Die Sozialreform ist wirklich mehr als nur eine Frage der Leistungsgestaltung unserer Rentenversicherung. Bei der Aussprache, die hier heute geführt wird und die — das ist schon mit Recht festgestellt worden — sehr weit in Einzelheiten gegangen ist, die eigentlich der Debatte im Ausschuß vorbehalten sein sollten, möchte ich mich bemühen, die großen grundsätzlichen Fragen anzusprechen, die uns die Rentenreform als ein Teilstück der Sozialreform aufgibt.
Ich möchte gleich vorweg feststellen — ohne zu wiederholen, was meine Vorredner angesprochen haben —, daß bei allem Primat der sozialpolitischen Aufgabe, die uns gestellt ist, der unlösbare Zusammenhang mit der Gesellschaftspolitik, den volkswirtschaftlichen Problemen und den finanzpolitischen und währungspolitischen Problemen nicht übersehen werden darf. Aus der Einsicht in diese Zusammenhänge ergibt sich die Notwendigkeit, auch hier bei der Rentenreform, die ein bedeutsames Teilstück für die Neugestaltung der sozialen Leistungen ist, mit Rücksicht auf den großen Personenkreis, den sie betrifft, die außerordentlich ernste und wichtige Frage zu beachten, ob mit diesem Teilstück die Weichen für die Lösung der übrigen sozialen Probleme, deren Lösung uns gleichermaßen aufgegeben ist, richtig gestellt sind.
Die Fraktion der Deutschen Partei hat, seit sie in der Öffentlichkeit zu diesen Problemen Stellung genommen hat, ohne Schwanken und in absoluter Eindeutigkeit — sie hat das auch mit ihren Anträgen hier im Bundestag getan — eine klare Haltung in allen grundsätzlichen Fragen eingenommen. Ich kann nur wiederholen, was ich in diesen Wochen in der Öffentlichkeit oft zu sagen ver-
pflichtet war: daß es besser gewesen wäre, Sie hätten den Antrag der Deutschen Partei vom 27. Oktober 1955 hier mit uns diskutiert und wir hätten über grundsäzliche Fragen Einverständnis erreicht, um damit der Regierung schon ein klares Bild für ihren Entwurf zu geben, der dann wahrscheinlich in der Behandlung vieler Grundsatzfragen anders ausgefallen wäre. So sehr wir es auch bedauern, — Sie haben sich diesen Grundsatzentscheidungen damals versagt und den Antrag der Fraktion der Deutschen Partei nicht diskutiert.
Wir können daher, obwohl wir dieser Regierung als Koalitionspartner angehören, heute nur feststellen, daß der uns vorliegende Regierungsentwurf mit den Grundsätzen, die wir auch für die Innenpolitik als Grundlage unserer Koalition ansehen, durchaus nicht in allen Fragen übereinstimmt. Die Deutsche Partei hat ihre ernsten Bedenken gegen die Ausdehnung der Versicherungspflicht auf alle Arbeitnehmer immer wieder geltend gemacht.
Sie hat dabei darauf verwiesen, daß es zu den demokratischen Tugenden gehören sollte, niemanden gegen seinen Willen und gegen die soziale Notwendigkeit in den Versicherungszwang einzubeziehen.
Die in dem Gesetzentwurf getroffene Entscheidung widerspricht auch den in diesem Hause von unseren Koalitionspartnern so oft betonten Grundsätzen der Verteidigung der Freiheit, der Eigenverantwortung, der Subsidiarität und den Grundlagen der katholischen Soziallehre, von denen sich die protestantische Sozialethik absolut nicht unterscheidet. Es ist heute schon sehr richtig gesagt worden, welch großer sozialethischer Auftrag darin liegt, möglichst vielen Menschen unseres Volkes 'die Gelegenheit und die Möglichkeit zum Tragen des Risikos aus eigener Kraft zu geben.
