Rede von
Dr.
Ferdinand
Friedensburg
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach den ausführlichen und unserer Ansicht nach in der Hauptsache zutreffenden Begründungen zu den Großen Anfragen kann ich mich auf einige allgemeine Bemerkungen beschränken. Wir haben mit Genugtuung gehört, Herr Minister, daß die Bundesregierung für das hier bestehende sehr ernste und wichtige Problem Verständnis hat und sich im Rahmen ihrer leider recht beschränkten Zuständigkeit bemüht, den ihr gestellten Aufgaben gerecht zu werden. Wir haben auch gern Kenntnis genommen von den einen oder anderen Berichtigungen der von den Vorrednern genannten Zahlen. Selbstverständlich wäre es sinnlos, sich einer Panikstimmung hinzugeben. Ich darf vielleicht aus meiner Kenntnis auch noch hinzufügen, daß es nicht ganz unbedenklich ist, statistische Zahlen aus dem einen Land ohne weiteres mit statistischen Zahlen aus anderen Ländern zu vergleichen. An einem mir naheliegenden Beispiel möchte ich zeigen, daß etwa die Absolventen unserer Bergschule in Bochum, die nicht zu den hohen Schulen rechnet, was die allgemeine und fachliche Bildung anlangt, durchaus mit den Absolventen vieler ausländischer Hochschulen, namentlich amerikanischer und sowjetischer Hochschulen, verglichen werden könnten, ohne daß sie statistisch in einen Vergleich gezogen werden können.
Aber ich bin weit davon entfernt, den Ernst des hier aufgeworfenen Problems zu unterschätzen, und ich freue mich, daß wir durch diese Debatte die öffentliche Meinung und die Bundesregierung in ihrem Bemühen, für die leider vorhandenen Mißstände Abhilfe zu schaffen, ganz anders unterstützen, als das bisher geschehen ist. Alles, was wir gehört haben, und all die sehr erfreulichen Ziffern, die uns der Herr Minister angeführt hat, täuschen uns nicht darüber hinweg, daß zwischen dem Aufwand unseres Volkes für zahllose andere Dinge, auch für Genußmittel, auch für Unterhaltung billiger Art, und den Aufwendungen für Bildung und Unterricht ein schmerzliches Mißverhältnis besteht, ein Mißverhältnis, das angesichts der Tradition unseres Volkes, angesichts der Bedeutung, die unser Volk in der allgemein menschlichen Kultur einnimmt, und angesichts der Bedeutung, die Bildung und Unterricht für das Fortbestehen unserer Stellung in der Welt haben werden, fast beschämend ist.
Ich habe mir die Zahlen für 1954 — sie sind ja wohl hin und wieder schon bekanntgeworden; aber es kann nicht schaden, sie auch einmal von dieser Tribüne aus zu nennen — noch einmal herausgesucht. Wir haben in der Bundesrepublik im Jahre 1954 ein Sozialprodukt von 145 Milliarden DM gehabt und davon 12,7 Milliarden DM allein für Genußmittel ausgegeben, während die Ausgaben des Bundes und der Länder für Bildung und Unterricht, Herr Minister, ganze 600 Millionen DM betragen haben. Da ist ein Mißverhältnis, das wir auf die Dauer nicht ruhig hinnehmen sollten!
Natürlich können wir sagen: das Wirtschaftswunder ist zustande gekommen auf Grund der alten guten traditionellen Zusammenarbeit von Wissenschaft, Technik und Kaufmannstum in unserem Volke. Aber es wäre gefährlich, sich durch diese beispiellose Leistung der letzten Jahre darüber hinwegzutäuschen, daß die eigentliche Prüfung noch bevorsteht. In einer weiteren allgemeinen weltwirtschaftlichen Expansion ist es für ein Volk, das arbeiten kann und arbeiten will, nicht so schwer, sich zu behaupten, ja sich sogar einen hervorragenden Platz zu erobern. Aber wenn der eigentliche Wettbewerb kommen wird — und er wird eines Tages kommen —, dann wird sich zeigen, wo die besseren Fundamente geistiger, bildungsmäßiger, technischer Natur geschaffen worden sind, und da werden wahrscheinlich all die Umstände, die hier sehr zutreffend angeführt worden sind, ins Spiel geführt werden müssen.
Wir sind auch hinsichtlich des Wirtschaftswunders heute in der Sorge, ob wir nicht gewissermaßen die Kapazitätsgrenze erreichen. In diesem Zustand geziemt es uns, uns zu überlegen, ob wir von den hier gegebenen gewaltigen materiellen Möglichkeiten den ausreichenden Gebrauch machen, um diese Leistung auch für eine fernere Zukunft zu sichern. Ich glaube, wir sind uns völlig klar darüber, daß das nicht geschehen ist und daß es großer Anstrengungen von uns allen, nicht nur unserer Bundesregierung, sondern von uns allen, von allen Teilen des deutschen Volkes bedürfen wird, um das nachzuholen.
