Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für die sozialdemokratische Fraktion des Deutschen Bundestages habe ich folgende Erklärung abzugeben.
Durch die Kämpfe in Ungarn und im Nahen Osten ist die Welt in den verflossenen Tagen in einem ungeheuren Maße erschüttert worden. Die Tatsache der Tausende von Toten, der aber Tausende von Verwundeten, der Hungernden und der Flüchtlinge, sie hat uns alle im Innersten aufgewühlt. Leider sind aber offenbar an beiden Stellen die Kämpfe noch nicht abgeschlossen, und noch immer gibt es Tote und Verwundete.
Durch diese Auseinandersetzungen ist der Frieden in der Welt aufs äußerste gefährdet worden. Es muß bei einer Betrachtung der Dinge heute die Aufgabe sein, eine politische Wertung vorzunehmen, um daraus die Folgerungen für die künftigen politischen Notwendigkeiten zu ziehen.
Die furchtbare Tragödie in Ungarn wird insbesondere unter zwei Gesichtspunkten politisch zu werten sein. Erstens ist die eisige Rücksichtslosigkeit zu sehen, mit der sich die Sowjetunion unter Verletzung aller Grundsätze des Völkerrechts und der Menschenrechte bestrebt zeigt, ihren Machtbereich zu behaupten, wie sie in einer durch militärische Blöcke geteilten Welt den eigenen Sicherheitswillen zur Geltung bringt. Zweitens ist die Unmöglichkeit eines bewaffneten Beistandes zu erkennen, weil ein militärisches Eingreifen den Krieg, den dritten Weltkrieg, der ein Krieg der Atomwaffen, der Wasserstoffbomben sein würde, 'bedeuten müßte.
Ein solcher Krieg aber wäre keine Hilfeleistung, keine Rettung der Freiheit und keine Behebung der Not.
Ein solcher Krieg wäre das absolut ungeeignete Mittel, die Probleme zu lösen. Er hätte nur den Untergang aller und wahrscheinlich die Vernichtung der Menschheit zur Folge. Auch ein Höchstmaß der Rüstung in den Ländern, die zu den westlichen Militärpakten gehören, könnte das ergreifende Schicksal Ungarns auf diese Weise nicht wenden.
Aus dieser Situation, die geschichtlich noch niemals da war und die erst durch die Atombomben bewirkt wurde, eröffnet sich nur ein einziger Ausweg: Alle Anstrengungen müssen gemacht werden, um die Spannungen in der Welt abzubauen.
Das kann aber nur durch eine größtmögliche Stärkung der Vereinten Nationen geschehen. Sie sind das Weltsystem der kollektiven Sicherheit. Spannungen sind doch nur der Ausdruck ungelöster Fragen und der daraus abgeleiteten Sicherheitsbedürfnisse. Man kann und darf deshalb gerade in dieser entscheidenden Stunde um des Friedens willen nicht resignieren.
Man darf sich auch nicht mit der Meinung abfinden, die Vereinten Nationen seien nicht in der
Lage zu helfen. Die Vereinten Nationen, ihre
Grundsätze und ihre Autorität sind die letzte Hoffnung der geängstigten Welt, die letzte Hoffnung der Völker, die auf Frieden und Freiheit bedacht sind. Darum muß alles geschehen, um ihre Autorität zu stärken und ihr System der kollektiven Sicherheit auf vielfältige Weise effektiver zu machen, z. B. durch die friedlichen Mittel der Rüstungsbegrenzung und der Rüstungskontrolle sowie gegebenenfalls durch die Bildung einer internationalen Exekutive.
In dieser Stunde muß aber die Sowjetunion daran erinnert werden, daß sie am 30. Oktober 1956 eine Erklärung abgegeben hat, in der sie zum Ausdruck gebracht hat, daß die gegenseitigen Beziehungen der Staaten in ihrem Machtbereich nur auf den Grundsätzen der völligen Gleichberechtigung, der Achtung der territorialen Unverletzlichkeit, der staatlichen Unabhängigkeit und Souveränität sowie der gegenseitigen Nichteinmischung aufgebaut sein sollen. Die Sowjetregierung hat in dieser Erklärung selbst zugegeben, daß es in diesen Beziehungen in der Vergangenheit zahlreiche Schwierigkeiten ungelöster Aufgaben und wirkliche Fehler gegeben habe. Sie hat daran erinnert, daß der XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion diese Verletzungen und Fehler ganz entschieden verurteilt habe. Angesichts der blutigen Ereignisse in Ungarn wird sich die Sowjetregierung von dem schweren Verdacht reinigen müssen, daß sie diese Erklärung nur zur arglistigen Täuschung des ungarischen Volkes veröffentlicht hat.
