Rede von
Dr.
Konrad
Adenauer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Die Bundesregierung hat mit ernster Sorge die weltpolitische Entwicklung der letzten Monate verfolgt. Sie glaubt, daß man die Vorgänge auf den verschiedenen Schauplätzen der politischen und militärischen Auseinandersetzungen nicht isoliert betrachten darf. Es bestehen weitreichende innere Zusammenhänge. Wir müssen uns bemühen, sie aufzuklären; denn nur, wenn wir sie klar erkennen, vermögen wir einen Beitrag zu leisten, dieser Entwicklung zu begegnen, die für weite Teile der Welt, besonders aber für Europa und hier wieder in hervorragendem Maße für das deutsche Volk, ernste Gefahren in sich birgt.
Die letzte Ursache für die verhängnisvolle Entwicklung liegt darin, daß es nicht gelungen ist, die Ideale zu erreichen, die am Ende des zweiten Weltkrieges verkündet worden sind. Es war die
Aufgabe derer, die in dieser entscheidenden Zeit die Verantwortung trugen, das verletzte Recht und die unterdrückte Freiheit wiederherzustellen.
Es soll heute und hier dankbar anerkannt werden, daß es verantwortliche Politiker gab, die sich dieser großen Aufgabe und der ihnen obliegenden Verpflichtung durchaus bewußt waren. Ein Beweis dieses Bemühens ist u. a. die Charta der Vereinten Nationen, die die ethischen Grundsätze, die das Zusammenleben der Völker bestimmen sollten, in eindrucksvoller Weise festlegt.
In weiten Teilen der Welt bestand jedoch und besteht auch heute nicht die Bereitschaft, diese Ziele zu verwirklichen. Das ist wohl der tiefste Grund für die latenten Spannungen, die die Weltpolitik seit Jahren belasten und die zu beendigen bisher niemandem gelungen ist.
Ziel und Aufgabe jeder Friedenspolitik mußte es sein, das verletzte Recht und die unterdrückte Freiheit wiederherzustellen. In weiten Teilen der Welt aber wurden die Menschen erneut ihrer primitivsten Rechte beraubt. Nationen, die im Vertrauen auf das Selbstbestimmungsrecht den Versuch unternahmen, eine freiheitliche und rechtsstaatliche Ordnung wiederherzustellen, wurden erneut unterjocht und in totalitäre Systeme gezwungen, in denen die Begriffe Demokratie, Freiheit und Recht keine Geltung haben.
Das politische Bild wurde um so verworrener, als gleichzeitig an anderen Stellen der Welt junge, aufstrebende Völker, die an den technischen und zivilsatorischen Entwicklungen der letzten Jahrhunderte nicht angemessen teilgenommen hatten, von dem Recht der Selbstbestimmung Gebrauch machten und damit neue einflußreiche und mächtige politische Positionen in der Welt schufen, die das Vorstellungsbild korrigierten, das noch bei Kriegsende bestand und z. B. in den Beschlüssen von Potsdam als Folge der Konferenzen von Jalta und Teheran seinen Ausdruck fand.
Wenn es auch in einzelnen Teilen der Welt gelang, Spannungen und Konflikte zu beseitigen, wenn anderwärts Gegensätze sichtbar wurden, die die Entwicklung zu einem gesunden Gleichgewicht nur fördern konnten, so blieb doch in manchen Teilen der Welt die Unordnung bestehen, ja sie wurde in willkürlicher und unverantwortlicher Weise vergrößert.
Auf der einen Seite können wir gerade in diesen Tagen mit tiefer Befriedigung auf die Entwicklung blicken, die die Beziehungen Deutschlands zu seinen westlichen Nachbarn bestimmt hat. Ich denke hier in erster Linie an das deutsch-französische Abkommen über die Rückgliederung der Saar, das am 27. Oktober in Luxemburg unterzeichnet wurde. Ich denke auch an das deutschbelgische Abkommen, das die noch offenstehenden Grenzfragen zwischen diesen beiden Staaten endgültig bereinigt hat.