Wir haben schmerzliche Lücken festzustellen, die durch die Kriegszeit entstanden sind. Es ist heute schon einmal angeklungen, was der Krieg und die nationalsozialistische Episode für uns bedeuten. Meine Damen und Herren, sind wir uns klar, daß in der Zeit der Weimarer Republik die deutsche Wissenschaft bei der Verteilung etwa der Nobelpreise weitaus an erster Stelle gestanden hat!
— Während der Weimarer Republik, sagte ich.
Wir müssen uns darüber klar sein, daß wir durch die Vertreibung und die Austilgung eines großen Teils der Menschen, denen wir diese beispielhafte Leistung und Auszeichnung verdanken, auf absehbare Zeit den Anspruch verloren haben, diesen Rang wieder einzunehmen. Das sind Schäden, die auch gar nicht ohne weiteres wiedergutgemacht werden können. Dazu kommt die ganze Abschneidung von der Welt, die wir damals planmäßig betrieben haben. Dazu kommt der Verlust von unzähligen hervorragenden Leuten, gerade geistig hervorragenden Leuten, durch die Kriegsereig-
nisse. Wenn ich mir überlege, was aus meinem Freundeskreis übriggeblieben ist, was der Henker, die Emigration, die Selbstmorde und alles das, was sich in den letzten Jahren ereignet hat, mir von meinem Freundeskreis übriggelassen haben, so ist es, muß ich sagen, geradezu erschütternd, zu sehen, wie die Generation, die eigentlich die heutige Zeit tragen sollte, durch diese Zeit dezimiert worden ist. Es bedarf ungeheurer Anstrengungen von uns allen, um diese Lücken wieder auszufüllen.
Mir liegt heute noch ganz besonders an einer Frage. Das ist die Frage der internationalen Beziehungen. Sie ist schon wiederholt angeschnitten worden, aber sie bedarf einer besonderen Vertiefung.
Wir sind uns heute klar, daß ein Fortbestehen unserer Zivilisation einen engen Zusammenschluß der Völker namentlich unseres Erdteils erfordert, wobei ich ja, wie Sie wissen, die Grenze durchaus nicht etwa an der Elbe zu ziehen wünsche, sondern wünsche, daß wir uns dabei auf die alte europäische Gemeinschaft in viel weiterem Sinne besinnen. Aber wer in der praktischen Arbeit auf diesem Gebiet steht wie ich, der sieht immer wieder, welche Schwierigkeiten allein die Sprache bedeutet und wie jammervoll die Schulbildung heute in diesem Punkte nicht nur hinter dem zurückbleibt, was wir früher geleistet haben, sondern auch dem, was wir heute brauchen, um die internationale Gemeinschaft überhaupt pflegen zu können. Ich leite ein verhältnismäßig großes Institut mit 30 jungen Akademikern. Ja, meine jungen Leute sind alle nicht mehr imstande, französische Fachliteratur zu lesen! Denken Sie einmal daran, was das praktisch bedeutet, wenn wir uns schon im akademischen Kreise nicht mehr verstehen können.
Ich freue mich sehr über die vielen Reisen, die heute unsere Jugend — zum großen Teil mit Unterstützung öffentlicher und privater Stellen —unternehmen kann. Aber manchmal habe ich das Gefühl, daß das ein bißchen sehr planlos erfolgt und daß gerade dort, wo es besonders notwendig wäre, nämlich im Interesse der wirklichen wissenschaftlichen Weiterbildung, längst nicht genug geleistet werden kann und daß wir längst nicht genug Möglichkeiten haben, Freunde von außerhalb zu uns zu bekommen.
Ich habe mich sehr gefreut, die Zahlen über das Studium der Ausländer zu hören. Es mag sein, daß es besser ist als vor dem Kriege. Ich habe diese Zahlen nicht ganz ohne Überraschung gehört, aber jedenfalls mit großer Befriedigung und Genugtuung. Aber, Herr Minister, hinter dem tatsächlichen Bedürfnis auf diesem Gebiete bleiben diese Zahlen weit. weit zurück. Es sind doch eben heute in vielen Ländern Ausbildungsbedürfnisse entstanden, von denen wir noch vor 20 oder 30 Jahren keine Vorstellung gehabt haben. Heute wollen die jungen Leute aus Indonesien, aus Iran, aus Indien usw. nach Europa kommen. und Deutschland hat Chancen, wie es sie sich früher gar nicht hat träumen lassen können. Da wäre es ein Jammer, wenn wir infolge Sparsamkeit am falschen Flecke diese ganz unabsehbaren Möglichkeiten nicht vernünftig ausnutzen könnten.
— Ja, schön, es werden aber leider, verehrte Frau Kollegin, dem Herrn Minister nicht genug Mittel an die Hand gegeben.