Sie muß jetzt durch die Tat bekunden, daß ihre Versicherungen mehr sind als bloße Lippenbekenntnisse.
Meine Damen und Herren, wir beklagen es sehr, daß die westlichen Demokratien gerade in dem Augenblick, in dem das ungarische Volk der moralischen Unterstützung aller freiheitliebenden Völker sicher sein mußte, durch die unselige Aggression im Nahen Osten gelähmt wurden.
Man kann die Handlungsweise der britischen, der französischen und der israelischen Regierung gegenüber Ägypten nicht bloß als Intervention von Streitkräften bezeichnen,
sondern man muß sie beim wirklichen Namen nennen: was sich dort abspielte, war Krieg!
Damit ist die freie Welt in Gefahr geraten, sich selbst unglaubwürdig zu machen.
Es ist mit der Charta der Vereinten Nationen unvereinbar, daß einzelne ihrer Mitglieder, die sich dem Völkerrecht und der Demokratie verpflichtet haben, der Charta der Vereinten Nationen zuwiderhandeln und die Empfehlungen der Vollversammlung der Vereinten Nationen mißachten.
Über eine bloße Absage an die Gewalt hinaus muß
der entschlossene Wille des deutschen Volkes bekundet werden, jede Angriffshandlung für unbe-
dingt verwerflich zu erklären und jedem Beginn eines Krieges, der keine reine Verteidigung ist, mit schärfster Mißbilligung zu begegnen.
Daher müssen wir alle Bemühungen der Vereinten Nationen um die Wiederherstellung des Friedens mit ganzer Kraft unterstützen.
In diesem Augenblick aber, meine Damen und Herren, kommt es darauf an, ein höchstes Maß an Hilfe zur Unterstützung der Opfer der Ereignisse und zur Heilung der Wunden zu leisten. Über die unmittelbare Hilfstätigkeit hinaus sollte die Organisation für europäische Zusammenarbeit ihre Dienste anbieten und uneigennützig zum Wiederaufbau in Ungarn und im Nahen Osten beitragen.
Wir erwarten und fordern von der Bundesregierung, daß sie ihren Einfluß auf diese Organisation geltend macht, damit Wege gefunden werden, die einen solchen Beitrag ermöglichen. Wirtschaftliche Zusammenarbeit könnte und sollte der Anfang zu einer Änderung im Verhalten der west- und osteuropäischen Staaten zueinander sein, ungeachtet der Unterschiede der politischen und sozialen Systeme dieser Staaten. Darüber hinaus könnte und sollte Deutschland als ein Land der europäischen Mitte dazu beitragen, in den gegenseitigen Beziehungen neue Verhältnisse zu schaffen. Wir sagen das gerade angesichts der schweren Belastung, die unser eigenes Land durch die Fortdauer seiner Spaltung noch zu tragen hat. Die Teilung Deutschlands ist eine dauernde Gefahr für den Frieden.
Deshalb kann in einer Stellungnahme zu den Ereignissen in den letzten Wochen an dieser Frage nicht vorbeigegangen werden. Es wäre aber widerspruchsvoll, eine Lösung der deutschen Frage von dem Ausbau der westlichen Militärpakte zu erwarten.
Wenn die Fortdauer der Teilung Deutschlands eine wirkliche Gefahr ist, kann nicht durch die Einbeziehung der Bundesrepublik in den Nordatlantikpakt und die Westeuropäische Union die Spaltung Deutschlands behoben und damit die Gefahr beseitigt werden.
Wenn es auch nach der Auffassung der Regierung die Teilung ist, durch die uns Gefahr droht, kann ein wirklicher Schutz auch nur des westlichen Teils Deutschlands durch den Ausbau einer Militärallianz nicht erreicht werden. Die Teilung muß überwunden werden, damit die Gefahr beseitigt wird;
aber die Teilung kann nicht überwunden werden, wenn die Bundesrepublik Mitglied der NATO und der Westeuropäischen Union bleibt.
