Rede von
Wilhelm
Banse
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir einige wenige Bemerkungen zu zwei Problemkreisen, die sehr häufig Gegenstand von Beratungen des Petitionsausschusses sind. Frau Kollegin Albertz hat als Berichterstatterin bereits auf die oft tragischen Folgen bei Anträgen nach dem Bundesversorgungsgesetz hingewiesen, die häufig der Ablehnung verfallen mit der Begründung, daß das Leiden anlage- oder schicksalsbedingt sei. Fast in jeder Sitzung müssen sich die Mitglieder des Petitionsausschusses mit derartigen Eingaben beschäftigen, die auf mit solcher Begründung abgelehnte Rentenanträge Bezug nehmen. Sehr häufig macht sich bei allen Kolleginnen und Kollegen des Ausschusses ein Unvermögen breit, den ärztlichen Begründungen zu folgen, die oft menschliche Schicksale nach Aktenlage entscheiden, und zwar nach Akten, die häufig zehn Jahre alt oder älter sind.
Die ärztliche Abteilung beim Bundesarbeitsministerium hat zwar die Anhaltspunkte für die Gutachtertätigkeit auf insgesamt 182 Seiten säuberlich katalogisiert. Wir haben auch sehr häufig — und das sei hier dankbar anerkannt — sehr echte Bereitschaft bei den Herren der ärztlichen Abteilung des Arbeitsministeriums feststellen können, in den Fällen zu helfen, wo das Bundesversorgungsgesetz eine Handhabe dazu bot. Aber es sind allzuviel Fälle, in welchen die Ablehnung eines Rentenantrags mit der Begründung, das Leiden sei keine Folge des geleisteten Kriegsdienstes, sondern anlage- und schicksalsbedingt, für die Mitglieder des Ausschusses einfach nicht faßbar ist. Wir müssen
natürlich gestehen, daß wir als Laien diesen ärztlichen Urteilen nichts entgegenzusetzen haben als die Überzeugung, daß auch Mediziner Menschen und damit Irrtümern unterworfen sind. Weiterhin darf man doch wohl feststellen, daß ärztlich-wissenschaftliche Lehrmeinungen ebenfalls Änderungen unterworfen sind; denn in allen wissenschaftlichen Disziplinen kommt es ständig zu neuen Entwicklungen und Erkenntnissen.
Im Ausschuß wurde z. B. mehrmals ein Fall behandelt, in welchem einer Witwe eine Rente nach dem BVG versagt wurde, weil der Mann als Soldat Selbstmord verübte. Die Begründung in all solchen Fällen war, daß es sich wahrscheinlich um einen „Bilanzselbstmord" gehandelt habe. Nun, wer will nach oft unvollständigen Akten beurteilen können, ob ein nach Granatsplitterverletzung oberschenkelamputierter Soldat im Lazarett nicht im Affekt seinem Leben ein Ende bereitete, weil er sich in seinen Lebenserwartungen betrogen sah? Ein solcher Fall hat den Ausschuß beschäftigt.
Die Meinung der Mitglieder aller Fraktionen im Ausschuß war bisher, daß allzuoft von der Möglichkeit Gebrauch gemacht wird, die Rentenanträge abzulehnen, weil das Leiden anlage- oder schicksalsbedingt sei. Diesem oft fiskalischen Denken kann in den Fällen einfach nicht beigetreten werden, wo die auslösende Ursache der Kriegsdienst mit seinen erschwerenden Lebensumständen war. Frau Kollegin Albertz hat solche Fälle bereits angeführt. Wenn die darin vorgetragene medizinische Auffassung richtig ist, dann muß man doch die Feststellung treffen, daß der Staat eine Unterlassungssünde beging; denn meiner Auffassung nach hätte der Staat dann die Pflicht, Untersuchungen bei allen zum Wehrdienst einzuziehenden Menschen sehr gründlich vorzunehmen und zu prüfen, ob der Mann Anlagen mitbringt, deren Wirkungen durch den Wehrdienst zur Auslösung gebracht werden können.