Wer wie ich viel im Ausland reist, der weiß, welche gewaltigen Möglichkeiten heute dort dem jungen deutschen Wissenschaftler und dem jungen deutschen Ingenieur offenstehen. Aber auch da sehe ich bei meinen eigenen Mitarbeitern, wie schwer sie sich entschließen können, ins Ausland zu gehen, weil die Frage der Rückkehr — und zwar ganz zwangsläufig — nicht mit Sicherheit geregelt werden kann. Auch da wird es nicht bloß gelegentlicher Aushilfen, sondern es wird einer systematischen und gründlichen Hilfe bedürfen, um hier im Interesse der deutschen Stellung im Ausland — aber ich will das gar nicht unter dem Gesichtspunkt des nationalen Egoismus alleine sehen —, auch aus einer vernünftigen brüderlichen Gesinnung zwischen den Völkern heraus einen ganz anderen Austausch von Bildung und Wissen zu ermöglichen.
Nicht mit Freude hören wir — sicherlich nicht zum ersten Male —, welche Schwierigkeiten die Zuständigkeitsregelung mit sich bringt. Lassen Sie mich sagen — gerade auch als jemand, der der Christlich-Demokratischen/Christlich-Sozialen Union angehört —, daß wir diesen Zustand nun nicht als gottgegeben für alle Zeiten hinnehmen wollen und hinnehmen können.
Wenn wir erkennen, daß unsere großen vaterländischen Aufgaben bei der bisherigen Struktur unseres Staatswesens nicht gelöst werden können, wären wir doch Toren und Narren, wenn wir dann nicht Konsequenzen ziehen wollten.
Wir waren uns doch klar, daß manches an dieser überspitzten föderalistischen Struktur, wie sie uns das Grundgesetz beschert hat, nicht aus einer vernünftigen, ruhigen, nüchternen Erwägung und aus dem Abwägen der auf allen Seiten bestehenden Kräfte entstanden ist, sondern aus einer kriegsbedingten Psychologie und nicht zuletzt unter dem Einfluß bestimmter damaliger Feinde und Siegermächte, die Deutschland möglichst klein und geteilt halten wollten wie im 17. und 18. Jahrhundert.
— Gerade Ihre Fraktion hat neulich einem meiner Freunde entgegengehalten: Im Himmel ist mehr Freude über einen Sünder, der Buße tut, denn über 99 Gerechte, die der Buße nicht bedürfen. Ich bin also gern bereit, hier vor versammelter Mannschaft diese Buße anzutreten. Ich möchte mich jedenfalls nicht mit der jetzigen Regelung einverstanden erklären, und ich bin gewiß, keiner meiner politischen Freunde in diesem Hause ist bereit, sich mit dem zu identifizieren, was in den Jahren 1948/1949 unter gänzlich anderen äußeren und inneren Umständen geschaffen worden ist. Und, verehrter Herr Kollege Schmid, ich habe umgekehrt ebenfalls Kummer mit Ihren politischen Freunden gehabt. Ich glaube, es hat niemand das föderalistische Prinzip so überspitzt wie der damalige bayerische Ministerpräsident, Herr Dr. Hoegner, der ja heute wieder bayerischer Ministerpräsident ist. Ich erinnere mich noch, wie uns in der alten Reichshauptstadt vor neun Jahren seine Auffassungen von der deutschen Struktur geschmerzt haben.
— Mit der Umkehr! Aber jeder soll vor seiner Tür kehren; ich glaube, Herr Kollege Schmid, da sind wir uns einig!
Jedenfalls möchte ich hier von mir aus sagen — es ist bisher keine Abstimmung darüber zwischen meinen politischen Freunden erfolgt —: wenn sich für die Erfüllung dieser großen, wichtigen Aufgaben der Gegensatz zwischen den Ländern und dem Bund als ernste Schwierigkeit erweist, dann werden wir uns allmählich überlegen müssen, ob da nicht etwas geändert werden muß. Ich höre, daß im Haushaltsausschuß die Gewährung eines Zuschusses für die wissenschaftlichen Assistenten, also für eine ganz besonders dringende praktische Aufgabe auf dem Gebiet unseres Bildungswesens, daran gescheitert ist, daß zwischen Ländern und Bund keine Einigung erfolgt ist. Es wäre doch ein Jammer, wenn die Assistenten auf der Strecke bleiben, weil sich die hohen Instanzen nicht über ihre Zuständigkeiten haben einigen können.
Jedenfalls sind wir uns einig, daß das hier behandelte Problem unser aller Aufmerksamkeit und des Einsatzes von uns allen bedarf und daß wir hierbei auch nötigenfalls vor rückhaltlosen und umfassenden Maßnahmen nicht zurückschrecken sollten, wenn wir diese Aufgabe miteinander lösen wollen.