Rede von
Dr.
Baron
Georg
Manteuffel-Szoege
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gerade die letzten Ausführungen, die wir gehört haben, haben uns meinem Empfinden nach gezeigt, wie schwierig und wie bedenklich es ist, außenpolitische Fragen in allzu großer Breite zu behandeln. Es ist das schwierigste Problem, das es in einem Parlament überhaupt geben kann, weil eine Fülle von Dingen nur angedeutet, schwach hervorgehoben oder nicht gesagt werden können. Aber grundsätzlich möchte ich mich bei meinen Ausführungen von einem Ausspruch des verehrten Kollegen Dehler leiten lassen, der mich seinerzeit lebhaft beeindruckt hat. Es ist ein Zitat Bismarcks, der dem Sinn nach gesagt hat: Die schlechteste Politik, die man überhaupt machen kann, ist eine wechselnde!
Ich glaube, daß es wirklich ein Verdienst ist, an einer geraden Linie festzuhalten, wenn das auch sicherlich schwierig ist gegenüber einem Partner — ich will den Ausdruck „Gegner" hier nicht gebrauchen —, bei dem die Zielsetzung klar ist, eine Zielsetzung von solcher Kraft, von solcher Stärke, von solcher Durchdachtheit, daß es durch Jahrzehnte schwergefallen ist, sich davon zu überzeugen, daß Menschen die Kraft und den Willen haben, an einer Tendenz festzuhalten, nämlich die Welt von Grund auf zu verändern. Ich glaube, daß wir uns mit diesem Problem praktisch und theoretisch, gleichgültig in welchem Lager wir hier stehen, nicht genug auseinandersetzen können.
Ich erinnere mich, einmal in den Erinnerungen Trotzkijs folgende Begebenheit gelesen zu haben. Als Trotzkij nach der Flucht aus Sibirien nach London zu seinem Meister Lenin kommt und ihm voll Freude über seine revolutionären und agitatorischen Taten berichtet, glaubt er große Anerkennung einheimsen zu können. Da stellt ihm Lenin nur die nüchterne Frage: .,Und wie steht es mit der Theorie?" So seltsam es vielleicht diesem Kreise, der doch auf das Praktische eingestellt sein muß, scheinen mag: wir sollten uns immer wieder vor Augen halten, daß wir uns, wenn wir uns mit einer Kraft auseinanderzusetzen haben, die einen weltanschaulichen Charakter hat, mit der ihr zugrunde liegenden Theorie auseinandersetzen müssen.
An dieser Theorie hat sich nichts geändert.
Ich wage zwar nicht, in die Zukunft zu schauen, aber wenn sich wieder etwas ändern sollte in Moskau, im Kreml, und wenn andere Männer an der Spitze stehen sollten — wie es dem Ablauf der Zeiten entspricht —, dann wird sich an der Theorie nur so viel ändern, daß dieser oder jener glaubt, es habe sich etwas geändert.
Das sollten wir uns vor Augen halten, und man sollte da nicht mit irgendwelcher Herablassung, mit Hochmut geistiger oder sonstiger Art tadeln, sondern man sollte sich innerlich mit dieser Problematik auseinandersetzen. Wer nach Beispielen dafür sucht, daß sich in bezug auf die Zielsetzungen nichts geändert hat, könnte an die NEP-Politik Lenins denken. Hatte sich damals etwas geändert? Die bürgerliche Welt, die die Ruhe, die Bequemlichkeit so sehr sucht — quieta non movere —, glaubte damals, vor Jahrzehnten, als ich ein junger Mann war, auch predigen zu können, es sei doch alles so anders geworden und werde sich nun zum Besten ändern.
Ich glaube, das Zweite, das uns Deutsche besonders angeht, ist nun, daß man vom Gesichtspunkt Moskaus aus feststellt: Die DDR ist eine Realität. Das mag sehr unbequem sein, das mag bedauerlich sein, das mag ärgerlich sein, dem ist so. Geändert hat sich nur — und das ist wesentlich für uns — die Methode. Gerade je fester und geradliniger man an einer Politik festhält und festhalten will, desto mehr muß man sich überlegen, ob nicht einer neuen Methode eine gewandelte Methode auch von unserer Seite entgegengesetzt werden soll.