Wenn heute auch noch nicht darüber gesprochen wird, welche Folgen die totale Einbeziehung aller Arbeitnehmer in die Zwangsversicherung haben wird, so möchte ich schon heute — wir werden darüber noch gründlich reden müssen — darauf hinweisen, daß es wahrscheinlich taktische Gründe hat, wenn heute das letzte Ziel — etwa der Beseitigung der Beamtenrechte — noch verschwiegen wird. Die Personenkreisfrage ist natürlich mit weit mehr verbunden als nur mit der Einbeziehung aller Arbeitnehmer. Sie ist u. a. unlösbar gekoppelt mit der Frage des Staatsbeitrags und damit mit der Erhebung und Verwendung von Steuermitteln. Zwischen der Wirtschaftskraft und der Soziallast, zwischen den Empfängern von Leistungen und denen, die sie aufbringen müssen, muß ein ausgewogenes Verhältnis hergestellt werden. Dabei muß ich immer wieder darauf hinweisen — was in der öffentlichen Diskussion so leicht übersehen wird —, daß die Rentner keine homogene Gruppe von armen Leuten sind und die Herausziehung von immer neuen Mitteln aus den Taschen der Steuerzahler nur dann zu verantworten ist, wenn dies gezielte Leistungen für diejenigen Rentner ermöglicht, die wirklich zu ,den Armen gehören und Hilfe dringend nötig haben. Den alten Menschen wirksam zu helfen, wird uns aber nicht allein mit dem Mittel der Rentenversicherung gelingen. Darum wehre ich mich dagegen, daß in der öffentlichen Diskussion soziale Hoffnungen erweckt werden, die Reform der Rentenversicherung allein könne alle sozialen Notstände beseitigen.
Mit Recht ist darauf hingewiesen worden, daß die größte Gefahr — der Herr Bundeskanzler hat neulich im Zusammenhang mit der Inflation auf psychologische Gefahren hingewiesen —
darin besteht, durch soziale Versprechungen psychologisch Hoffnungen zu erwecken, die zu sozialen Enttäuschungen führen können.
Der Herr Bundesminister für Arbeit hat heute in der Begründung — und das geschieht seit Monaten in der Öffentlichkeit — auf die veränderte Gesellschaftsstruktur hingewiesen. Es ist ein offenes Geheimnis, daß zwei Kriege und zwei Währungsreformen die Gesellschaftsstruktur von Grund auf verändert haben. Aber es ist doch wohl nicht so, daß die veränderte Gesellschaftsstruktur unsere Arbeitnehmer schutzbedürftiger gemacht hat. Ich glaube, daß ganz andere Schichten — das ist heute vom Kollegen Schellenberg und anderen angesprochen worden — schutzbedürftig sind und es unsere Aufgabe ist, die Frage der Schutzbedürftigkeit neu zu überdenken. Viele Arbeiter sind nicht nur mündige Staatsbürger; sie sind Eigentümer von Grundstücken, sie haben hohe Einkommen, sie sind selbstverantwortlich und durchaus zum Tragen von Risiken bereit. Wenn ich mir das Schicksal derjenigen vorstelle, die alt sind und Eigentum verloren haben, wenn ich an die Regelung des Lastenausgleichs oder an die ungelösten Probleme der Fürsorge denke, dann glaube ich, daß wir neue Wege für eine echte Altershilfe mit Mitteln der Gemeinschaft des ganzen Volkes finden müssen, um diese Probleme vollständig zu lösen. Aber diese Wege zu suchen und zu finden setzt Kenntnis der Not voraus und Kenntnis des Tatbestands, daß die Zahl der Renten- und Unterstützungsempfänger aus der Rentenversicherung nur die Hälfte aller Unterstützungsempfänger ausmacht.
Der Herr Minister hat heute morgen auch darauf hingewiesen, daß der Familienverband nicht mehr existent ist; aus seinen Worten habe ich herausgehört, daß er anzunehmen scheint, der Familienverband sei nur noch in ländlichen Bezirken intakt. Wir sollten auch hier nicht zu große Pessimisten sein! Die Zeit nach dem großen Zusammenbruch hat doch gezeigt, daß gerade die Familien die Zusammenbrüche am besten überdauert haben
und daß — gottlob — noch echtes Zusammengehörigkeitsgefühl und Verantwortungsbewußtsein für die Familie innerhalb der Familen, auch wenn sie aus Wohnungsnot getrennt sind, lebendig und wirksam ist, und das nicht nur auf dem Lande, sondern auch in den Städten. Unsere sozialpolitische Aufgabe muß es sein, dieses Zusammenwirken zu erhalten und darüber hinaus zu fördern. Das geschieht mit Maßnahmen der Sozialpolitik genau so wie mit der Steuerpolitik als einem Mittel der Sozialpolitik. Die Auswertung der L-Statistik in ihrem zweiten Teil, noch mehr aber eine gründliche Erforschung der wirklichen Tatbestände der sozialen Not werden uns bei künftigen Beratungen nützlich sein.