Auf der anderen Seite aber sind die Ereignisse der letzten Monate in Osteuropa ein tragisches Zeugnis für die Folgen einer widernatürlichen Ordnung, die hier mit fremder Waffengewalt jahrelang aufrechterhalten worden ist. Im Bereich des Ostblocks kam es zu elementaren Kundgebungen des Freiheitswillens der unterdrückten
Völker 'gegen eine unerbittliche, unmenschliche und auf ausländische Machtmittel gestützte Diktatur.
Daß Deutschland gerade an diesen Vorgängen leidenschaftlich Anteil nimmt, wird man in der ganzen Welt verstehen; denn bis zur Stunde sind auch 17 Millionen Deutsche in diesen totalitären Machtblock eingespannt, 17 Millionen Menschen, denen man gegen Recht und Gesetz die Möglichkeit genommen hat, nach dem eigenen Freiheitswillen ihre Anstrengungen mit denen des übrigen deutschen Volkes zu vereinen und als freies Volk in der Gemeinschaft der freien Völker der Welt zu leben. Bis zur Stunde ist es ebensowenig gelungen, einen Friedensvertrag zu schließen und das Problem der Ostgrenzen Deutschlands zu regeln. In Deutschland kam der elementare Wille zur Freiheit an jenem historischen 17. Juni 1953 in der sowjetisch besetzten Zone und in Berlin zum Ausdruck, als deutsche Männer und Frauen, die wehr- und waffenlos waren, gegen den unerträglichen Zwang eines Regierungssystems auftraten, das gegen ihren Willen eingesetzt wurde und ohne ihr Zutun fortdauert.
Dieser elementare Freiheitswille war es auch, der die Vorgänge in Posen auslöste und politische Veränderungen in Polen einleitete, die wir in ihrer vollen Bedeutung noch nicht abzusehen vermögen, schon deshalb nicht, weil wir nicht wissen, ob sie bereits zum Abschluß gekommen sind. Wir hoffen, daß diese Veränderungen einen Schritt auf dem Wege zu einem freien Polen darstellen, mit dem alle strittigen Fragen in friedlicher und fairer Weise zu regeln wir aufrichtig wünschen.
Für eine solche Regelung, meine Damen und Herren, kommt es nicht darauf an, ob in Deutschland und Polen verschiedene Regierungssysteme und verschiedene Wirtschafts- und Sozialordnungen bestehen oder nicht. Unter einem „freien Polen", mit dem wir zu geordneten Beziehungen und zur Regelung aller Streitfragen zu kommen wünschen, verstehe ich ein Polen, das die volle Verfügungsgewalt eines souveränen Staates über seine inneren und äußeren Angelegenheiten besitzt.
In den letzten Tagen haben nun die Ereignisse in Ungarn dem deutschen Volke und der ganzen freien Welt eine erschütternde Lehre erteilt. Zunächst war es wohl auch dort nur der Wunsch, etwas mehr Freiheit, etwas mehr Menschenrecht und Menschenwürde, etwas mehr Sicherheit zu besitzen, der die innere Unruhe auslöste. Es war dann offensichtlich die unmenschliche Reaktion einer kleinen Minderheit, die die Herrschaft nicht verlieren wollte und sich nicht scheute, zu diesem Zwecke fremde Truppen einzusetzen, die von der Revolte zur Revolution führte und die dem Freiheitswillen des ungarischen Volkes zum elementaren Durchbruch verhalf.
Ich glaube, daß wir allen Anlaß haben, voller Bewunderung dieses Freiheitskampfes zu gedenken, der noch immer andauert.
Das Wissen darum, daß die ungarische Nation in
ihrem Freiheitskampf allein steht, daß sie wohl
die moralische Unterstützung aller freien Völker der Welt genießt, aber daß die nackte Gewalt stärker zu sein scheint als die heroischen Anstrengungen dieses Volkes, muß uns in diesen Tagen quälen und sollte niemanden unberührt lassen, für den die Worte „Demokratie" und „Freiheit" mehr bedeuten als ein unverbindliches Lippenbekenntnis.
Es ist keine unzulässige Einmischung in die inneren Verhältnisse eines anderen Volkes, wenn die Bundesregierung heute und hier an dieser Stelle ihre Bewunderung für diesen Freiheitskampf zum Ausdruck bringt und die moralische Verpflichtung anerkennt, immer auf der Seite derer zu stehen, die für die Freiheit eintreten und die Unterdrückung der Menschenrechte leidenschaftlich bekämpfen.
