Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diesem nun wiederholten Versuch der Regierung und ihrer Fraktionen, das Wehrpflichtgesetz unter allen Umständen und ohne Rücksicht auf das politische Porzellan, das innerhalb und außerhalb Deutschlands damit zerschlagen werden würde, noch vor den Parlamentsferien durchzupeitschen, werden wir auf das schärfste widersprechen.
Der Ältestenrat hat in seiner gestrigen Sitzung zur Vorbereitung der Tagesordnung für die nächste Woche beschlossen, einige sehr wesentliche und auch nach unserer Meinung vordringliche Gesetzesvorlagen behandeln zu lassen.
Da sind zunächst einmal die zweite und dritte
Lesung der Steuersenkungsgesetze. Dem Bundestag werden zur Gewerbesteuer, Umsatzsteuer, Einkommen- und Körperschaftsteuer und zur völligen oder teilweisen Aufhebung des Notopfers Berlin nicht weniger als sechs Vorlagen zugehen. Schon jetzt wissen wir alle, wie wenig aus den Versprechungen auf eine wirksame Steuersenkung geworden ist.
Gerade weil der Bundesfinanzminister sich dabei so furchtbar knickrig gezeigt hat, werden bei der Behandlung dieser Gesetzentwürfe in der nächsten Woche die gesamte Steuerpolitik des Bundes und die Hortung von Milliarden auf Kosten des Steuerzahlers noch einmal zur Sprache gebracht werden müssen.
Das um so mehr, meine Damen und Herren, als der Bundesfinanzminister der erstaunten Öffentlichkeit gestern abend am Schluß der Haushaltsberatungen bekanntgab, daß die von der Bundesregierung freiwillig übernommenen zusätzlichen Stationierungskosten für die Alliierten von mehr als 1,4 Milliarden Mark ohne Schwierigkeiten aus den von ihm gehamsterten Mitteln gezahlt werden könnten. Das sagt der gleiche Bundesfinanzminister, der bei den Haushaltsberatungen so viele Anträge auf Förderung unseres kulturellen und sozialen Lebens zu Fall gebracht hat.
Für die nächste Woche ist ferner die zweite und dritte Lesung einer Novelle zum Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz vorgesehen. Wir Sozialdemokraten halten die Beratung dieser Novelle in Verbindung mit der eines Antrags unserer Fraktion auf Vorwegbewilligung von Haushaltsmitteln zugunsten einer schnelleren Zahlung an die
Kriegsgefangenen für viel vordringlicher als ein neues Wehrpflichtgesetz.
Oder wollen Sie auch diese Hilfe für die ehemaligen Kriegsgefangenen wieder einmal zurückstellen zugunsten der Aufstellung einer neuen Armee?
Ferner haben die Regierungsparteien im Altestenrat die vordringliche Behandlung des Bundesleistungsgesetzes und des Schutzbereichgesetzes gefordert, zweier Gesetze, die unzweifelhaft sehr weit in den Lebensbereich und in die Rechte jedes einzelnen Staatsbürgers eingreifen und daher gründlichst debattiert werden müssen.
Schließlich haben wir Sozialdemokraten seit langem den Wunsch, noch vor den Parlamentsferien unseren Gesetzentwurf über den Schutz der arbeitenden Jugend behandelt zu sehen.
Wenn Sie jetzt auf voreilige Verabschiedung von Gesetzen drängen, die die Jugend erneut in Kasernen bringen sollen, dann wollen wir zunächst einmal die Rechte derjenigen Jugendlichen geschützt sehen, die wegen der schlechten sozialen Verhältnisse ihres Elternhauses frühzeitig in die Fabriken zur Arbeit gehen müssen.
Es dürfte nun keinem Zweifel unterliegen, daß dieses reichhaltige Programm in den Arbeitskreisen, in den Vorständen der Fraktionen und schließlich auch in den Fraktionen selbst gründlich durchgearbeitet und für die Behandlung im Plenum vorbereitet werden muß. Wenigstens erhebt unsere Fraktion für sich den Anspruch hierauf.