Die Selbstverantwortung und die Selbsthilfe, von denen alle Parteien von links bis rechts und von rechts bis links in ihren Deklamationen so oft sprechen, müssen Wirklichkeit werden und in den Gesetzen ihren Niederschlag finden. Zu wissen, daß sich dazu Arbeitnehmer wie Arbeitgeber gemeinsam bekennen, war für mich ein erfreuliches Erlebnis, besonders als sich auf der Tagung der Gesellschaft für Versicherungswissenschaft der Vorsitzende des Verbandes der Rentenversicherungsträger, Direktor Gassmann, namens der Selbstverwaltung zu einem Grundsatz bekannte, dem auch meine politischen Freunde immer das Primat geben: daß „Eigenhilfe vor Gemeinschaftshilfe und Gemeinschaftshilfe vor Fremdhilfe" gehen muß. Wenn das aber so ist und wenn wir die Selbstverantwortung stärken wollen, so können wir auch Opfer von den Gemeinschaften verlangen. Dann werden wir die sozialen Leistungen auch so gestalten können, daß sie ihren Preis und die Opfer wert sind, die wir dafür fordern müssen.
Ich muß mit großem Bedauern feststellen, daß viele Erklärungen einzelner Minister und Regierungsmitglieder im Gegensatz zu den Beschlüssen stehen, die sie dann gefaßt haben. Die Beseitigung jeder Versicherungspflichtgrenze ist ein Mangel an Konsequenz aus großen sozialethisch oder religiös begründeten Erklärungen, die leider nicht zu dem notwendigen Bekenntnis in der Tat geführt haben. Wer alle Beschäftigten in den Versicherungszwang einbeziehen will, ja wer morgen — der Kollege Horn hat das ausgesprochen, und ich teile seine Sorge — die Versicherungspflicht auf Bauern, übermorgen auf Handwerker und demnächst vielleicht auf alle freien Berufe ausdehnen will, der steht eben im Gegensatz zu dem, was in den Erklärungen — von denen ich immer angenommen habe, daß ihnen eine sozialethische Überzeugung innewohnt — gesagt worden ist.
Die Bundesregierung hat sich immer gegen den allgemeinen Versorgungszwang ausgesprochen. Diese Auffassung ist auch bei der Heraufsetzung der Versicherungspflichtgrenze in der Angestelltenversicherung von 7200 auf 9000 DM im Jahre 1952 beteuert worden. Der Herr Bundeskanzler und der Herr Bundesfinanzminister haben in Wort und Schrift immer wieder auf den Willen der Bundesregierung hingewiesen, die Selbsthilfe zu fördern und den Versicherungszwang zu begrenzen. Der Herr Wirtschaftsminister Professor Erhard hat ihnen nie nachgestanden und immer wieder betont, „daß die wirtschaftliche Freiheit und der totale Versicherungszwang sich nicht miteinander vertragen". Der Hinweis auf eine Beitragsbemessungsgrenze, die zugleich Leistungsbemessungsgrenze ist. ist kein ausreichendes Argument, insbesondere dann nicht, wenn diese Beitragsbemessungsgrenze dynamisch gestaltet werden soll und sich in laufender Entwicklung den Durchschnittslöhnen anpassen soll.
Ganz offensichtlich ist, daß, wer einer solchen Konsequenz zustimmt, auch alle die weiteren Konsequenzen überlegen muß, die sich von B bis Z aus dem A ergeben, insbesondere die Frage der Zuschüsse aus Steuermitteln, die auch in Zukunft den Rentenversicherungsträgern noch gegeben werden. Sie tun sicher der Sozialdemokratischen Partei unrecht, wenn Sie ihr vorwerfen, daß sie 40 % Staatszuschüsse fordere, wenn Sie gleichermaßen mit Ihrem Entwurf 42 % Staatszuschüsse fordern! Die Frage ist eben nur, wie man das klarmacht. Ich bin nicht verdächtig, ein Freund des Versorgungsgedankens zu sein; aber ich halte es für sauberer, wenn mein Kollege Schellenberg sagt: wir wollen 40 °/o aus Steuermitteln als Versorgungsanteil haben. Dazu kann ich klar ja oder nein sagen. Bei dem Regierungsentwurf — es ist heute mehrfach gesagt worden — ist manipuliert; da ist der Staatszuschuß verborgen auch da. Ich werde noch darauf kommen, wie sich das auswirkt.