Wohl aber ist es eine mit der Charta der Vereinten Nationen, aber auch mit den ungeschriebenen völkerrechtlichen Grundsätzen unvereinbare Einmischung in das Selbstbestimmungsrecht und in die Entscheidungsfreiheit eines Volkes, wenn dem Ruf nach Freiheit mit Panzern und Kanonen Schweigen geboten wird.
Die Sympathiekundgebungen der ganzen freien Welt zeigen, daß es auch da, wo schriftliche Verträge fehlen, noch eine echte Solidarität der freien Menschen gibt. Das Bewußtsein darum wird auch diejenigen innerlich stärken, die den Tag der Befreiung herbeisehnen und mit äußerster Selbstdisziplin und Zurückhaltung, wenn auch vielleicht mit Zähneknirschen, auf den Augenblick warten, wo auch ihnen die unveräußerlichen Rechte wiedergegeben werden, die die Grundlage für das Zusammenleben von Menschen schlechthin sein müssen.
Die Bundesregierung kann nicht verschweigen, daß ihre Beziehungen zur Sowjetunion durch die Verhältnisse in der Zone belastet waren und daß sie durch die Vorgänge in Ungarn neuerlich belastet werden. Die Bundesregierung hat die diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion vor Jahresfrist in der Hoffnung aufgenommen, daß der unmittelbare Meinungsaustausch zwischen den beiden Regierungen zu einer Klärung und zu einer Entspannung des gegenseitigen Verhältnisses führen werde. Die Bundesregierung ist auch heute noch davon überzeugt, daß ihr damaliger Entschluß richtig war. Sie wird sich auch weiterhin bemühen, mit der Sowjetunion im Gespräch zu bleiben. Das Memorandum, das die Bundesregierung vor kurzem in Moskau überreichen ließ, war ein Ausdruck dieses Bemühens. Aber es wäre unaufrichtig, wenn die Bundesregierung angesichts der jüngsten Ereignisse verschwiege, daß das gesamte deutsche Volk diesseits und jenseits der Zonengrenze ein Bestandteil der freien Welt ist und bleiben will.
Das bedeutet, daß die von uns allen im Interesse einer Sicherung des Weltfriedens erwünschte Normalisierung der Beziehungen zwischen der Sowjetunion und dem deutschen Volke zur Voraussetzung
hat, daß allen Deutschen das Recht auf freie Selbstbestimmung gewährt wird.
Es ist die alleinige Aufgabe des deutschen Volkes, seine innere Ordnung zu bestimmen und den politischen Standort zu beziehen, den es nach seiner Überzeugung für den richtigen hält.
Die Bundesregierung hat niemals einen Zweifel daran gelassen, daß die Bundesrepublik und das wiedervereinigte Deutschland bereit sein werden, sich in ein großes und wirksames Sicherheitssystem einzuordnen, das allen Nationen das Recht auf freie Entwicklung einräumt und das allen Völkern die Segnungen eines gesicherten Friedens vermittelt.
Gerade die Vorgänge, von denen ich sprach, geben aber auch der Bundesregierung das Recht und die Pflicht, ihre Forderungen nach Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit erneut anzumelden und keinen Zweifel daran zu lassen, daß sie nichts unversucht lassen wird, um dieses Ziel
selbstverständlich mit friedlichen Mitteln und auf dem Wege ausgleichender Verhandlungen
zu erreichen.
Wir sind davon überzeugt, daß die jüngste Entwicklung in Ost- und Südosteuropa auf weite Sicht einen günstigen Einfluß auf die Lösung der deutschen Frage ausüben muß. Die Überzeugung beruht auf dem ernsten Willen des deutschen Volkes, mit allen seinen Nachbarn, im Osten wie im Westen, in Frieden zu leben und zu einer Verständigung in alien strittigen Fragen zu gelangen. Wie ich schon im Hinblick auf Polen festgestellt habe, ist die Unabhängigkeit unserer östlichen Nachbarn dafür eine wesentliche Voraussetzung.