Bei der DDR haben sich aber zwei Punkte nicht geändert: einmal der militärische. Es ist nicht wesentlich, ob man dort eine Wehrpflicht einführt oder nicht. Sie sind uns dort schon weit voraus. Sie haben dort bereits ein stehendes Heer, ob das nun Polizei oder anders heißt. Dieses Heer ist ausgerüstet und ausgebildet, und diesem Heer wird man, glaube ich, nicht die nichtklassischen Waffen geben; man hat ihm die klassischen Waffen zugewiesen. Ich glaube, auch diese wesentliche Tatsache sollten wir uns vor Augen halten.
Politisch hat sich dort nichts an dem Kurs geändert, und ich frage mich, ob sich dort so viel, wie man glaubt oder hofft oder Merkmale sieht, an dem Kurs wie in den anderen Staaten ändert. Es gilt doch immer das Gesetz, daß kein System so mächtig ist, daß es radikal das ändern kann, was es geschaffen hat. Auch Eltern sind — mögen sie ihre Kinder noch so lieben, noch so wohlwollend erziehen — an das gebunden, was sie ihnen an Erbmasse mitgegeben haben, und sie können das dann nicht mehr ändern.
Diese Betrachtungen geraten ins Philosophische oder Theologische, aber sie haben auch in der praktischen Politik eine ungeheure Bedeutung. Ich glaube daher, daß sich der sogenannte Stalinismus in der sowjetisch besetzen Zone länger und stärker halten muß. Das sage ich insbesondere in bezug auf das, was wir heute in den Morgenblättern lesen.
Neu ist meiner Ansicht nach eine Erscheinung auf dem wirtschaftlichen Sektor; sie macht uns weitere Schwierigkeiten. Nicht daß dort die Verstaatlichung, die Enteignung der Menschen ununterbrochen weiter fortschreitet. Wir merken
nicht, daß auch auf diesem Gebiet, wo man vielleicht am ehesten und am bequemsten anhalten könnte, irgend etwas zum Stillstand gebracht worden ist. Vielmehr braucht man die Sowjetzone, um in Asien die friedliche, wirtschaftliche Erfassungspolitik durchzuführen. Für diese Politik bildet die sowjetisch besetzte Zone einen außerordentlich wertvollen Faktor.
Wenn man alle diese Dinge überlegt, kann man meinem Empfinden nach nicht sagen: Verhandelt mit der Sowjetunion, ihr bekommt dann das, was ihr wollt, doch wieder. — Ich glaube, die Aufgabe derer, die diesen Standpunkt vertreten, sollte sein, die wesentlichen Voraussetzungen für eine solche Verhandlungsmöglichkeit zu schaffen.
Es ist vielleicht etwas weitschweifend und vielleicht etwas unpopulär, wenn ich hervorhebe, daß, solange es Staaten gibt, auch eine Abschätzung dieser Staaten in bezug auf ihre gegenseitige Stärke erfolgt. Es ist ein ehernes, wenn auch erschütterndes Gesetz, daß Macht ein entscheidender Faktor ist. Daher muß jeder, der eine Loslösung unserer östlichen Heimatgebiete aus der Verklammerung anstrebt, in der sie sich zur Zeit befinden, den festen Willen haben, daß dieses von 50 Millionen Deutschen bewohnte Gebiet möglichst stark wird, um den 18 Millionen zu helfen. Unter Stärke sollte man um Himmels willen nicht primär militärische Stärke verstehen; dies spielt nicht die entscheidende Rolle, sondern ganz andere Dinge. Wenn jemand dazu beigetragen hat, daß unsere Wirtschaft stark ist, so dient er denen, die dereinst verhandeln müssen. Wenn jemand dazu beigetragen hat, daß unsere sozialen Verhältnisse nach Möglichkeit gesund werden — sie könnten noch sehr viel gesunder werden und es könnte noch unendlich viel auf dem Gebiet geschehen —,
so erleichtert er künftiges Verhandeln. Wer wünscht, daß wir an Potential gewinnen, um ein Partner derer aus dem Osten zu werden, der muß eine militärische, ich möchte sagen eine physische Erstarkung der Nation wünschen, so schwer sie uns auch fallen mag.