Wenn also allen diesen Erklärungen der Bundesregierung und verantwortlicher Minister unserer Regierung, die zur Frage der Subsidiarität, der Selbstverantwortung und der Bekämpfung materialistischer Ziele abgegeben worden sind, überhaupt noch Glauben geschenkt werden darf, dann darf der unbegrenzte Versicherungszwang nicht Ziel der Regierung sein, dann muß er in diesem Hause aus Verantwortungsbewußtsein auch vor der Zukunft abgelehnt werden.
Die Bundesregierung hat in einer Vorlage — ich habe sie schon neulich einmal zitiert —, die noch als Drucksache 67 im Sozialpolitischen Ausschuß liegt, bei der Begründung ihres Gesetzes zur Begrenzung der Versicherungspflicht in der Krankenversicherung wörtlich erklärt — nachzulesen in der Bundestagsdrucksache —:
Die deutsche Sozialversicherung will bewußt nur Personen erfassen, die wegen ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage eines Schutzes gegen die Wechselfälle des Lebens bedürfen. Auch die Vergünstigungen der freiwilligen Versicherung sollten nur Personen zuteil werden, deren Einkommen eine bestimmte Grenze nicht überschreitet.
Ich möchte es bei diesen Erinnerungen, denen ich noch viele aus Reden und Aufsätzen hinzufügen könnte, belassen.
Die moralische Begründung und die Rechtfertigung, die für eine Zwangsversicherung gegeben werden, können aber doch nur die sein, einen moralischen Anspruch auf die Hilfe der Gemeinschaft denen zu geben, die in Not sind oder die sich aus irgendwelchen Gründen selbst nicht helfen konnten oder nicht mehr helfen können. Eine gute Wirtschaftspolitik und der steigende Wohlstand, dessen wir uns erfreuen, sollten dazu beitragen, immer weniger Menschen schutzund hilfsbedürftig zu machen. Es ist fast unverständlich und es wäre ein Fehler unserer Wirtschaftspolitik, wenn eine umgekehrte Entwicklung, nämlich die Schutzbedürftigkeit größerer Personenkreise aus den Reihen der leitenden Angestellten oder der hochverdienenden Facharbeiter oder bestimmter Selbständiger — wobei ich die kleinen Selbständigen durchaus ausnehmen möchte —, die Folge wäre. Das ist auch nicht begründet. Sehr viele von uns haben als Abgeordnete des Bundestages in den letzten Jahren Gelegenheit gehabt, im Ausland Vergleiche anzustellen, Vergleiche mit dem wirtschaftlichen und sozialen Aufbau, mit den wirtschaftlichen und sozialen Leistungen unseres Landes und mit dem Ergebnis unserer Wirtschafts- und Sozialpolitik, auch mit den Gefahren der Vollbeschäftigung. Ich glaube, daß bei einem solchen Riesenetat für soziale Leistungen, wie wir sie haben, der Fehler nur darin liegt, daß irgendwo nicht richtig gesteuert ist.
In der gestern hier angesprochenen Tagung der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft hat
Herr Ministerialdirektor Dr. Jantz in Stellvertretung seines Ministers dessen Auffassung verdeutlicht. Ich sage dem Herrn Minister — jetzt ist er fortgegangen —:
ich hoffe, daß er sich hier genauso zum Sprecher seines Ministerialdirektors machen wird, dem hier das Wort versagt ist, wie sich der Herr Ministerialdirektor in offener Feldschlacht so oft zum Sprecher des Herrn Ministers gemacht hat. Zu der dort vertretenen Auffassung habe ich dem Herrn Ministerialdirektor in freimütiger Offenheit gestern meine Meinung gesagt. Mir können also der Herr Minister und der Herr Ministerialdirektor nicht vorwerfen, daß ich schweige, wo das Gewissen zum Reden zwingt.
— Das glauben Sie nicht?
— Ich freue mich, daß Sie mich so gut verstehen.