Wie auch immer die Entwicklung in diesem Bereich verlaufen mag, so kann es doch keinen Zweifel darüber geben, daß die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands nicht ohne die Zustimmung und Mitwirkung der Sowjetunion möglich ist. Wir werden daher nicht aufhören, immer wieder an die Sowjetunion heranzutreten und sie aufzufordern, sich der Mitwirkung an der Lösung dieser Frage nicht zu versagen. Letzten Endes hängt von dieser Mitwirkung der Friede der Welt ab. Denn der unerträgliche Unrechtstatbestand der willkürlichen Teilung Deutschlands ist wahrhaftig geeignet, den Frieden zu gefährden, und das nicht nur im Verhältnis zwischen einzelnen Nationen und nicht nur im europäischen Bereich. Die Entwicklung, über die wir heute hier sprechen, zeigt vielmehr, daß jede ungelöste Spannung, gleichgültig an welcher Stelle in der Welt sie sich bildet, unabsehbare Folgen auslösen kann.
Denn auch in anderen Teilen der Welt ist es zu machtpolitischen Auseinandersetzungen gekommen, die nicht mehr lokalisiert werden können und die uns alle angehen. Ich denke hier in erster Linie an die Ereignisse im Nahen Osten. Es ist nicht erforderlich, den kausalen und chronologischen Ablauf der Dinge zu schildern, der zu den tragischen Ereignissen in Ägypten geführt hat. Die Bundesregierung hat nie einen Zweifel daran gelassen, daß es ihr einzig und allein darauf ankommt, an der Beseitigung von Spannungen mitzuwirken, die durch unbedachte Entscheidungen und Maßnahmen ausgelöst wurden.
Ich glaube, daß ich die Haltung, die die Bundesregierung in dem Konflikt über den Suezkanal einnimmt, als bekannt voraussetzen kann und daß ich mich auch nicht in völkerrechtliche Analysen zu verlieren brauche. Die Bundesregierung hat an den beiden Londoner Konferenzen teilgenommen, auf denen sich diejenigen Nationen, die an der gesicherten Schiffahrt durch den Suezkanal entscheidend interessiert sind, bemühten, eine Regelung zu finden, die der Souveränität des ägyptischen Volkes ebenso Rechnung tragen sollte wie dem gemeinsamen berechtigten Anliegen, einen lebenswichtigen internationalen Schiffahrtsweg im Interesse aller Beteiligten offenzuhalten. Die Bundesregierung beklagt es aufs tiefste, daß diese Bemühungen ergebnislos blieben. Sie glaubt auch heute noch, daß die Vorschläge, die die erste Londoner Konferenz ausgearbeitet hatte, eine geeignete Verhandlungsgrundlage für eine solche Regelung darstellten.
Es erscheint nicht sehr sinnvoll, Betrachtungen darüber anzustellen, warum es zu einer solchen gegenseitigen Verständigung nicht kam. Die Entwicklung ist weitergegangen und es kam zu kriegerischen Handlungen, die wir bedauern, da wir überzeugt sind, daß auch legitime Ziele der Politik nicht mit Waffengewalt verwirklicht werden sollen.
Aus dieser Erkenntnis und Überzeugung heraus hat ja auch die Bundesregierung mit voller Zustimmung des Bundestages wiederholt erklärt, daß auch das brennende Problem der deutschen Wiedervereinigung niemals mit Waffengewalt gelöst werden sollte.
Wir dürfen uns jedoch nicht damit begnügen, die im Vordergrunde des Geschehens stehenden Ereignisse zu sehen. Seit langem bestanden im Nahen Osten latente Spannungen, die weder die beteiligten Mächte noch die Vereinten Nationen auszuräumen vermochten. Völker und Nationen, die auf ,diesem Gebiet zusammenleben und zusammenleben müssen, begegneten sich mit Angst und Mißtrauen. Kleinere Nationen fürchteten die größeren und schlossen sich zusammen. Sie alle bemühten sich, ihre Existenz zu sichern, und beobachteten die gleichen Anstrengungen ihrer Nachbarn mit einer von Mißtrauen geschärften Wachsamkeit, weil sie sich bedroht fühlten.
Es kam vor kurzem zu der bewaffneten Intervention Israels gegen Ägypten, einer Intervention, die von der einen Seite als Reaktion auf eine vermutete Gefahr, von der anderen Seite als ein vorsätzlicher Schlag gegen die bestehende Ordnung verstanden wurde. Es kam zu einer weiteren Intervention englischer und französischer Streitkräfte. Beide Mächte glaubten offenbar, nur durch diese Maßnahmen einen Konflikt lokalisieren zu können, der andernfalls unabsehbare Folgen auslösen würde.
