Rede von
Adolf
Ludwig
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe namens meiner Fraktion bei Beginn der Aussprache zur dritten Lesung folgendes zu erklären.
Der Regierungsentwurf zu diesem heute vorliegenden Gesetz lehnt sich eng an die Fassung des Gesetzes vom 16. Juli 1927 an. Schon die Beratungen im Ausschuß für Arbeit ergaben, daß seit dem Jahre 1927 doch allerhand geschehen ist und daß die veränderten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse und die Entwicklung des Arbeitsmarktes in diesem Gesetz ihren Niederschlag finden müssen. Das Gesetz von 1927 wurde in einer Zeit fast normaler Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt geschaffen.
Es blieb kaum Zeit zur Sammlung von Erfahrungen, als 1929 die Wirtschaftskrise Millionen als Arbeitslose auf die Straße warf und die damalige Regierung zwang, die Leistungen zu mindern und die Beiträge zu erhöhen. Experimente mit verlängerten Wartezeiten, Sonderbestimmungen für Arbeitslose, für saisonbedingte Berufe, Einführung von Bedürftigkeitsprüfungen trugen nicht dazu bei, das Hauptziel, die Arbeitsvermittlung in das Licht der Öffentlichkeit zu rücken, zu erreichen. Das Arbeitsamt wurde einfach zur Stempel- und Unterstützungstelle, der Vermittler Sklave seiner Kartei.
In der Zeit von 1933 bis 1945 wurde die Arbeitsverwaltung von jeder Selbstverwaltung entkleidet, und im Zeichen der Dienstverpflichtung wurde sie Rekrutierungsbehörde der staatlichen Arbeitslenkung. Nach dem Zusammenbruch 1945 entstand die Arbeitsverwaltung neu in den Gemeinden und Gemeindeverbänden. Die Länder schufen in Anlehnung an das Gesetz von 1927 wieder eigenes Recht, das sehr differenziert war, sowohl in der Arbeitslosenversicherung als auch in der Arbeitslosenhilfe.
Nun soll das neue Gesetz die Rechtseinheit auf dem Gebiet der Arbeitsvermittlung, der Berufsberatung, der Arbeitslosenversicherung, der Arbeitslosenhilfe, aber auch der Ausfallunterstützung, der werteschaffenden Arbeitslosenhilfe und hinsichtlich des Verfahrens wiederherstellen. Wir dürfen wohl sagen, daß der vorliegende Entwurf diese Forderung erfüllt und daß dem Arbeitnehmer, aber auch dem Arbeitgeber nun wieder das Gefühl der Rechtssicherheit gegeben wird.
Eine andere Frage aber ist die, ob dieses Gesetz ein brauchbares Instrument einer Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik sein wird, die aus der Wanderung aus der Selbständigkeit in die Unselbständigkeit, aus dem Problem der endgültigen Arbeitseingliederung der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge, aus der Arbeitsnot der älteren Angestellten und aus der Automatisierung die sich ergebenden Folgerungen zieht.
Ich bin nicht sicher, daß die vielen Beschränkungen der Selbstverwaltung in diesem Gesetz dazu führen werden, die Handhabung des Gesetzes der Entwicklung in Wirtschaft und Gesellschaft, die ja nicht stillsteht, elastisch anzupassen. Wir bedauern es, daß Sie so wenig Vertrauen in die Tätigkeit der Organe und in die Männer und Frauen, die mit Erfahrung und Klugheit die Selbstverantwortung in den Selbstverwaltungsorganen tragen, zu setzen bereit sind. Dank gebührt wohl allen Bediensteten der Arbeitsverwaltung, die seit dem Zusammenbruch eine unvorstellbare Last getragen haben. Wenn die Selbstverwaltungsorgane durch die heute beschlossenen Vorschriften noch mehr in ihrer Wirksamkeit eingeengt werden, dann kann befürchtet werden, daß die Freude an der Mitarbeit keinen Auftrieb, sondern das Gegenteil erfährt.
Ich will aber nur auf einige Dinge aufmerksam machen, an denen die Mehrheit des Hauses vorbeigegangen ist oder die sie trotz unserer Hinweise und Anträge nicht gewertet hat.