Meine Damen und Herren, es muß in dieser Stunde klar erkannt werden: aus diesem Widerspruch muß die deutsche Politik endlich durch eine Neuorientierung herausgeführt werden.
Es kommt darauf an, im Rahmen der Vereinten Nationen durch ein kollektives Sicherheitssystem in Europa die Wiedervereinigung Deutschlands überhaupt erst zu ermöglichen. Das ernstliche Bemühen, alsbald ein solches europäisches Sicherheitssystem unter Mitwirkung Amerikas und auch der Sowjetunion aufzubauen, ist der friedliche Weg, urn den durch Verhandlungen gerungen werden muß.
Es kommt jetzt darauf an, die militärischen Paktsysteme der vergangenen Jahre und die Art der zwischenstaatlichen Beziehungen ernstlich zu überprüfen. Das ist um so mehr notwendig, als es sich gerade in diesen Wochen gezeigt hat, daß die Militärpaktsysteme beider Seiten sich in einer Krise befinden.
Unmöglich wäre der Versuch, sie durch Intensivierung alter Methoden wieder zu beleben.
Notwendig und zukunftsträchtig allein ist die schrittweise Änderung des Paktsystems beider Seiten, des Warschauer Paktes und auch des Atlantikpaktsystems.
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion ist deshalb mit der Bundesregierung darin einverstanden, daß die diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion nicht abreißen dürfen, sondern stärker ais bisher gepflegt werden müssen. Es geht bei diesen Beziehungen nicht darum — lassen Sie mich das mit Nachdruck betonen —, der Sowjetunion gefällig zu sein oder die von ihr geschaffenen Tatsachen anzuerkennen. Nein, es handelt sich hier um einen Dienst an Deutschland, um einen Dienst an den Menschen in der Zone und letzten Endes um ein Werk des Friedens.
Ein verstärkter und unmittelbarer Gedankenaustausch mit der Regierung der Sowjetunion, der selbstverständlich stets in engstem Kontakt mit unseren westlichen Freunden vorgenommen werden muß, ist sicher kein Imstichlassen Ungarns. Jeder Schritt zu einer Entspannung in Mitteleuropa, eine friedliche Wiedervereinigung Deutschlands und die Sicherung des Friedens durch ein europäisches Sicherheitssystem bringen auch eine Erleichterung für das ungarische Volk.
Meine Damen und Herren, die sozialdemokratische Bundestagsfraktion sah sich Ende voriger Woche veranlaßt, dem Herrn Außenminister ihre Bedenken über die geplante Reise des Bundeskanzlers nach Paris vorzutragen. Wenn der Herr Bundeskanzler vorhin in seiner Erklärung zum Ausdruck gebracht hat, daß der Erfolg des Besuchs diesen rechtfertige, so müssen wir allerdings sagen, daß er sich damit nach unserer Auffassung in einem Irrtum befindet.
Die schwierige Lage des um seine Wiedervereinigung in Freiheit ringenden gespaltenen Deutschlands sollte die Bundesregierung veranlassen, jede Tuchfühlung mit irgendeiner Aggression, wo immer sie auch stattfindet, peinlich zu vermeiden.
Wir müssen deshalb nach wie vor bedauern, daß der Herr Bundeskanzler daran festgehalten hat, den Plan seines Besuchs in Paris zu einem so unglücklichen Zeitpunkt auszuführen. Es muß dadurch der Anschein erweckt werden, daß sich die Bundesregierung von der kriegerischen Aktion Frankreichs gegen Ägypten nicht deutlich distanziert, sondern sie unter Umständen sogar bejaht.
Es geht, meine Damen und Herren, in solchen Augenblicken in der Politik nicht nur um die Frage eines offenen Gesprächs zwischen Freunden, sondern es geht auch darum, welcher Eindruck durch einen solchen Besuch bei den friedliebenden Völkern der Welt hervorgerufen wird, wenn der Freund zum Aggressor geworden ist.
Eine enge Gemeinschaft mit Frankreich wird von uns allen gewünscht.