Die Bundesregierung hat alle aufrichtig und ernst gemeinten Bemühungen, den ausgebrochenen Konflikt beizulegen, unterstützt. Wenn allerdings diejenigen, die mit Panzern und Maschinengewehren in einem fremden Lande die Stimme der Freiheit zum Schweigen bringen, sich in diesem Konflikt zum Anwalt der Freiheit, der nationalen Unabhängigkeit und der Menschenrechte aufwerfen, dann kann die Bundesregierung zu ihrem Bedauern nur feststellen, daß damit die ernsthaften und redlichen Bemühungen anderer diskreditiert werden.
Freiheit und Selbstbestimmungsrecht müssen überall gelten und überall anerkannt werden.
Es hieße ein System der Willkür anerkennen, wenn man irgendeiner Nation zubilligen würde, diese Begriffe nach ihrem Ermessen auszulegen und diese Rechte nach ihrem Gutdünken anzurufen oder zu mißachten.
Mit besonderer Aufmerksamkeit hat die Bundesregierung die Bemühungen der Vereinten Nationen verfolgt, schlichtend und vermittelnd einzuwirken. Auch wenn die Bundesrepublik nicht Mitglied der Vereinten Nationen ist, so wird sie solchen Bestrebungen stets ihre ungeteilte Unterstützung zuteil werden lassen.
Die Bundesregierung fürchtet allerdings, daß man die Vereinten Nationen überforderte, wenn man von ihnen erwartete, daß sie einen Konflikt dieses Ausmaßes tatsächlich zu lösen vermöchten. Trotz ihrer Charta, deren rechtliche und ethische Normen wir ohne Einschränkung bejahen, ist sie dazu leider noch nicht in der Lage. Sie ist auch nicht ein übergeordneter und unparteiischer Gerichtshof, sondern eine Versammlung von Staaten, die ihre eigenen Interessen, wenn auch im Rahmen der durch die Charta festgelegten Grundsätze, zu vertreten suchen. Das Abstimmungsverfahren im Sicherheitsrat, das den Großmächten ein Vetorecht einräumt, läßt eine echte richterliche Funktion des Rates nicht zu,
soweit die Großmächte selbst betroffen sind. Im übrigen verfügt der Rat auch nicht über wirksame Vollzugsorgane. Gerade darum kam es ja — ähnlich wie seinerzeit im Völkerbund — zu regionalen Zusammenschlüssen im Rahmen der Charta der Vereinten Nationen. Sie haben sich gerade in den vergangenen Jahren als unentbehrlich erwiesen.
Die Bundesregierung möchte gleichwohl jenen, die sich im Rahmen der Vereinten Nationen selbstlos und verantwortungsbewußt der Lösung des Konfliktes annehmen, ihre besondere Anerkennung und ihren aufrichtigen Dank aussprechen.
Dieser Dank gilt vor allem dem Generalsekretär
der Vereinten Nationen, Herrn Dag Hammarskjöld.
Er wie andere — ich erwähne etwa den General Burns — haben den Beweis dafür erbracht, welche Bedeutung dem menschlichen Einsatz einer lauteren Persönlichkeit auch im Rahmen einer Organisation zukommt, die auf Grund ihrer Statuten nicht mit der wünschenswerten Durchschlagskraft unmittelbar zu handeln vermag.
Ich möchte nun einige Worte über den Besuch sagen, den ich zusammen mit dem Bundesminister des Auswärtigen vorgestern in Paris in Erwiderung eines Bonner Besuchs des französischen Ministerpräsidenten und des französischen Außenministers
abgestattet habe. Die Einladung zu diesem Besuch wurde bereits am 29. September in Bonn ausgegesprochen. Es entsprach dem gemeinsamen Wunsch der französischen und der deutschen Regierung, nach Abschluß des Vertrags über die Rückgliederung der Saar die deutsch-französischen Gespräche weiter fortzuführen und die engen freundschaftlichen Beziehungen, wie sie sich zum Nutzen beider Völker zwischen Frankreich und Deutschland entwickelt haben, zu vertiefen und auszubauen. Das Kommuniqué, das wir vorgestern nach Abschluß unserer Besprechungen in Paris veröffentlichten und das ich als bekannt voraussetzen darf, wird Ihnen gezeigt haben, daß dieser Zweck des Besuchs voll erfüllt wurde.