Erstens. Es gibt eine Früh- und Teilinvalidität, von der mehr als die Hälfte der Rentenempfänger betroffen sind. Wir werden uns mit dem Problem der Wiederherstellung, vor allen Dingen aber der Erhaltung der Arbeitsfähigkeit noch an anderer Stelle befassen müssen. Heute will ich nur sagen, daß Teil- oder Frühinvalidität die Arbeitsfähigkeit nicht immer vollkommen ausschließt. Eine Invalidität im erlernten oder früheren Beruf zwingt den Arbeitnehmer angesichts der unzureichenden Rente zu einer Tätigkeit in einem neuen Beruf, um so mit dem Einkommen aus Arbeit und Rente seinen Lebensstandard einigermaßen aufrechterhalten zu können. Diesem Verlangen des einzelnen kommt der Kräftebedarf der Wirtschaft entgegen. Es entspricht nicht dem Sinn einer modernen Gesetzgebung, Zeiten regelmäßiger Arbeitstätigkeit von der Versicherungspflicht auszuschließen und damit für den Fall der Arbeitslosigkeit dem Arbeitnehmer den Versicherungsschutz zu nehmen.
Wenn der Arbeitnehmer also nicht geringfügig oder nicht unständig arbeitet, sondern regelmäßig tätig ist, so muß er sich nach unserer Meinung eine Anwartschaft auf die Leistungen der Arbeitslosenversicherung erwerben können, auch wenn er Rente bezieht. Die Altersrente scheidet dabei aus, weil wir dem Altersrentner im Alter eine auskömmliche Rente geben wollen.
Wir kommen damit zweitens zu der Frage der Bewertung der geringfügigen Beschäftigung. Die
Wirtschaft verlangt in steigendem Maße nach Halbtagskräften, d. h. nach Männern und Frauen, die aus wirtschaftlichen Gründen dem Arbeitsmarkt nicht voll, aber teilweise und regelmäßig zur Verfügung stehen. Schauen Sie sich bitte die Inserate in den Zeitungen an, wie groß die Nachfrage nach solchen Kräften in Büros, Einzelhandel, Haushalten und Betrieben ist! Wieviel Frauen und Teilinvaliden sind wirtschaftlich darauf angewiesen, zu arbeiten, als Alleinstehende oder als Ehegatten, um mithelfend oder allein die Familie zu erhalten! Man kann über diese Erscheinung nicht mit einer Handbewegung hinweggehen. Wenn die Arbeitsvermittlung nicht, wie das heute leider der Fall ist, in der Papiervermittlung am Schreibtisch steckenbleiben will, dann muß sie die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt beobachten und bei Prüfung der Frage, ob eine Beschäftigung geringfügig ist, auch mehrere nebeneinander ausgeübte Beschäftigungen zusammenrechnen, um den Charakter des echten Arbeitnehmers richtig beurteilen zu können. Der Gesetzgeber darf aber, wenn er die Arbeitsverwaltung nicht auf ein starres Schema von Anno dazumal festnageln will, nicht hinterherhinken, sondern muß vorausschauend den Anzeichen der sich anbahnenden Entwicklung in der Gesetzgebung frühzeitig folgen.
Drittens. Das Arbeitsamts soll neutral sein, es soll ehrlicher Makler zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern beim Zustandekommen von Arbeitsverträgen sein. Dazu gehört zweifellos, daß es im Arbeitskampf dem unmittelbar Beteiligten keine Unterstützung zahlen darf. Es darf nach unserer Auffassung aber auch unter keinen Umständen einem im Streik oder Aussperrung befindlichen Betrieb Arbeitskräfte vermitteln. Die erste Forderung haben Sie zugestanden, die zweite haben Sie verklausuliert angenommen, indem Sie eine Soll-Bestimmung beschlossen haben. Ich fürchte, daß das Vertrauen der Arbeitnehmerschaft in die Neutralität des Arbeitsamtes durch diese Bestimmung nicht gestärkt wird. Was für die Vermittlung gilt, gilt auch für die Gewährung des Arbeitslosengeldes. Wir sind einig mit Ihnen, daß im Arbeitskampf stehenden Belegschaften kein Arbeitslosengeld gezahlt werden darf, solange der Arbeitskampf dauert. Wer aber infolge einer Aussperrung oder eines Streiks arbeitslos wird, weil seinem Betrieb die Rohstoffe usw. aus den im Arbeitskampf stehenden Betrieben fehlen, der ist doch am Arbeitskampf nicht unmittelbar beteiligt. Es ist also arbeitslos und hat Anspruch auf die Leistungen nach diesem Gesetz wie jeder andere, der die Voraussetzungen erfüllt hat. Wenn Sie diese Leistungen nur dann gewähren wollen, wenn eine unbillige Härte vorliegt, dann schaffen Sie mit dieser Bestimmung erst die unbillige Härte, die nicht vom Tatbestand, sondern vom Ermessen her geprüft werden soll.