Aber es war nach unserer Auffassung nicht der geeignete Augenblick, die Gemeinschaft mit Frankreich in dieser Weise zu betonen.
Es wäre statt dessen richtiger gewesen, von der Bundesregierung zum Ausdruck zu bringen, daß eine Solidarität die unbedingte Vermeidung bewaffneter Angriffe sowie die Achtung vor den Beschlüssen der Vereinten Nationen voraussetzt.
Meine Damen und Herren, die Tatsache, daß an dem Tage des Besuchs die Anordnung zur Einstellung des Feuers gegeben wurde, soll offenbar auch benutzt werden, um eine gewisse Legendenbildung zu erreichen, die dem Volke sagt, daß der Besuch des Bundeskanzlers diesen Abschluß ermöglicht habe.
Wenn der Herr Bundeskanzler auf eine Frage der
französischen Regierung den Rat gegeben hat, das
Feuer einzustellen, so ist das doch nur das, was
jeder Staatsmann und Politiker, der die Welt vor
einem dritten Weltkrieg bewahren wollte und dem
es um die Erhaltung des Friedens ging, getan hätte.
— Meine Damen und Herren, wir haben ja von uns aus nicht gewünscht, eine solche Auseinandersetzung zu führen. Sie ist von Ihnen begonnen worden.
Wer sich aber die Situation vom 6. November vor Augen führt, weiß, daß die Regierungen von Frankreich und England auch bei einem gegenteiligen Rat kaum in der Lage gewesen wären, eine andere Entscheidung zu fällen, als sie tatsächlich gefällt worden ist.
Meine Damen und Herren, der Abschluß des Waffenstillstandes ist in viel stärkerem Maße Kräften zu verdanken, die sich hingebend zu einer Zeit um den Frieden bemühten, als die Bundesregierung sich noch jeder Stellungnahme enthielt
und sich gegenüber dem Konflikt im Nahen Osten in tiefstes Schweigen hüllte. Beigetragen zu dem erfolgreichen Waffenstillstand hat zunächst das überraschend schnelle und energische Handeln der Vereinten Nationen, insbesondere der Beschluß hinsichtlich der Aufstellung einer internationalen Polizei.
Weiter hat die Weltöffentlichkeit, die sich fast überall klar und deutlich gegen die Angreifer gestellt hat, so daß diese sich in einer fast völligen Isolierung befanden, den Abschluß des Waffenstillstandes gefördert. Die britische Arbeiterpartei hat durch ihren harten Widerstand im Parlament und durch ihre Aufklärung in der Bevölkerung entscheidend dazu beigetragen, daß die englische Regierung dem Waffenstillstand geneigt wurde.
Und letzten Endes sollte man auch die Bemühungen des indischen Ministerpräsidenten Nehru und der Schweizerischen Bundesregierung nicht vergessen, die ihre guten Dienste angeboten haben, um den Konflikt zu beenden.
Meine Damen und Herren! Die Ereignisse der letzten Wochen haben uns gezeigt, in welche Gefahr die Welt gestürzt werden kann durch Regierungen, die die Freiheit, die Menschenwürde und die Selbstbestimmung der Völker nicht achten,
und durch Regierungen, die der Auffassung sind, daß Streitigkeiten zwischen den Völkern auch heute noch mit Waffengewalt ausgetragen werden könnten und müßten.
Diese Erschütterungen, die wir alle mit größter innerer Anteilnahme erlebt haben, stellen die Politik und vor allem die deutsche Politik vor neue Aufgaben. Die Haltung der Bundesregierung und die heute abgegebene Erklärung berechtigen uns leider nicht zu dem Vertrauen, daß die Bundesregierung die für eine Neuorientierung notwendigen Schritte tun wird. Nicht das Herumflicken an alten Projekten, sondern das Bemühen um neue, reale Lösungen, die den Frieden sichern, ist das Erfordernis für die deutsche Politik
und auch für die Politik aller Regierungen, die eine friedliche Entwicklung wollen. Wir neigen uns heute vor den Opfern der blutigen Ereignisse in den letzten Wochen. Wir übernehmen damit zugleich die Verpflichtung, den deutschen Beitrag für die Befriedung der Welt zu leisten. Dieser Aufgabe müssen wir jetzt unseren Blick zuwenden.