Man sollte nicht immer die Unterscheidung zwischen klassischen und nichtklassischen Waffen machen. Das Erschütternde ist doch, daß wir seit dem Ende des zweiten furchtbaren Weltkrieges eine Reihe von Kriegen erlebt haben, in denen von nichtklassischen Waffen keine Rede war, und doch haben sie wesentliche Entscheidungen mit sich gebracht. Das zweite Erschütternde ist, daß diese Kriege weitgehend einen bürgerkriegartigen, partisanenhaften Charakter hatten, wo die Anwendung von nichtklassischen Waffen überhaupt unvorstellbar ist. Stellen Sie sich bitte vor, wie es um Korea gestanden hätte, wenn Korea einigermaßen militärisch gesichert gewesen wäre. Das namenlose Unglück wäre nicht über dieses Volk gekommen. Militärische Mittel können eine größere Sicherheit zur Wahrung des Friedens, zur Erhaltung einer Nation bewirken als der Verzicht auf diese, und man wird immer wieder von Menschen aus der Zone hören: verzichtet nicht auf dieses Instrument! Ich glaube, wenn in der Zone eine geheime Abstimmung möglich wäre, das Ergebnis würde auch in dieser Richtung erstaunlich sein.
Aber wir müssen noch auf etwas anderes drängen. Wir legen Wert — ich bedaure, daß der Außenminister in diesem Augenblick nicht da ist —
auf die Schaffung eines schlagkräftigen diplomatischen Apparats. Ich will hier nicht auf die Einzelheiten eingehen. Ich will auch vom Standpunkt des Vertriebenen nicht sagen, daß wir mit bestimmten Abteilungen des Auswärtigen Amtes nicht ausgezeichnet gearbeitet haben. Aber wenn man wirklich vor immer wachsenden diplomatischen Aufgaben steht, wenn die Außenpolitik uns vor immer neue Aufgaben stellen wird, deren Umfang wir nicht übersehen können, so müssen wir zugeben, daß die dort zur Verfügung stehenden Kräfte nicht ausreichen. Man sollte gerade gegenüber einem Partner von dieser Beweglichkeit, der bürokratische Vorstellungen in unserem Sinne nicht kennt, nicht allzu bürokratisch eingestellt sein. Mir schiene es ein langwieriger Weg, wollten wir uns für die Ostdiplomaten auf die Entwicklung beschränken, die die Pflanzschule in Speyer einmal nehmen wird. Gerade wenn man den Standpunkt einer militärischen Erstarkung vertritt, sollte man sich auch für eine diplomatisch-politische mit allem Nachdruck einsetzen.
Erlauben Sie mir nun, einen Sprung zu tun und auf das zurückzukommen, was Herr Kollege Kather ausgeführt hat. Mir scheint, daß hier eine ganze Reihe von Punkten zusammengezogen worden sind, die zwar zeitlich tatsächlich zusammenfallen, aber inhaltlich nicht zusammengehören. Das ist die berühmte Simplifizierung der Dinge, die mir bedenklich erscheint. Man könnte noch einen weiteren Fall hinzufügen, nämlich die Rede, die Herr Greve in Braunschweig gehalten hat, wenn man dieses Bukett der Kritik vervollständigen wollte.
Ich sehe die Dinge ein wenig anders. Es ist zweifellos kein abgekartetes Spiel — wenn dieser Ausdruck erlaubt ist —, daß in London und in Braunschweig ähnliches gesagt worden ist, nur mit verschiedener Akzentuierung des Temperaments. Genauso, wie wir Vertriebenen oder jedenfalls ein wesentlicher Teil durchaus befriedigt waren, nachdem man uns mitgeteilt hatte, das sei nicht die Auffassung einer Partei, sondern einer einzelnen Persönlichkeit, ist meiner Ansicht nach die Angelegenheit damit erledigt. Nachdem der Herr Bundesaußenminister in einem eingehenden Brief seinen Standpunkt präzisiert hat, kann ich nur sagen — verzeihen Sie, daß ich das mit einiger Brutalität ausführe —: wir sind zufrieden, daß wir seinen Standpunkt schwarz auf weiß haben.
Der Ausspruch des Herrn von Herwarth war mir nicht bekannt. Aber es regen sich da böse Gefühle in mir. Vor Jahr und Tag hat er auch mir einmal etwas über das Saargebiet gesagt, was mich erbittert hat; einen anderen Ausdruck kann ich in bezug auf Herrn von Herwarth an dieser Stelle nicht gebrauchen. Die Sache ist abgetan, aber vielleicht ist es besser, wenn dieser Diplomat sich einige Zurückhaltung auferlegt.