Der Herr Ministerialdirektor hat in dieser öffentlichen Versammlung die „obligatorische Selbstvorsorge" als neue Deklaration für die totale Zwangsversicherung bekanntgegeben. — Herr Horn zieht die Stirn in Falten und denkt wahrscheinlich: Das ist wieder so ein Schlagwort! Gewiß, aber in diesem Schlagwort, in dieser neuen Sprachschöpfung liegt doch eine ungeheuerliche Gefahr! Daß man „Selbstvorsorge" schon so auffassen kann, daß sie mit einer „obligatorischen Zwangsversicherung" gleichgesetzt werden soll, sollte uns doch sehr zu denken geben. Und die weitere Feststellung des Herrn Dr. Jantz, „daß die Vorsorge nicht mehr dem einzelnen überlassen bleiben darf", sollte einem evangelischen Theologen, jedem Kenner der Sozialethik genauso Gewissenskonflikte besorgen wie dem Kenner der katholischen Soziallehre. Professor R ü s t o w hat nicht auf der gestrigen Tagung, sondern auf der Tagung der Gesellschaft für soziale Marktwirtschaft im April 1955 unter dem Motto „Eine zielklare Sozialpolitik" über eine sich anscheinend fortschrittlich dünkende Meinung berichtet, die von einem als sachverständig geltenden Gewerkschaftler vorgetragen wurde, „die Selbsthilfe sei ein letzter Rest des Mittelalters, der möglichst rasch überwunden werden müsse; ideal sei die hundertprozentige Sicherung gegen alle Risiken". Die Frage, woher dann noch die Antriebskräfte des einzelnen zur Selbstvorsorge kommen sollten und wer dann die Kosten dieser Experimente tragen müßte — da der Staat die Summen, die er verteilt, ja erst eintreiben muß und sie nicht nur über Sozialversicherungsbeiträge und Steuern, sondern auch über indirekte Steuern einzutreiben pflegt —, wird in der Diskussion von den Vertretern solcher Ansichten im allgemeinen nicht beantwortet.
Wir von der Deutschen Partei haben die Zwangsversicherung immer nur als ein notwendiges Übel und ihre Beschränkung als eine dringende Notwendigkeit deshalb angesehen, weil wir den Menschen helfen wollen auf dem Wege zur Selbstvorsorge, zur Selbstverantwortung und damit zur Freiheit.
Ich glaube, es ist in diesem Raume nicht ohne ernsthaften Eindruck geblieben, was sehr viele Kollegen aus allen Fraktionen gehört haben werden: daß, als der Kölner Rundfunk im September 1955 in seiner Sendereihe „Der Hörer hat das Wort" das Thema erörtern ließ, „ob die Altersversorgung Sache des Staates oder des einzelnen sein solle", der erfreuliche und außerordentlich bemerkenswerte Tatbestand festzustellen war, daß mindestens 90 °/o der Zuschriften — so teilte es der Rundfunk mit — davon ausgegangen sind, daß es die Aufgabe jedes Staatsbürgers sei, sich zunächst selbst zu helfen. Ich kann nur sagen: wenn die Staatsbürger so vernünftig sind, warum sollten wir als ihre Sprecher nicht mindestens so vernünftig sein,
— ja, möglichst noch vernünftiger sein?!
Es wurde in vielen dieser Zuschriften die Besorgnis zum Ausdruck gebracht, daß der Staat, der seinen Bürgern das Lebensrisiko ganz abnehme, zuviel Macht über sie gewinnen könnte. Ich glaube, das ist auch der Inhalt gewisser sozialethischer Betrachtungen, die aus den gleichen Kreisen kommen, welche einerseits und andererseits nicht die Konsequenzen aus ihren Betrachtungen ziehen.
Die Sozialdemokratische Partei begrüßt die Einbeziehung aller Arbeitnehmer. Das ist ihr altes Programm, und wir wundern uns nicht darüber; sie hat dafür in der Vergangenheit manche Gründe angegeben. Heute hat Herr Schellenberg leider nur einen Grund genannt, mit dem ich nicht einverstanden bin: das ist der Arbeitgeberanteil. Ich halte es sehr wohl für möglich, daß man über den Weg der Tarifpolitik und über Verträge auch den höher verdienenden Arbeitern und Angestellten den Arbeitgeberanteil oder den Versicherungsbeitrag, wenn sie ihre Sicherung selbst besorgen, als freiwillige Leistung erstattet.
Aber ich will nicht auf einzelne Probleme eingehen. Ich will nur sagen, daß dieses Argument nicht sticht und daß dieses Problem auf einem andern Wege, nicht auf dem Weg totaler Zwangsversicherung, gelöst werden kann.
Die Ausdehnung der Versicherungspflicht ist aber auch nicht damit zu rechtfertigen, daß dadurch der Sozialversicherung neue Mittel zugeführt werden. Wir behandeln augenblicklich im Arbeitsausschuß das gleiche Problem, und ich brauche nur darauf hinzuweisen, daß zur Aufbringung der Mittel für die Rentenerhöhung 1 % der Arbeitslosenversicherung übertragen werden soll und daß zu gleicher Zeit die Arbeitslosenversicherung auf alle Arbeitnehmer ausgedehnt werden soll, um damit auf einem Umweg der Arbeitslosenversicherung neue Mittel zu bringen. Ich glaube, daß auch diese Wege nicht geeignet und nicht richtig sind, um die schwerwiegenden Probleme der sozialen Sicherung in ihren Grenzen zu erkennen.
