrepublik draußen in der gegnerischen Propaganda ins Gegenteil verkehrt werden könnte.
Angesichts dessen, was Herr Kollege Dr. Lenz hier zu der außenpolitischen Situation zu sagen für richtig hielt, war es unser Recht, dazu ebenfalls unsere Stellungnahme dem Hause darzulegen.