Daher scheint es uns völlig unmöglich, in dieses Paket von wichtigen und vordringlichen Gesetzen noch die zweite und dritte Lesung des Wehrpflichtgesetzes hineinzunehmen. Vielleicht aber hofften Sie sogar, das Haus werde auf eine gründliche und sorgfältige Aussprache über die mit der Wehrpflicht verbundenen und damit zusammenhängenden Probleme verzichten. Meine Damen und Herren, Sie mögen dann im Plenum schweigen, wenn Sie für den nächsten Mittwoch die zweite Lesung durchsetzen. Wir jedoch werden sagen, was wir von dieser Politik und von diesem Gesetz halten, und wir werden es der Öffentlichkeit sehr deutlich und sehr gründlich sagen. Von den Problemen, ob Freiwilligen- oder Berufsarmee, nehmen Sie überhaupt keine Notiz, und über unsere große Sorge, daß auf dem Wege, den Sie jetzt gehen, die letzten Chancen der Wiedervereinigung auf ein Minimum zusammenschrumpfen werden, gehen Sie leider mit einem Achselzucken hinweg.
Daher die Frage, was denn eigentlich passieren würde, wenn das Wehrpflichtgesetz erst nach den Parlamentsferien beraten würde. Sie ketten sich noch immer an Beschlüsse und an längst auch von Ihnen für überholt gehaltene Interviews Ihres Kanzlers aus früheren Zeiten. Sie tun gerade so, als wenn sich in der Welt auf diesem Gebiet in den letzten Monaten nichts geändert hätte. Vor den Parlamentsferien 1955 — ich darf heute daran erinnern — sind Sie beim Freiwilligengesetz mit der gleichen Methode vorgegangen. Was war der Erfolg? Das Freiwilligengesetz blieb, ohne daß etwas geschah, drei Monate liegen, und im Herbst 1955 waren auch Sie der Überzeugung, daß es besser
gewesen wäre, man hätte dieses Galopptempo vermieden.
Das Wehrpflichtgesetz, das Organisationsgesetz und die Dauer der Dienstzeit sind politisch eine Einheit. Nur aus gesetzestechnischen Gründen und um der besseren Übersichtlichkeit willen soll dieses einheitliche politische Problem in drei verschiedenen Gesetzen erfaßt werden. Das eine bedingt das andere, und das andere ist ohne das eine gar nicht durchführbar. So mogeln Sie sich doch eigentlich selber etwas vor;
denn ein Wehrpflichtgesetz, wie es jetzt verabschiedet werden soll, nutzt Ihnen gar nichts. Ohne das entscheidende Organisationsgesetz über die Bundeswehr bleibt das Wehrpflichtgesetz, das Sie jetzt vor den Ferien durchbringen wollen, ein Torso. Es wird noch lückenhafter und unvollständiger, weil Sie nicht einmal Vorschriften über die Dauer der Dienstzeit aufnehmen wollen.
Ich frage Sie auch, wie wollen Sie es eigentlich vor Ihrem Gewissen verantworten
— warten Sie erst einmal ab, was ich fragen will; Sie dürfen diese Frage gleich beantworten —, junge Menschen zum Militärdienst zu zwingen, ohne ihnen bei der Einberufung sagen zu können, wie lange sie dabeibleiben müssen?
Man fragt sich dann — die Frage drängt sich geradezu auf —, welche Gründe Sie haben. Es hat sich schließlich auch in Deutschland herumgesprochen — vielleicht nicht bis zu den tauben Ohren des Herrn Bundeskanzlers —, daß eine vertragliche Verpflichtung Deutschlands zur Einführung der Wehrpflicht und zur Aufstellung einer Wehr von 500 000 Mann gar nicht besteht.
Im gleichen Augenblick, und ausgerechnet in diesem Augenblick, wo fast alle Länder die Zahl ihrer Soldaten vermindern und sich überlegen, welche Möglichkeiten sie haben, abzurüsten, wollen Sie einen völlig anderen Weg gehen.
Wir haben Sie damals — das will ich Ihnen zum Schluß noch in Erinnerung rufen — vor dem übereilten Abschluß der NATO-Verträge gewarnt. Aber Sie meinten, daß durch eine Politik der Stärke unwiderrufliche Tatbestände geschaffen werden müßten, die die Russen zum Nachgeben in der Frage der Wiedervereinigung zwingen würden. Heute weiß alle Welt, daß wir mit unseren Warnungen leider recht hatten. Darum hüten Sie sich — und davor warnen wir Sie —, jetzt mit dem Wehrpflichtgesetz ebenfalls unwiderrufliche Tatsachen zu schaffen, die uns den Weg in eine neue und elastischere Außenpolitik versperren.