Finanziell würde eine solche Auffassung auch nur eine vorübergehende Entlastung in der Gegenwart bringen und keineswegs die dringend notwendige Sanierung der Rentenversicherung schon mit erledigen.
Die Rentenversicherung kannte seit ihrem Bestehen die Abgrenzung durch Aufzählung der Berufsgruppen und durch eine Einkommensgrenze. Ich glaube, daß beide Merkmale nicht überholt sind, sondern daß nur zu überlegen ist, wieweit die Grenzen der Berufsgruppen, die fließend sind, noch stimmen und ob die Einkommensgrenze geändert werden muß. Diese wichtige Aufgabe hätte in der langen Vorbereitungszeit dringend angepackt werden müssen. Ich bedaure, daß man sich ihr entzieht, indem man vorhandene Tatbestände einfach verwischt und Arbeiter und Angestellte in einen Zwangsversicherungspott bringt und nun auch noch die Selbständigen hineintun möchte.
Die Fragen der Selbstversicherung und der Weiterversicherung, auf die ich heute im einzelnen nicht eingehen will, weil ich mich auf die großen grundsätzlichen Probleme beschränken möchte, müssen von uns im Zusammenhang mit dem Tatbestand des totalen oder begrenzten Versicherungszwanges neu überdacht werden. Der Bundesminister für Arbeit hat uns — Herr Kollege Horn hat schon darauf aufmerksam gemacht — gleichzeitig einen Entwurf beschert, durch den Bauern und Landwirte, die zahlenmäßig den größten Kreis des selbständigen Mittelstandes darstellen, in Zukunft in eine Zwangsversicherung einbezogen werden sollen. Es ist sicherlich eine besonders verantwortungsbewußte Entscheidung, wenn gerade unser Bauernstand, der nach meiner Auffassung vor den Wechselfällen des Lebens am meisten gesichert ist, solange er ein Dach über dem Kopf hat, und in Krisen- und Notzeiten Essen und Trinken hat, noch ein echtes Zusammengehörigkeitsgefühl in der Familie kennt, sich etwa in seinen eigenen Reihen einstimmig entscheiden sollte — und nur auf seine Entscheidung kommt es an —, seine ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Fragen schicksalhaft dem Staat zu überantworten und nicht mehr selber das Risiko zu tragen.
Dabei möchte ich nicht versäumen, klar zu sagen, daß an den Grenzen zum Arbeitertum, da, wo kleine selbständige Handwerker und kleine selbständige Bauern oder solche, die nicht einmal Selbständige sind, sondern nur Nebenerwerbswirtschaften haben, vorhanden sind, sehr wohl andere Möglichkeiten, etwa in der Form der Weiterversicherung in der Sozialversicherung ausreichen können. Jede Forderung aber — das hat der Herr Bundeswirtschaftsminister, den ich zitiere und mit dem meine politischen Freunde in der Deutschen Partei in dieser Frage voll übereinstimmen, am 17. März 1956 auf einer Tagung der Arbeitsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft gesagt —
Jede Forderung an den Staat um Hilfe und um Sicherheit, um Schutz in diesen oder jenen Bereichen gibt dem Staat nur immer eine neue Möglichkeit und eine neue moralische Berechtigung, noch einmal neue Belastungen auszustreuen, angeblich zum Schutz des Volkes, im Grunde genommen aber zu seiner Entmündigung.
In der Diskussion um die Vereinheitlichung des Rechtes hat der Herr Bundesminister in der Begründung gesagt, daß eine systematische Gleichstellung in bezug auf die Angestellten- und Invalidenversicherung vermieden werden solle und daß aus der Rechtsangleichung nicht geschlossen werden dürfe, daß im Bundesministerium für Arbeit Vereinheitlichungstendenzen vorhanden seien. Die
Bundesversicherungsanstalt, so sagte er, bleibe erhalten, und er verwies dabei auf die besonderen Aufgaben des Heilverfahrens und der Rehabilitation.