Vor dem Besuch wurden Stimmen laut, die sich fragend oder kritisch dahin äußerten, der Besuch sei zum jetzigen Zeitpunkt nicht angebracht. Ich möchte annehmen, meine Damen und Herren, daß der Verlauf des Besuchs klar bewiesen hat, daß diese Befürchtungen nicht begründet waren.
Ich hatte mich zur Durchführung dieses Besuches entschlossen, um damit das vertrauensvolle Gespräch über alle Fragen, die unsere Völker berühren, fortzusetzen, und ich bedauere es nicht, den Entschluß auch durchgeführt zu haben. Ein offenes Gespräch zwischen Freunden, meine Damen und Herren, ist immer am Platze,
sei es dann, wenn die Auffassungen in den einzelnen Fragen übereinstimmen, sei es aber auch dann, wenn sie vielleicht einmal voneinander abweichen. Wie sollten denn die Völker zu einer echten und dauerhaften Verständigung kommen, wenn sie sich durch jede krisenhafte Entwicklung in der Welt davon abbringen ließen, die gegenseitige Freundschaft und das Verständnis füreinander zu pflegen!
Ich bin sehr befriedigt von den Gesprächen, die wir in Paris führen konnten und die bestimmt waren von dem Geiste einer rückhaltlosen Offenheit, aber auch von der Überzeugung von einer gemeinsamen Aufgabe. Wir haben unsere Auffassungen ausgetauscht, wir haben Ratschläge erteilt und Ratschläge entgegengenommen und damit die unerschütterliche Entschlossenheit zum Ausdruck gebracht, nie mehr gegeneinander, aber auch nicht nebeneinander zu wirken, sondern miteinander alle Anstrengungen zu unternehmen, unseren Völkern eine friedliche Zukunft zu sichern.
Ich bin besonders glücklich darüber, meine Damen und Herren, daß ich in den Stunden in Paris war, in denen die Entscheidung fiel, die vorgestern in den Abendstunden bekanntgegeben wurde: die Annahme der Vorschläge der Vereinten Nationen und die Feuereinstellung in dem tragischen Konflikt im Nahen Osten.
Die Bundesregierung ist der Überzeugung, daß die Ereignisse der letzten Wochen die Richtigkeit
ihrer politischen Ziele und Vorstellungen mit kaum
zu überbietender Eindringlichkeit bewiesen haben.
Darum war es auch unsere Absicht, mit unseren französischen Freunden über die zukünftige Zusammenarbeit zu sprechen. Seit Jahren bemüht sich die Bundesregierung, den letzten Zweifelnden von der Notwendigkeit einer engen und unverbrüchlichen Zusammenarbeit der europäischen Völker zu überzeugen. Nur wenn wir dieses Ziel rasch und entschlossen verwirklichen, werden wir vor der Geschichte unserer Völker bestehen können. Wenn wir versagen, beschwören wir die Gefahr für unsere Völker herauf, daß wir uns einzeln in einem ausssichtslosen Kampf um die Freiheit verzehren und das Schicksal der Satellitenstaaten teilen, das uns — ich sprach schon davon — in der Tragödie des ungarischen Volkes mit so schauerlicher Eindringlichkeit vor Augen geführt wird.
Die französische und die deutsche Regierung waren sich völlig darüber einig, daß wir auf dem gemeinsam beschrittenen Wege weitergehen müssen. Wir wollen die europäische Zusammenarbeit mit allen, die dazu bereit sind, auf allen Gebieten, die sich dazu eignen, und in allen Formen, die sich dafür anbieten. In den Fragen des gemeinsamen Marktes und der europäischen Zusammenarbeit auf dem Gebiete der Atomenergie sind wir in Paris zu einer vollen Übereinstimmung gekommen, von der wir hoffen und wünschen, daß auch die übrigen an den Brüsseler Beratungen beteiligten Staaten sich ihr anschließen werden.