Ich finde es aber falsch, verzeihen Sie, daß ich das sage, einem Minister das Gehalt — oder seiner Behörde die Finanzierung — abzusprechen, mit dem wir ein Jahr lang in vielen Dingen ausgezeichnet zusammengearbeitet haben.
Es ist durchaus möglich, daß man mir jetzt von
Vertriebenenseite so wie in andern Fällen den Vorwurf machen wird: Du bist schlapp, du bist ein
Mann der Regierung, du trittst nicht energisch auf.
Wir haben dieses Papier erreicht, haben das Schreiben erhalten. Wir haben in der Regierungserklärung eine Deklaration gehört, die wir begrüßen. Unser Wunsch geht aber noch weiter — Sie sind davon orientiert, Herr Außenminister —: Wir wollen mit Ihnen einen dauernden arbeitsmäßigen Kontakt herstellen — wohl wissend, daß Sie nicht alle unsere Wünsche erfüllen können —, genauso wie seinerzeit vor knapp einem Jahr der Herr Bundeskanzler unsere Bitte erfüllte, einen der unseren zu der Fahrt nach Osten mitzunehmen, als es sich um Fragen handelte, die unser Vertriebenenschicksal primär treffen konnten. Auch als es sich um die Formulierung des bekannten Briefes des Herrn Bundeskanzlers handelte, haben zwei von uns mitgeredet, der Abgeordnete Gille und ich. Herr Gille ist Jurist, ich bin ein ungebildeter Mann auf diesem Gebiet. Herr Gille war entgegenkommender und leichter zu befriedigen als ich, und da Herr Gille sehr schwer zu befriedigen ist, war ich mit mir in diesem Moment recht zufrieden, was nicht allzuoft vorkommt.
Meine Damen und Herren, es erschüttert einigermaßen, daß wir uns bei dem Problem der Wiedervereinigung gewissermaßen gegenseitig Vorwürfe machen: Du machst dich nicht stark genug, du bist nicht tätig genug, du bist nicht eifrig genug. Wir streiten untereinander; der eine sagt: Der Weg A ist richtig, und der andere sagt: Der Weg B ist richtig! Aber der Außenwelt wird es viel mehr Eindruck machen, wenn wir sie überzeugen: wir alle eifern um diese Dinge; sie sind — wenn auch in verschiedener Form, vielleicht in ganz gegensätzlicher Form, das kann ich gut begreifen — Herzenssache eines jeden.
Ich halte die von Herrn Kollegen Kather zitierten Aussprüche der „Stuttgarter Zeitung", die ich mit den Aussprüchen in Braunschweig oder mit denen in London in keiner Weise in Verbindung bringen will — beide waren sicherlich nicht nützlich —, für unwürdig und für schädlich. Mit diesen Aussprüchen wird versucht, Menschen, die sich aufopferungsvoll für ihre Schicksalsgenossen einsetzen, als Geschäftspolitiker zu deklassieren. Es ist mir gleichgültig, ob man einen Mann aus der Partei A, B oder C deswegen angreift. Aber so etwas greift dann weiter über; schon hat eine belgische Zeitung diese Formulierung übernommen. Das schadet uns Deutschen allen insgesamt. Die Probleme des Ostens sind letzthin nicht Angelegenheit einer Gruppe von Vertriebenen, sondern sie sind gesamtdeutsche Probleme.
Ich bin fest überzeugt, daß ein Mann in Aachen ebensowenig auf den Osten verzichten darf, wie ein Mann, der zufällig in Königsberg oder Breslau geboren ist. Das Schicksal bindet uns alle in einem Schiff, nur daß wir uns in den verschiedenen Räumen dieses Schiffes befinden mögen. Wer verzichtet, wer alles der Zukunft überlassen will, der zeigt damit nur, daß er in seinem Bestreben, das Volk stark zu machen, weich ist, daß bei uns weiche Stellen vorhanden sind. In die weichen Stellen, gleichgültig welche, stößt der andere hinein, mit einer gewissen Berechtigung, möchte ich sagen.