Mein Kollege Horn hat in der Begründung für die Mehrheit der CDU-Fraktion gesagt, auch dort bestünden Bedenken — und er persönlich teile diese — sowohl gegenüber der Vorlage der SPD wie auch der der Regierung, und er sei der Meinung, man könne die Paragraphen des Angestelltenversicherungsgesetzes in neuer Fassung vorlegen, die zur Zeit nur in Form von Verweisungen in das Gesetz eingebaut sind. Er fügte hinzu, auch er wolle den Umbau der Gesetzesvorlage. Leider hat er im einzelnen nicht verdeutlicht, ob es ihm nur darum geht, in einem besonderen Buch zu schreiben: Hie §§ 1 bis x, Angestelltenversicherung, und hie §§ A bis Z, Invalidenversicherung. Er hat also nicht verdeutlicht, ob es ihm um mehr geht als um das, was unser Kollege Schellenberg heute morgen dargestellt hat, nämlich an Stelle der Verweisungen in 43 von 48 Paragraphen auf die Invalidenversicherung nun auch besonderes Recht für die Angestelltenversicherung zu setzen. Daher bitte ich mir zu gestatten, zumal dies kein Redner vor mir getan hat, auf diese Probleme wegen ihrer Bedeutung gründlicher einzugehen.
Es genügt nicht, meine Herren und Damen, wie es der Herr Bundesminister für Arbeit gesagt hat, eine eigene Anstalt für die Angestelltenversicherung zu haben. Es genügt nicht, nur eine technische Trennung gleicher Bestimmungen vorzunehmen, wenn nicht auch besonderes Leistungsrecht für besondere Sicherungsbedürfnisse geschaffen wird. Es genügt also nicht die Zusammenfassung der die gleiche Materie betreffenden Paragraphen der Invalidenversicherung in einem besonderen Buch des AVG. Bei einem solchen Tatbestand müßten wir zugeben, daß kaum ein Grund und kaum eine Notwendigkeit für ein besonderes Buch „AV" vorhanden wäre. Das besondere AVG ist aber begründet, wenn wie in der Vergangenheit eine besondere Leistungsgestaltung und besondere Beitragspflichten im besonderen Recht angepaßt an die individuellen Bedürfnisse der Angestellten in der Angestelltenversicherung fortentwickelt würden! Es genügt auch nicht, den Angestellten den gleichen Steigerungsbetrag, der ihnen durch die Fehler des Sozialversicherungs-Anpassungsgesetzes vorenthalten wurde, endlich zu gewähren. So sehr wir die Beseitigung dieses Unrechts begrüßen, so glauben wir doch, daß die Unterscheidung der Berufsstände darüber hinaus eine differenziertere Gestaltung des Rechts als sozialpolitisches Anliegen erfordert. Wir sehen darin keine Klassenspaltung und keinen Anlaß zum Klassenhaß, sondern ein Bekenntnis zur gesunden Vielfalt in einem demokratischen Staatswesen. Die Anerkennung dieser Vielfalt und die Berücksichtigung individueller Sicherungsformen ist die einzige Möglichkeit zur Erhaltung einer so selbstverantwortungsbewußten Schicht wie der. deutschen Angestellten.
Ein besonderes Angestelltenversicherungsgesetz ist daher ein gesellschaftspolitisches Faktum von ungeheurer Bedeutung. Es ist erfreulich, festzustellen, daß es heute in Deutschland bei dem Schrei nach totaler Sicherung tatsächlich noch Schichten und Gruppen gibt, die Jahrzehnte hindurch in der Praxis — nicht nur mit Reden, Aufsätzen und sozialethischen Betrachtungen, sondern mit Opfern — bewiesen haben, daß sie bereit sind, für ihre Angestelltenersatzkassen höhere Beiträge zu zahlen, als sie sie z. B. in den Ortskrankenkassen zu bezahlen
brauchten, wo sie in der Regel einen niedrigeren Beitragssatz zu entrichten haben. Sie waren auch bereit, geringere Leistungen — im Vergleich zu denen der Invalidenversicherung — hinzunehmen, da sie bisher keinen Staatszuschuß als Grundbetrag erhielten. Mit den Erstattungen, die der Angestelltenversicherung gegeben wurden, waren die Angestellten in der Gesamtrechnung immer im Nachteil. Die Geschichte der Angestelltenversicherung ist geradezu eine Lehrmeisterin und beweist, daß es noch verantwortungsbewußte Schichten in der deutschen Bevölkerung gibt. Ihr Beispiel möge ansteckend wirken auf die Schichten der Selbständigen, die heute — weil sie die Konsequenzen noch nicht übersehen und den Preis der begehrten Wohltaten noch nicht kennen — nach dem Staat schreien.