Darüber hinaus hoffen wir, durch unsere Entscheidungen auch den Weg frei gemacht zu haben, der es Großbritannien ermöglicht, die von dem britischen Schatzkanzler MacMillan angekündigten Absichten eines Anschlusses Großbritanniens an eine europäische Freihandelszone zu verwirklichen.
Mit den französischen Staatsmännern waren wir gerade auch angesichts der jüngsten Ereignisse darin einig, daß die bestehenden Bündnisgemeinschaften gefestigt und verstärkt werden sollten. Wo sich in der jüngsten Vergangenheit mangelnde Übereinstimmung oder gar Risse gezeigt haben, muß wieder eine ungestörte und reibungslose Zusammenarbeit hergestellt werden. Das gilt für die Westeuropäische Union, deren Ausbau wir wünschen, ebenso wie für die atlantische Gemeinschaft. Denn nur in dieser Gemeinschaft werden die europäischen Nationen zu der Kraftentfaltung fähig sein, die notwendig ist, um den uns allen drohenden Gefahren zu begegnen.
Darum haben die französische und die deutsche Regierung gemeinsam vorgeschlagen, die unverbrüchliche Solidarität zwischen den europäischen Mächten, zwischen den Mächten der atlantischen Allianz und allen Nationen der freien Welt zu festigen und sie durch regelmäßig wiederkehrende Zusammenkünfte der Minister der interessierten Staaten zu unterbauen. Wir hoffen, daß alle, die wir hiermit ansprechen, diese Bemühungen unterstützen werden, die nur das Ziel haben, den Frieden, die Sicherheit und die Freiheit aller zu gewährleisten. Das gilt insbesondere für die Vereinigten Staaten, deren Rolle in der atlantischen
Gemeinschaft und deren enge Verbindung mit Europa eine unentbehrliche Voraussetzung für die Erreichung dieses Zieles sind und bleiben.
Die Bundesregierung hofft dringend, daß die Vereinigten Staaten unter der Führung des Präsidenten, dem das amerikanische Volk soeben erneut sein volles Vertrauen bekundet hat, bereit sind, an dieser Festigung der politischen Zusammenarbeit mitzuwirken.
Diese Zusammenarbeit ist für Europa ebenso wichtig wie für die atlantische Gemeinschaft.
Es ist die gemeinsame Aufgabe aller dieser Staaten, die moralischen Werte zu kräftigen, die das Zusammenleben zwischen den Völkern dieser Welt bestimmen müssen. Es kann und darf nicht das Privileg der größeren Mächte sein, selbst darüber zu entscheiden, ob sie sich an Verträge und Vereinbarungen halten oder sie willkürlich brechen wollen, wenn machtpolitische oder ideologische Vorstellungen nach ihrer Auffassung das verlangen. Geschriebenes und ungeschriebenes Recht muß für alle gelten,
und, meine Damen und Herren, alle müssen gleichmäßig auf Anwendung von Gewalt verzichten.
Große und kleine Mächte müssen an diese Grundsätze gleichermaßen gebunden sein; sonst wird sich niemand daran gebunden fühlen. Wenn es das Vorrecht der größeren Staaten nicht sein darf, ihre Stärke dem Schwächeren gegenüber zu mißbrauchen, so darf es andererseits auch nicht dazu kommen, daß kleinere Staaten Verträge und Vereinbarungen im Vertrauen darauf brechen, daß die Großmächte in der heutigen Lage das Risiko kriegerischer Verwicklungen scheuen.
Recht und Gesetz müssen ausnahmslos für alle gelten; andernfalls verpflichten sie niemanden.
Die Bundesregierung glaubt, in der Vergangenheit nach diesen Grundsätzen gehandelt zu haben. Sie wird es auch in Zukunft tun, und niemand wird sie von diesem Wege abbringen können. Aber niemand wird auch von der Bundesregierung, die die Verantwortung für das ganze deutsche Volk trägt, erwarten dürfen, daß sie die harte Wirklichkeit über utopischen Vorstellungen vergißt
und ihre Entscheidungen von einem falschen Wunschglauben bestimmen läßt.
Das ganze deutsche Volk wird den Tag der Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit nur erleben, wenn der Teil Deutschlands, der die Segnungen dieser Ordnung genießt, ihren Wert erkennt und bereit ist, ihn zu schützen und zu erhalten.