Uns auf diesem Gebiet stark zu machen scheint mir die gemeinsame Aufgabe zu sein. Ich glaube, die Vertriebenen sollten nach außen hin immer vom Recht auf Heimat reden. Wir wollen alle vom Recht auf Heimat reden, jeder für jeden, genauso
wie wir uns mit warmem Herzen für das Schicksal unserer Volksgenossen im Saargebiet eingesetzt haben. Wir wußten ganz genau, daß wir uns, wenn wir uns für die Verträge einsetzten, für eine Erstarkung Deutschlands auch im Hinblick auf den Osten einsetzten und daß es dann überhaupt erst zu einer Abstimmung kommen konnte. Ich muß Ihnen ehrlich sagen: ich habe mich fast glücklich gefühlt, als ich vor einigen Monaten im Saargebiet war und diese starke und gehobene Stimmung fand.
Ich stimme auch ganz damit überein, daß wir, wie hier von dem Herrn Vorsitzenden der SPD gesagt worden ist, diese Geschlossenheit der Einigkeit der Parteien danken. Sie könnte ein Vorbild sein. Ermöglicht worden aber ist diese Abstimmung durch eine vorausschauende Politik der Bundesregierung;
um diese Tatsache, die geschichtlich feststeht, kommt man nicht herum. Ich glaube, daß, wie jeder Erfolg auch indirekte Erfolge hat, nichts mehr der Stärkung des Durchhaltewillens der 18 Millionen unerlösten Schwestern und Brüder gedient hat, als daß sie nun erleben: dieses Gebiet kommt wieder zu Deutschland zurück. Da sehen Sie die innere Verbundenheit zwischen Westen und Osten, obgleich die Voraussetzungen völlig andere sind. Je mehr sich das Saargebiet uns nähert, desto mehr werden wir bestrebt sein, die Beziehungen zu Frankreich zu vertiefen und auszubauen in der wohlverstandenen Erkenntnis, daß es für diesen Staat nicht leicht ist, diese Entwicklung sich abspielen zu sehen.
Wir Vertriebenen — und alle, die mit ihnen fühlen — sollten uns vor Augen halten, daß es nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht auf die Heimat gibt. Dieses Wort enthält viel mehr, als es zunächst den Anschein hat. Was würde es bedeuten, wenn dieser und jener sagte: Ich bin nun rangiert, mich interessieren die Dinge nicht mehr?
Halten Sie sich bitte vor Augen, daß jede Zustimmung zu einem Unrecht weiteres Unrecht fördert. Welcher Mensch wußte, als in den 20er Jahren, also vor über 30 Jahren, die Griechen aus ihren Heimstätten vertrieben wurden, wo sie länger gelebt hatten, mehr als tausend Jahre länger als diejenigen, die sie vertrieben, und als man Schiffer und Händler und Reeder und Seeleute zu kleinen Bauern machte in einem ärmlichen Lande, daß damit die Anfänge geschaffen wurden, die den Einbruch aus dem Norden nach Griechenland außerordentlich erleichtert haben? Man darf niemals aus Bequemlichkeit einem Unrecht zustimmen. Wenn jeder Vertriebene heute glänzend eingebaut wäre, was übrigens nicht der Fall ist, so müßten sich die Nichtvertriebenen erheben und sagen: Wir dulden dieses Unrecht nicht. Geschähe das nicht, so würde die Folge sein, daß einmal einem anderen Volk, vielleicht auf einem anderen Kontinent, dasselbe entsetzliche Unrecht zugefügt werden könnte, wenn das Unrecht ungestraft bliebe. Das ist doch der tiefere Sinn alles historischen Geschehens, daß man die Gefahren von Unrecht erkennt und unerbittlich auf seinem Standpunkt steht, damit dieses Unrecht nicht wieder geschehen kann.
Meine sehr Verehrten, während wir heute in Ruhe hier sitzen, sterben vielleicht in Posen Menschen anderer Sprache und anderer Nationalität. Sie sterben aus demselben Anlaß wie vor wenigen Jahren Deutsche vor den Toren Berlins. Sollte uns das nicht das Gefühl der Verbundenheit über Sprachen, über Grenzen hinweg mit allen Menschen geben, die Sinn für Freiheit haben?
Wir wollen in dieser Stunde mit warmem Herzen, ohne Haß und Rachegefühle an alle Menschen denken, die für Unrecht leiden und sich gegen Unrecht und Unfreiheit aufbäumen.