Bei der Einführung der Alters- und Invalidenversicherung — ich rufe das in Ihr Gedächtnis zurück — hatten wir Arbeiter und Angestellte in einer Versicherung. Es waren die Angestellten, die sich sehr bald selber dafür ausgesprochen haben, auf Grund ihrer besonderen soziologischen Eigenheiten und der Besonderheiten ihres Berufsstandes ihre eigene Anstalt und eine andere Form der Leistungsgestaltung zu erhalten. Dabei sind die Angestellten immer bereit gewesen, dafür auch höhere Beiträge aufzubringen. Die Forderungen der Angestellten sind 1911 im Angestelltenversicherungsgesetz verwirklicht worden. Diese Regelung hat dazu geführt, daß sie z. B. keine Staatszuschüsse brauchten, daß sie eine unbedingte Witwenrente erhielten und daß sie einen anderen Begriff der Berufsunfähigkeit hatten, den sie keineswegs mißbraucht haben. Das letzte muß im Hinblick auf gewisse Folgeerscheinungen des veränderten SVAG-Begriffs der Berufsunfähigkeit, der nicht ohne Einfluß auf den Umfang der Frühinvalidität ist, mit aller Deutlichkeit gesagt werden. Die Angestelltenversicherung ist immer auf bestimmte Personenkreise beschränkt gewesen. Die Angestellten haben sich in der Vergangenheit wie in der Gegenwart dagegen gewehrt, den Personenkreis durch neue und andere Risiken auszuweiten.
Als im Jahre 1945 nach dem Zusammenbruch die gleiche Frage auftauchte, die ich neulich wieder einmal gehört habe, welches besondere Sicherungsbedürfnis die Angestellten denn gegenüber den Arbeitern noch hätten — als gäbe es nicht noch die viel wichtigere gesellschaftspolitische Frage! —, haben sich die Angestellten, obwohl sie hungerten, gegen die Besatzungsmächte und gegen alle Experimente, die man von außerhalb Europas, von außerhalb Deutschlands bei uns ausprobieren wollte, wie gegen Pläne, die in den Köpfen der eigenen Landsleute ausgedacht waren, gewehrt. Der Kollege Horn und ich sind wohl die einzigen in diesem Hause, die in jener Zeit durch die Lande gezogen sind und die Meinung der Betroffenen — in diesem Falle der Angestellten — in allen Zonen gehört haben, als man ihnen ihre eigenständigen sozialen Einrichtungen nehmen wollte. Die Angestellten haben dann wiederum — fast zehn Jahre später — bei den Wahlen zu den Selbstverwaltungsorganen mit ihrem überwältigenden Abstimmungsergebnis offenbart, daß sie für ihre eigenen Einrichtungen auch in ihrer Selbstverwaltung selber einstehen wollen,
und das heißt, nicht nur über Gesetz und Satzung wachen, sondern auch für Beiträge, Leistungen und Kapitalanlagen Verantwortung tragen wollen.
Es gibt bei den Angestellten nicht nur das besondere Bewußtsein eines Standes, der noch so fließende Grenzen haben mag, der aber in steter Aufwärtsentwicklung begriffen ist. Es gibt darüber hinaus ein klares Bewußtsein von den Eigenarten der Angestelltenberufe, die andere Voraussetzungen haben als die Eigenarten der großen Zahl der Arbeiterberufe. Dabei ist nach meiner Auffassung an der oberen Grenze für die qualifizierten Arbeiterschichten längst die Zeit gekommen, daß Facharbeiter Angestellte werden sollten.
Die längere und gründliche schulische Ausbildung, die bessere Allgemeinbildung, die schon vor der Berufsausbildung bei den Angestellten in der Regel gefordert wird — Sie brauchen nur in die Zeitungen zu schauen, um das festzustellen —, und die abgeschlossene Berufsausbildung haben dazu geführt, daß die Aufstiegschancen und schließlich die Einkommensmöglichkeiten bei den Angestellten andere sind als bei den Arbeitern. Während die Arbeiter schon in jungen Jahren, oft schon mit dem 20. Lebensjahr den Höchstlohn erhalten können, ist das tarifliche Höchstgehalt von Angestellten in der Regel nach dem 30. Lebensjahr, für die meisten nach dem 40. oder gar mit dem 46. Lebensjahr zu erreichen.
— Nein, nicht immer, aber es kann oft so sein, es braucht nicht so zu sein.