Viertens. In der modernen Wirtschaft geht die Tendenz vom Kleinbetrieb zum Mittelbetrieb und weiterhin zum Großbetrieb. Die Zahl der selbständig Schaffenden aller Berufe sinkt von Jahr zu Jahr, und die Möglichkeit junger Menschen, einmal selbständig zu werden, wird ebenfalls von Jahr zu Jahr geringer. Vielen älteren Selbständigen wird es schwer und in vielen Fällen unmöglich, ihre Selbständigkeit zu erhalten. Darum arbeiten Kinder und Enkel im Betrieb des Vaters oder Großvaters, Väter oder Großväter im Betrieb der Kinder oder Enkel, Brüder oder Schwestern im
Betrieb des Bruders usw. Sie arbeiten — das zeigt die Praxis — nicht als mithelfende Angehörige für freie Kost, Wohnung und Zehrgeld, sondern sie arbeiten als echte Arbeitnehmer nach den Merkmalen von Arbeitsverträgen für Gehälter und Löhne. Warum tun Sie so, als ob kein Grund vorhanden wäre, diesen Arbeitnehmern den Versicherungsschutz nach Erfüllung der Versicherungspflicht zu gewähren? Das Argument, es würde Mißbrauch mit diesem Gesetz durch das Eingehen von Scheinarbeitsverhältnissen getrieben, ist doch nicht ganz zugkräftig. Kein Gesetz kann einen Mißbrauch ausschließen. Aber wollen wir denn dazu kommen, wichtige Fragen gesetzlich nicht zu regeln nur in der Befürchtung, daß einmal einer etwas erhalten kann, was ihm nicht zusteht? Dann allerdings könnte sich der Bundestag seine Arbeit leichter machen.
Hier ist die Ausnahme wirklich nicht die Regel. Wenn es auch einmal so gewesen sein sollte — und das will ich nicht bestreiten —, so können Sie das für die jetzige Zeit nicht behaupten, oder Sie kennen und übersehen die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt nicht. Sonst würde die Zahl der Arbeitnehmer in den letzten Jahren nicht auf 18,4 Millionen gestiegen sein. Nicht aus purer Genußsucht arbeiten die Menschen unter den heutigen Verhältnissen regelmäßig jahrelang als Arbeiter, sondern aus wirtschaftlichem Zwang und auch aus der inneren Verpflichtung zur Arbeit. Sie kennen ja den Ausspruch: Wir Deutsche können alles entbehren, nur die Arbeit nicht.
Fünftens. Arbeitsunfähige sollen — das wird hoffentlich unsere gemeinsame Auffassung sein — durch die Neuordnung der Leistungen der Rentenversicherung eine Rente erhalten, die in einem gesunden Verhältnis zum Arbeitseinkommen steht. Gilt dieser Grundsatz nicht auch für Menschen, die arbeitsfähig, aber ohne Schuld vorübergehend arbeitslos sind? Auch sie sollen sozial nicht absteigen, sie sollen ihre Kinder nicht von der Schule nehmen müssen und sie sollten in ihrer Lebensführung arbeitsfähig, d. h. auch arbeitsvermittlungsfähig bleiben. Darum sollte nach unseren Anträgen der Hauptunterstützungsempfänger 50 % seines Bruttoarbeitsentgelts als Arbeitslosengeld, die Familie mit zwei Kindern sollte 75% des Bruttoeinkommens des Ernährers zur Aufrechterhaltung des Lebensstandards auch in der Zeit der Arbeitslosigkeit erhalten. Wenn dies für Arbeitslose ganz allgemein gilt, dann erst recht für langfristig Arbeitslose, die ihre Arbeitslosigkeit wirklich nicht verschuldet haben, sondern als Folge der Vertreibung, der Flucht, der Kriegsgefangenschaft — ältere Angestellte insbesondere als Verlust ihrer bisherigen Existenzgrundlage — erleiden.