Solange das nicht der Fall ist, muß der Staat, der die Dienste des einzelnen in Anspruch nimmt, kraft Gesetzes auch für die daraus entstehenden Folgen aufkommen. Der Staat hat dann das Risiko zu tragen und seine Versorgungspflicht zu erfüllen, wenn bestimmte Menschen mit derartigen, in ihnen ruhenden Anlagen einer bestimmten außergewöhnlichen Situation, die mit Wehrdienst immer verbunden sein kann, nicht gewachsen sind. Es wäre, solange der jetzige Zustand beibehalten wird, wirklich ratsam, die in § 1 des Bundesversorgungsgesetzes gegebenen Möglichkeiten recht weitherzig auszulegen, auch in den Fällen, in denen die ärztliche Gutachtertätigkeit herangezogen werden muß.
Ich darf mir noch kurz erlauben, die Aufmerksamkeit des Hauses auf eine auf die Dauer untragbare Härte des § 1286 der Reichsversicherungsordnung zu lenken, die in vielen Fällen ebenfalls der Anlaß zu Petitionen ist. Das Versicherungsgesetz für Angestellte in der Fassung vom Jahre 1912 sah in § 32 folgende Regelung vor:
Die Hinterbliebenenrenten beginnen unbeschadet des § 23 mit dem Todestage des Ernährers.
Der angezogene § 23 hatte folgenden Wortlaut:
Länger als auf 1 Jahr rückwärts, vom Eingang des Antrags an gerechnet, werden Ruhegeld und Rente nicht gezahlt.
Der § 1286 der Reichsversicherungsordnung sieht demgegenüber vor, daß die Rente mit dem Ablauf des Kalendermonats beginnt, in dem ihre Voraussetzungen erfüllt sind; wird sie jedoch nach dem Ende des folgenden Kalendermonats beantragt, so beginnt sie erst mit dem Ablauf des Antragsmonats.
Ich darf dazu folgenden konkreten Fall anführen, der in seiner Grundtendenz für sehr, sehr viele derartige Fälle spricht. Eine 74jährige sehr gebrechliche Witwe eines Invalidenrentners hatte nach dem Tode des Mannes, mit dem sie über 50 Jahre durch Heirat in einer engen Lebensgemeinschaft verbunden war, versäumt, sofort nach dem Tode ihres Ehemannes den Antrag auf Hinterbliebenenrente zu stellen. Erst nach dem Ablauf von vier Monaten wurde sie auf ihre Frage, wo denn nun ihr Geld bliebe, von dritter Seite darauf aufmerksam gemacht, daß sie einen Antrag auf Witwenrente aus der Invalidenversicherung zu stellen habe.
Der Standpunkt der zuständigen Landesversicherungsanstalt, die sich weigert, der alten Frau die Rente für die vier Monate zu zahlen, die zwischen dem Tode und der Antragstellung liegen, ist rechtlich absolut einwandfrei. Ich wage aber zu bezweifeln, ob dieser Standpunkt es auch moralisch und ob er es politisch ist, insbesondere wenn man bedenkt, daß das alte Angestelltengesetz von 1912 hier viel klüger und viel menschlicher gefaßt war. Es ist doch verständlich, daß eine alte Frau, die nach jahrzehntelanger Ehegemeinschaft ihren Mann verliert, zunächst einmal völlig hilflos wird und in ihrer seelischen Not an alles andere zuerst denkt als an versorgungs- und versicherungsrechtliche Erfordernisse.
Durch die starre Auslegung des Gesetzes werden diejenigen, die beim Todesfall des Ernährers seelisch zusammenbrechen, am härtesten betroffen. Es ist nicht jedermanns Sache, sich bei einem Todesfall in der Familie nun sofort eiskalt um die geldlichen und die finanziellen Dinge zu kümmern. Gerade die Menschen, die der Hilfe am meisten bedürfen, weil sie noch Gefühl und Seele haben, werden hier nun einmal vom Gesetz am schwersten benachteiligt.
Witwen von Beamtenpensionären können in solche Kalamitäten nicht geraten, weil in solchen Fällen die Pflicht der Antragstellung entfällt.
Ich hoffe, daß spätestens bei der Sozialreform diese unsoziale Härte in der Reichsversicherungsordnung in Wegfall kommt, damit Petitionen, die aus solchem Anlaß an den Bundestag gelangen, der Vergangenheit angehören.