Sie haben unsere Anträge, die auf wirksame Verbesserungen hinzielten, ich kann wohl sagen: restlos abgelehnt, wenigstens heute in der zweiten Lesung. Die Anträge sind damit für uns nicht erledigt. Wir werden eines Tages diese Verbesserungen durchsetzen, vielleicht mit Ihnen, vielleicht auch ohne Sie.
Wir verkennen auch nicht — und das will ich nicht ungesagt sein lassen — die Verbesserungen, die das Gesetz tatsächlich bringt. Wir würden in der Erweiterung der Versicherungspflicht und in der Erhöhung der Beitragsgrenze die Möglichkeit zur Erhöhung der unzureichenden Leistungen
sehen, wenn Sie sich jetzt noch in der dritten Lesung dazu aufschwingen könnten, unserem Antrag, der noch vorgelegt wird, zuzustimmen. Damit könnte die Abstimmung der zweiten Lesung wiedergutgemacht werden, und auch eine nach Auffassung meiner Freunde sehr schlechte Entscheidung könnte damit wiedergutgemacht werden. Trotz der Senkung des Beitrages haben wir die optimistische Auffassung, daß angesichts der dauernden Steigerung der Beschäftigtenzahlen und der Senkung der Arbeitslosenziffern die Rücklage der Bundesanstalt in Höhe von rund 3 Milliarden DM nicht angeknabbert werden muß.
Wir könnten uns vorstellen, daß man einen Teil dieser nach unserer Auffassung zu hohen Rücklage zur Finanzierung des sozialen Wohnungsbaus verwendet. So kann ein Teil dessen, was den Arbeitnehmern zuviel an Beiträgen aus der Lohntüte oder aus dem Gehaltsbriefumschlag herausgenommen wurde, demselben Personenkreis zinslos oder zinsverbilligt wieder zugeführt werden.
In langer und eingehender Beratung sind andere Fragen zu unserer Zufriedenheit entschieden worden. Dies gilt für die Verbesserung der Anwartschaft, die Einbeziehung der Heimarbeiter in die Versicherungspflicht und in den Versicherungsschutz, die erhöhten Freibeträge bei Nebeneinkommen, die Nichtanrechnung der Tage mit Nebenbeschäftigungen auf die Bezugsdauer und die glückliche Lösung des heiklen Problems der Wartezeit. Ich vergesse hierbei auch nicht die neuen Möglichkeiten der beruflichen Um- und Fortbildung, die Förderung der Arbeitsaufnahme nicht nur für Arbeitnehmer, sondern auch für solche, die sich selbständig machen wollen. Wir freuen uns besonders über die verständnisvolle Bereitschaft, den im Ausland tätigen Deutschen für den Fall ihrer Heimkehr durch den Versicherungsschutz eine Auffangstelle zu geben, und wir hoffen, daß der Herr Bundesarbeitsminister von seinem Recht zum Erlaß einer Rechtsverordnung in diesem Falle bald einen guten Gebrauch macht. Hoffen wir auch, daß die geschlossene Herausnahme der Landarbeiter mit Familienanschluß aus der Versicherungspflicht wieder rückgängig gemacht wird! Dann wäre auch hier ein uns wichtiges Anliegen erfüllt.
Wir haben uns die Sache wahrhaftig nicht leicht gemacht, das werden alle an den Ausschußberatungen Beteiligten bestätigen müssen. Schweren Bedenken steht selbstverständlich auch die Anerkennung von Verbesserungen gegenüber. Ein relativ geringer Fortschritt wird durch Beharrung auf überlebten Vorstellungen gehemmt, die Selbstverwaltung wird leider noch mehr als bisher eingeengt. Wir rechnen zuversichtlich damit, daß die Entwicklung uns eines Tages dazu zwingt, dieses Gesetz noch einmal zu überprüfen.